Entscheidungsstichwort (Thema)
Feststellungziele. Beweiserhebungen. Musterverfahren. Nötige Individualisierung. Güteantrag in Anlageberatungsfällen. Fehlerhafte Kapitalanlageberatung. Beratung unter Verwendung eines unrichtigen, unvollständigen und irreführenden Emissionsprospekts. Verjährung
Leitsatz (amtlich)
a) An der Voraussetzung, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt (§ 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG), fehlt es jedenfalls dann, wenn die Sache ohne weitere Beweiserhebungen und ohne Rückgriff auf die Feststellungsziele eines Musterverfahrens entscheidungsreif ist (Anschluss an BGH, Beschl. v. 2.12.2014 - XI ZB 17/13).
b) Zu den Anforderungen an die nötige Individualisierung des geltend gemachten prozessualen Anspruchs in einem Güteantrag in Anlageberatungsfällen (Bestätigung und Fortführung von BGH, Urt. v. 18.6.2015 - III ZR 198/14).
Normenkette
KapMuG § 8 Abs. 1 S. 1; BGB § 204 Abs. 1 Nr. 4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 21. Zivilsenats des OLG München vom 10.6.2015 - 21 U 3849/14 - aufgehoben.
Streitwert für die Rechtsbeschwerde: bis 10.000 EUR.
Gründe
Rz. 1
Der Kläger nimmt die Beklagte unter dem Vorwurf einer fehlerhaften Kapitalanlageberatung auf Schadensersatz in Anspruch.
Rz. 2
Am 21.6.1999 beteiligte sich der Kläger auf Empfehlung der Beklagten als mittelbarer Kommanditist an der D. Beteiligung KG mit einer Einlage von 110.000 DM zzgl. 5 % Agio.
Rz. 3
Mit Datum vom 29.12.2011 reichte der Kläger über seine vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten bei der Gütestelle des Rechtsanwalts C. D. in L. einen "Antrag auf außergerichtliche Streitschlichtung" (Anlage K 1a) ein. Die Gütestelle unterrichtete die Beklagte hiervon. Nachdem diese zum Gütetermin nicht erschienen war, stellte die Gütestelle am 18.12.2012 das Scheitern des Verfahrens fest. Im Juni 2013 hat der Kläger bei dem LG Klage eingereicht, gerichtet auf Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche finanziellen Schäden zu ersetzen, die im Abschluss der Beteiligung ihre Ursachen haben.
Rz. 4
Nach dem Vorbringen des Klägers ergibt sich die Schadensersatzpflicht der Beklagten zum einen aus der Beratung unter Verwendung eines unrichtigen, unvollständigen und irreführenden Emissionsprospekts und zum anderen daraus, dass die Berater der Beklagten hinsichtlich der streitgegenständlichen Beteiligung gezielt fehlerhaft geschult worden seien.
Rz. 5
Mit Schriftsatz vom 28.2.2014 hat der Kläger einen Musterverfahrensantrag mit mehreren Feststellungszielen gestellt, die den Emissionsprospekt und die behaupteten Schulungsinhalte betroffen haben. Diesen Antrag hat das LG unter Hinweis auf die fehlende Entscheidungserheblichkeit der Feststellungsziele durch Beschluss vom 29.8.2014 als unzulässig verworfen. Mit Urteil vom gleichen Tage hat es die Klage als unzulässig abgewiesen und sie zugleich auch als unbegründet angesehen.
Rz. 6
In seiner Berufungsbegründung hat der Kläger seinen Klageanspruch hilfsweise - hinsichtlich der bisher eingetretenen Schäden - beziffert.
Rz. 7
Das Berufungsgericht hat den Rechtsstreit mit Rücksicht auf den Vorlagebeschluss des LG Berlin vom 4.2.2015 - 2 OH 28/14 KapMuG - gem. § 8 des Gesetzes über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz vom 19.10.2012, BGBl. I, 2182 - KapMuG) ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Beklagten.
