Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozessfähigkeit. Beweisbeschluss. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Anfechtbarkeit
Leitsatz (amtlich)
Ein Beweisbeschluss über die Erstellung eines Gutachtens zur Klärung der Prozessfähigkeit einer Prozesspartei, der ohne deren vorherige persönliche Anhörung zu dieser Frage erlassen wurde, verletzt den Anspruch dieser Partei auf rechtliches Gehör und kann von ihr ungeachtet der in §§ 321a Abs. 1 Satz 2, 355 Abs. 2 ZPO enthaltenen Regelungen mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 321a Abs. 1 S. 2, § 355 Abs. 2
Verfahrensgang
LG München I (Beschluss vom 05.11.2008; Aktenzeichen 1 T 17776/08) |
AG München (Beschluss vom 08.04.2008; Aktenzeichen 484 UR II 1119/96 WEG) |
Tenor
Auf die Rechtsmittel des Gläubigers werden der Beschluss der 1. Zivilkammer des LG München I vom 5.11.2008 und der Beweisbeschluss des AG München vom 8.4.2008 aufgehoben.
Der Schuldner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und des Rechtsbeschwerdeverfahrens.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.
Gründe
[1] I. Der Gläubiger, der vom Schuldner aufgrund eines im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ergangenen rechtskräftigen Beschlusses die Wiederherstellung einer Gartenanlage verlangen kann, begehrt im vorliegenden Verfahren seine Ermächtigung zur Ersatzvornahme gem. § 887 ZPO. Nachdem der Schuldner behauptet hatte, dass der Gläubiger prozessunfähig sei, hat das AG beschlossen, über diese Frage durch Einholung eines Gutachtens des zuständigen LGarztes Beweis zu erheben. Die gegen diesen Beschluss gerichtete sofortige Beschwerde hat das LG als unzulässig verworfen.
[2] Mit seiner vom LG zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Gläubiger seinen Antrag auf Aufhebung des Beweisbeschlusses weiter. Der Schuldner hat sich im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht geäußert.
[3] II. Nach Auffassung des LG hat das Rechtsmittel des Gläubigers weder in den §§ 567 ff. ZPO noch in § 19 FGG eine Grundlage. Ein Beweisbeschluss gem. § 355 Abs. 2 ZPO könne grundsätzlich erst im Rahmen des Rechtsmittels gegen die Endentscheidung zur Überprüfung gestellt werden. Ein Ausnahmefall, in dem nach der Rechtsprechung eine selbständige Anfechtbarkeit zu bejahen sei, liege hier nicht vor. Zwar werde die selbständige Anfechtbarkeit der Anordnung einer ärztlichen Begutachtung und Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens bejaht, weil der Betroffene in einem solchen Fall mit einer Vorladung und Untersuchung durch den Sachverständigen und im Falle seiner Weigerung mit Zwangsmitteln des Gerichts gem. § 33 FGG zur Durchsetzung des Beweisbeschlusses rechnen müsse. Eine mit § 33 FGG vergleichbare Regelung bestehe im Zivilprozess auch im Blick auf die von Amts wegen vorzunehmende Klärung des Vorliegens der Prozessvoraussetzungen aber nicht. Der Umstand, dass im Streitfall ein im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ergangener Titel zu vollstrecken sei, rechtfertige keine abweichende Beurteilung.
[4] III. Die gegen diese Beurteilung gerichtete Rechtsbeschwerde ist aufgrund ihrer Zulassung durch das LG statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässig. Nicht entschieden zu werden braucht in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Zulassung der Rechtsbeschwerde durch das Beschwerdegericht unwirksam ist, wenn schon der Beschwerderechtszug nicht eröffnet war (so BGHZ 159, 14 [15]; BGH, Beschl. v. 17.10.2005 - II ZB 4/05, NJW-RR 2006, 286 Tz. 4; Beschl. v. 18.12.2008 - I ZB 118/07, GRUR 2009, 519 Tz. 6 = WRP 2009, 634 - Hohlfasermembranspinnanlage, m.w.N.; a.A. Zöller/Heßler, ZPO, 27. Aufl., § 574 Rz. 9a; Künkel, MDR 2006, 486); denn ein solcher Fall liegt hier nicht vor (vgl. unten unter IV 3).
