Leitsatz (amtlich)
Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht bekannt gegeben, liegt eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör vor (im Anschluss an Senat, Beschl. v. 2.12.2020 - XII ZB 291/20, FamRZ 2021, 462).
Normenkette
FamFG § 325
Verfahrensgang
LG Ansbach (Beschluss vom 10.12.2020; Aktenzeichen 4 T 1344/20) |
AG Ansbach (Beschluss vom 27.11.2020; Aktenzeichen 19 XVII 567/19) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Ansbach vom 27.11.2020 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Ansbach vom 10.12.2020 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Rechtsbeschwerde wendet sich gegen die durch Zeitablauf erledigte Genehmigung ärztlicher Zwangsmaßnahmen und begleitender freiheitsentziehender Maßnahmen.
Rz. 2
Der im Jahre 1965 geborene und im zuständigen Bezirksklinikum untergebrachte Betroffene leidet seit Jahren unter einer chronifizierten schizophrenen Psychose. Für ihn ist der Beteiligte zu 1) als Berufsbetreuer mit umfassendem Aufgabenkreis bestellt.
Rz. 3
Nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens, Bestellung eines Verfahrenspflegers und Anhörung des Betroffenen hat das AG mit Beschluss vom 27.11.2020 die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmedikation mit Haldol Decanoat bis längstens 22.1.2021 sowie die zeitweise oder regelmäßig erfolgende Freiheitsentziehung durch Isolierung und eine Fünf-Punkt-Fixierung des Betroffenen bis längstens 11.12.2020 genehmigt. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das LG mit Beschluss vom 10.12.2020 die Höchstfrist für die Zwangsmedikation auf die gesetzlich zulässige Dauer von sechs Wochen verkürzt und das Rechtsmittel im Übrigen zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Feststellung, durch die Beschlüsse des AG und des LG in seinen Rechten verletzt worden zu sein.
II.
Rz. 4
Die statthafte (vgl. Senat, Beschl. v. 8.5.2019 - XII ZB 2/19 - FamRZ 2019, 1181 Rz. 6) und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des AG und des LG, weil diese den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (vgl. Senat, Beschl. v. 2.12.2020 - XII ZB 291/20, FamRZ 2021, 462 Rz. 6 m.w.N.) festzustellen ist.
Rz. 5
1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen am 27.11.2020 verfahrensfehlerhaft gewesen ist, weil ihm vor der Anhörung das Sachverständigengutachten nicht überlassen worden ist.
Rz. 6
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gem. § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. Senat, Beschl. v. 2.12.2020 - XII ZB 291/20, FamRZ 2021, 462 Rz. 8 m.w.N.).
Rz. 7
b) Diesen Anforderungen wird das Verfahren des AG nicht gerecht.
Rz. 8
Ausweislich der Gerichtsakten ist das von dem Sachverständigen S. erstattete schriftliche Gutachten am 25.11.2020 bei dem AG eingegangen. Der Betreuungsrichter hat durch Beschluss vom 26.11.2020 den Beteiligten zu 3) zum Verfahrenspfleger bestellt und am gleichen Tag verfügt, dass dem Betroffenen eine Abschrift des Bestellungsbeschlusses übersandt werde. Diese Verfügung enthält - anders als die Übersendungsverfügung an den Verfahrenspfleger - keine Anweisung dahingehend, dass der Ausfertigung des Bestellungsbeschlusses ein Abdruck des Gutachtens beigefügt werden solle. Auch sonst lässt sich der Gerichtsakte nicht entnehmen, dass vor dem Anhörungstermin am 27.11.2020 eine Bekanntgabe des Gutachtens an den Betroffenen erfolgt wäre. Der am 30.11.2020 gefertigte Anhörungsvermerk enthält ebenfalls keinen Hinweis darauf, dass dem Betroffenen bei der Anhörung der Inhalt des Sachverständigengutachtens bereits bekannt gewesen sein könnte. Die Voraussetzungen des § 325 Abs. 1 FamFG, nach dem von einer Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen abgesehen werden kann, hat der Sachverständige S. in seinem Gutachten ausdrücklich verneint. Die Bekanntgabe des Gutachtens an den Verfahrenspfleger ersetzt eine Bekanntgabe an den Betroffenen nicht.
Rz. 9
2. Mit Recht beanstandet die Rechtsbeschwerde zudem als verfahrensfehlerhaft, dass das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen hat.
Rz. 10
a) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch u.a. voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senat, Beschl. v. 2.12.2020 - XII ZB 291/20, FamRZ 2021, 462 Rz. 15 m.w.N.).
Rz. 11
b) Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht - wie geschehen - von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Denn die Anhörung des Betroffenen durch das AG litt an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ihm das eingeholte Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin am 27.11.2020 überlassen worden ist. Das Beschwerdegericht hätte diesen Mangel durch die Übersendung des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen und dessen anschließende erneute Anhörung beheben müssen.
Rz. 12
3. Der Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.
Rz. 13
a) Die Feststellung, dass ein Betroffener durch die angefochtene Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. Senat, Beschl. v. 2.12.2020 - XII ZB 291/20, FamRZ 2021, 462 Rz. 18 m.w.N.).
Rz. 14
b) Wurde in einer - wie hier - durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht bekannt gegeben, ist von einer Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör auszugehen. Schon allein dieser Verfahrensfehler ist so gewichtig, dass er die Feststellung nach § 62 FamFG zu rechtfertigen vermag, weil er einer Verwertung des gem. § 321 Abs. 1 FamFG unabdingbaren Sachverständigengutachtens entgegensteht (vgl. Senat, Beschl. v. 2.12.2020 - XII ZB 291/20, FamRZ 2021, 462 Rz. 19 m.w.N.).
Rz. 15
Auch das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet. Die durch § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Verletzung die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt (vgl. Senat, Beschl. v. 2.12.2020 - XII ZB 291/20, FamRZ 2021, 462 Rz. 20 m.w.N.).
Rz. 16
c) Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Unterbringungsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff i.S.d. § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (st.Rspr. des Senats, vgl. Senatsbeschluss vom 2.12.2020 - XII ZB 291/20, FamRZ 2021, 462 Rz. 21 m.w.N.).
Rz. 17
4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gem. § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.
Fundstellen
Haufe-Index 14757446 |
NJW-RR 2021, 1230 |
BtPrax 2021, 238 |
MDR 2021, 1483 |
FF 2021, 465 |
FamRB 2021, 8 |