II.
Rz. 8
Die statthafte Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses des Berufungsgerichts. Dem Verfahren ist Fortgang zu geben.
Rz. 9
1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Die Aussetzung des Rechtsstreits sei nach § 8 KapMuG begründet. Ein einschlägiger im Klageregister bekannt gemachter Vorlagebeschluss liege vor. Die Entscheidung des Rechtsstreits hänge von den Feststellungszielen (hier: den Prospektfehlervorwürfen) ab. Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand greife die Verjährungseinrede der Beklagten nicht durch. Insoweit fehle es an der Entscheidungsreife. Über die Frage der rechtzeitigen Einreichung des Güteantrags (vor dem 3.1.2012) und das Vorliegen einer diesbezüglichen Vollmacht des Klägers an seine Rechtsanwälte müsse ggf. noch Beweis erhoben werden. Der Güteantrag sei ausreichend bestimmt, da er den Kläger, den Anlagefonds, die Beteiligungsnummer, die Höhe der geleisteten Einlage und die gerügten Prospektfehler benenne. Es liege auch kein Missbrauch des Güteverfahrens bzw. der in § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB eröffneten Möglichkeit zur Hemmung der Verjährung vor. Soweit die Klage auf § 826 BGB gestützt werde, seien die Ausführungen zum Vorsatz und zur subjektiven Seite der Sittenwidrigkeit unsubstantiiert, so dass die Klage nicht bereits unabhängig von den Feststellungszielen begründet sei.
Rz. 10
2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand.
Rz. 11
a) Allerdings wendet die Rechtsbeschwerde zu Unrecht ein, dass das Musterverfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz für positive Feststellungsklagen keine Anwendung finde. Wie der Senat mit Beschluss vom 5.11.2015 (III ZB 69/14, WM 2015, 2308, 2309 ff. Rz. 9 ff. m.w.N., zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen) inzwischen entschieden hat, sind auch solche Zivilprozesse, in denen positive Feststellungsanträge geltend gemacht werden, uneingeschränkt musterverfahrensfähig.
Rz. 12
b) Soweit die Rechtsbeschwerde einwendet, das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz sei mangels Bezugnahme auf eine öffentliche Kapitalmarktinformation nicht anwendbar, weil der Kläger, gestützt auf § 826 BGB, einen Anspruch auch daraus herleiten möchte, dass die Berater der Beklagten hinsichtlich der streitgegenständlichen Beteiligung gezielt fehlerhaft geschult worden seien, ist darauf hinzuweisen, dass das Berufungsgericht einen solchen Anspruch für nicht hinreichend dargelegt erachtet hat und sich das Musterverfahren allein auf den Prospektinhalt bezieht. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde führt der Umstand, dass der Kläger seinen Anspruch auch auf einen Sachverhalt stützt, dem keine in einem Musterverfahren festzustellenden Tatsachen oder Rechtsfragen zugrunde liegen, im Übrigen nicht dazu, dass der Klageanspruch insgesamt aus dem Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz fällt (vgl. Senatsbeschluss vom 5.11.2015, a.a.O., S. 2311 Rz. 24 m.w.N.).
Rz. 13
c) Zu Recht jedoch rügt die Rechtsbeschwerde, dass es - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - an der Entscheidungserheblichkeit der Feststellungsziele fehlt, weil der Rechtsstreit wegen Verjährung etwaiger Schadensersatzansprüche des Klägers unabhängig vom Ausgang des Musterverfahrens im Sinne einer sachlichen Abweisung der Klage entscheidungsreif ist.