[5] IV. Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung der von den Vorinstanzen erlassenen Beschlüsse. Der vom AG ohne persönliche Anhörung des Gläubigers erlassene Beweisbeschluss über die Erstellung eines Gutachtens zur Klärung seiner Prozessfähigkeit verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (unten unter IV 1 und 2) und hätte deshalb auf die zulässige Beschwerde des Gläubigers hin aufgehoben werden müssen (unten unter IV 3).
[6] 1. Das Grundgesetz sichert rechtliches Gehör im gerichtlichen Verfahren durch das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG. Garantiert ist den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Der Einzelne soll nicht Objekt richterlicher Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen (vgl. BVerfGE 107, 395 [409]; BVerfGK 6, 380, 383). Die Maßgeblichkeit der Rechtsschutzgarantie entfällt nicht allein deshalb, weil die Partei schon die Möglichkeit gehabt hat, sich zur Sache zu äußern. Art. 103 Abs. 1 GG enthält weitergehende Garantien als die, sich zur Sache einlassen zu können, z.B. den Schutz vor einer Überraschungsentscheidung (vgl. BVerfGE 107, 395 [410]; BVerfGK 6, 380, 383). Im Hinblick darauf verletzt ein Beweisbeschluss über die Erstellung eines Gutachtens zur Klärung der Prozessfähigkeit einer Prozesspartei, der ohne deren vorherige persönliche Anhörung zu dieser Frage erlassen wurde, den Anspruch dieser Partei auf rechtliches Gehör (BVerfGK 6, 380, 383; vgl. auch BGHZ 171, 326 Tz. 17 zu Anordnung einer psychiatrischen Untersuchung des Betroffenen durch das Vormundschaftsgericht).
[7] 2. Der vom Gläubiger angegriffene Beweisbeschluss des AG verstößt danach gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Das AG hat den Beschluss am 8.4.2008 erlassen und seine Entscheidung maßgeblich auf den Vortrag im Schriftsatz der Schuldnervertreter vom 31.3.2008 gestützt, in dem erstmals die Prozessunfähigkeit des Gläubigers geltend gemacht worden war. Das AG hat den Gläubiger zur Frage seiner Prozessfähigkeit nicht angehört.
[8] 3. Der Gläubiger hat den danach zu beanstandenden Beweisbeschluss des AG entgegen der Ansicht des LG auch in zulässiger Weise angegriffen. Die Ausnahmen, die die Rechtsprechung in Fällen der Verletzung des rechtlichen Gehörs hinsichtlich der Bindungswirkung an sich unanfechtbarer Zwischenentscheidungen gemacht hat, gelten auch nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (v. 9.12.2004, BGBl. I, 3220 - AnhRügG) am 1.1.2005 weiter fort; denn die mit diesem Gesetz vorgenommene Ausweitung des § 321a ZPO sollte ungeachtet des dort in Abs. 1 Satz 2 bestimmten Ausschlusses der Rüge bei Zwischenentscheidungen zu keiner Verkürzung des Rechtsschutzes der Parteien führen (vgl. Begründung des Entwurfs des AnhRügG, BTDrucks. 15/3706, 16; BVerfGE 119, 292, 298-301 gegen BAG NJW 2007, 1379 [1380]; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., vor § 128 Rz. 102 und § 321a Rz. 17; Wieczorek/Schütze/Rensen, ZPO, 3. Aufl., § 321a Rz. 29; MünchKomm/ZPO/Musielak, 3. Aufl., § 321a Rz. 2; Musielak/Musielak, ZPO, 6. Aufl., § 321 Rz. 3; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 321a Rz. 5).
[9] V. Danach sind der Beschluss des LG (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO) und, da die Sache zur Endentscheidung reif ist, auch der Beschluss des AG aufzuheben (§§ 577 Abs. 4 Satz 1, 572 Abs. 3 ZPO; Zöller/Heßler, a.a.O., § 572 Rz. 22).
[10] Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Fundstellen
Haufe-Index 2192067 |
BGHR 2009, 1017 |
EBE/BGH 2009 |
FamRZ 2009, 1579 |
NJW-RR 2009, 1223 |
ZAP 2009, 892 |
KKZ 2010, 243 |
MDR 2009, 1184 |
DS 2010, 146 |