Rz. 14
aa) Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ist für eine Aussetzung erforderlich, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn die Sache ohne weitere Beweiserhebungen und ohne Rückgriff auf die Feststellungsziele eines Musterverfahrens entscheidungsreif ist (BGH, Beschl. v. 2.12.2014 - XI ZB 17/13, NJW-RR 2015, 299, 300 Rz. 13 f.; KK-KapMuG/Kruis, 2. Aufl., § 8 Rz. 29, 32 m.w.N.; vgl. auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes, BT-Drucks. 17/8799, 20, wonach es genügt, "wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit abhängen kann"). Grund dafür ist, dass durch das Musterverfahren in solchen Fällen keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten sind, die für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich werden können, und es den Prozessparteien deswegen auch nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines Musterverfahrens abzuwarten (vgl. BGH, a.a.O., Rz. 14; KK-KapMuG/Kruis, a.a.O., Rz. 32).
Rz. 15
bb) Der vorliegende Rechtsstreit ist ohne weitere Beweiserhebungen und ohne Rückgriff auf die Feststellungsziele eines Musterverfahrens entscheidungsreif, weil etwaige Schadensersatzansprüche des Klägers wegen Ablaufs der kenntnisunabhängigen Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB insgesamt verjährt sind (§ 214 Abs. 1 BGB). Der Güteantrag des Klägers entspricht nicht den Anforderungen an die nötige Individualisierung des geltend gemachten prozessualen Anspruchs und vermochte deshalb keine Hemmung der Verjährung nach § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB herbeizuführen. Mangels wirksamer vorheriger Hemmung ist die kenntnisunabhängige zehnjährige Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB, die gem. Art. 229 § 6 Abs. 4 Satz 1 EGBGB am 1.1.2002 begonnen hat, am Ende des 2.1.2012 (Montag) und somit vor Einreichung der Klage im Juni 2013 abgelaufen.
Rz. 16
(1) Der Güteantrag hat in Anlageberatungsfällen regelmäßig die konkrete Kapitalanlage zu bezeichnen, die Zeichnungssumme sowie den (ungefähren) Beratungszeitraum anzugeben und den Hergang der Beratung mindestens im Groben zu umreißen. Ferner ist das angestrebte Verfahrensziel zumindest soweit zu umschreiben, dass dem Gegner und der Gütestelle ein Rückschluss auf Art und Umfang der verfolgten Forderung möglich ist; eine genaue Bezifferung der Forderung muss der Güteantrag seiner Funktion gemäß demgegenüber grundsätzlich nicht enthalten (z.B. BGH, Urt. v. 18.6.2015 - III ZR 198/14, NJW 2015, 2407, 2409 Rz. 25 m.w.N., zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen; v. 20.8.2015 - III ZR 373/14, NJW 2015, 3297, 3298 Rz. 18; v. 3.9.2015 - III ZR 347/14, BeckRS 2015, 16019 Rz. 17; v. 15.10.2015 - III ZR 170/14, WM 2015, 2181, 2182 Rz. 17; jew. m.w.N.). Auch bedarf es für die Individualisierung nicht der Angabe von Einzelheiten, wie sie für die Substantiierung des anspruchsbegründenden Vorbringens erforderlich sind (Senat, Urt. v. 15.10.2015, a.a.O., a.E.).
Rz. 17
(2) Den vorgenannten Erfordernissen genügt der Güteantrag des Klägers vom 29.12.2011 entgegen der Auffassung der Beschwerdeerwiderung nicht. Er nennt zwar den Namen und die Anschrift des Klägers (als "antragstellende Partei"), die Fondsgesellschaft, die Vertragsnummer und die Summe der Einlagen ("56.242,11 EUR zzgl. 5 % Agio") sowie eine Reihe der geltend gemachten Beratungsmängel. Der Name des Beraters und der Zeitraum der Beratung und Zeichnung werden demgegenüber nicht erwähnt. Vor allem aber bleibt - und diesen Punkt sieht der erkennende Senat hier als maßgeblich an - das angestrebte Verfahrensziel (Art und Umfang der Forderung) im Dunkeln. Im Güteantrag ist davon die Rede, dass die antragstellende Partei so zu stellen sei, als ob keine Beteiligung zustande gekommen wäre. Der geforderte Schadensersatz umfasse "sämtliche aufgebrachten Kapitalbeträge sowie entgangenen Gewinn und ggf. vorhandene sonstige Schäden (z.B. aus Darlehensfinanzierung oder Steuerrückzahlungen)" sowie Rechtsanwaltskosten und "künftig noch aus der Beteiligung entstehende Schäden" (Anlage K 1a, S. 7). Dabei bleibt ausdrücklich offen ("ggf."), ob das eingebrachte Beteiligungskapital im vorliegenden Fall fremdfinanziert war, so dass ein etwaiger Schaden auch oder gar zu einem großen Teil in den aufgebrachten Zins- und Tilgungsleistungen bestanden hätte (vgl. Senatsurteile vom 20.8.2015, a.a.O., S. 3299 Rz. 22 und vom 3.9.2015, a.a.O., Rz. 18). Auch die (hier nicht unerheblichen) weiteren Schäden (entgangener Gewinn und sonstige Schäden) sind nicht abschätzbar. Die Größenordnung des geltend gemachten Anspruchs ist für die Beklagte (als Antragsgegnerin und Schuldnerin) und für die Gütestelle hiernach aus dem Güteantrag nicht zu erkennen und auch nicht wenigstens im Groben einzuschätzen gewesen.
Rz. 18
d) Entgegen der Meinung der Beschwerdeerwiderung ergeben sich aus europarechtlichen Normen keine Vorgaben für die Anforderungen an die Individualisierung des in einem Güteantrag geltend gemachten (prozessualen) Anspruchs. Die Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (ABl. EG Nr. L 171/12) betrifft den Verbrauchsgüterkauf (Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie) und somit nicht die Kapitalanlageberatung und enthält darüber hinaus auch keine Bestimmungen zum Inhalt eines Güteantrags. Den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (ABl. EU Nr. L 165/63) genügt § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB, wobei es offen bleiben kann, ob diese Richtlinie auf Gütestellen i.S.d. § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB überhaupt Anwendung findet. Vorgaben für den erforderlichen Inhalt eines Güteantrags ergeben sich aus Art. 12 Abs. 1 der genannten Richtlinie ohnehin nicht. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 AEUV ist entbehrlich. Die Erwägungen des Senats zum Europarecht ergeben sich ohne Weiteres aus dem Wortlaut der zitierten Richtlinien, so dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum mehr bleibt (acte clair, vgl. z.B. BGH vom 6.11.2008 - III ZR 279/07, BGHZ 178, 243, 257 f Rz. 31; v. 17.4.2014 - III ZR 87/13, BGHZ 201, 11, 22 Rz. 29; BGH, Beschl. v. 26.11.2007 - NotZ 23/07, BGHZ 174, 273, 287 Rz. 34).
Rz. 19
3. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Die Beklagte wendet sich gegen die Aussetzung des Rechtsstreits nach § 8 KapMuG. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens bilden einen Teil der Kosten des Ausgangsrechtsstreits, welche die in der Sache unterliegende Partei unabhängig vom Ausgang des Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahrens nach §§ 91 ff. ZPO zu tragen hat (BGH, Beschl. v. 5.11.2015 - III ZB 69/14, BeckRS 2015, 19551 Rz. 25 m.w.N. [insoweit in WM 2015, 2308 nicht mit abgedruckt]). Den Streitwert des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat der Senat mit einem Fünftel des Werts des Rechtsstreits (49.944,97 EUR) bemessen (§ 3 ZPO).
Fundstellen
Haufe-Index 9116389 |
DB 2016, 7 |
EWiR 2016, 515 |
NZG 2016, 355 |
WM 2016, 403 |
WuB 2016, 444 |
ZIP 2016, 15 |
ZIP 2016, 436 |
AG 2016, 242 |
JZ 2016, 174 |
JZ 2016, 247 |
MDR 2016, 765 |