Entscheidungsstichwort (Thema)
Bauarbeiten an Bahnstrecke. Umfang der Verkehrssicherungspflicht. Umzureichende Sicherungsmaßnahmen. Anbringung von sichtbaren Abgrenzungen. Hörprobe bezüglich des Waarnsignals. Mitverschulden des verletzten Arbeiters
Leitsatz (amtlich)
Zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht gegenüber Arbeitern, die Bauarbeiten an einer Bahnstrecke ausführen.
Normenkette
BGB § 823
Verfahrensgang
LG Magdeburg |
OLG Naumburg |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 11. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 12. September 2000 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Beklagte ließ im Oktober 1994 an der Bahnstrecke im Bereich des Bahnhofs G. Bauarbeiten ausführen. Von den vorhandenen vier Gleisen wurden die Gleise 3 und 4 zurückgebaut und an Stelle des Gleises 3 neben dem Gleis 2 ein neuer Bahnsteig errichtet. Für die Absicherung der Baustelle hatte die Streithelferin zu 1 im Auftrag der Beklagten einen Sicherungsplan erstellt. Der Streithelferin zu 2 oblag die Bauüberwachung. Mit der Ausführung der Fundamentierungsarbeiten war die Streithelferin zu 3 beauftragt. Der bei ihr beschäftigte Kläger war damit beschäftigt, den in die Verschalung eingefüllten Beton mittels einer Rüttelbirne zu verdichten. Dabei wurde er von einem auf dem Gleis 2 fahrenden Güterzug erfaßt und schwer verletzt. Er begehrt Schmerzensgeld und die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz zukünftiger materieller und immaterieller Schäden. Die Klage ist in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche in vollem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht verneint ein Verschulden der Beklagten und ihrer Streithelferinnen. Es meint, eine Sperrung des Gleises 2 sei nicht geboten gewesen, weil für die an diesem Tag vorgesehenen Arbeiten ein Betreten des Gefahrenbereichs dieses Gleises (2,10 m ab Gleismitte) nicht erforderlich gewesen sei. Zwar habe sich das Fundament, an dem der Kläger gearbeitet habe, teilweise innerhalb des Gefahrenbereichs befunden, doch hätten die Arbeiten vom früheren Gleis 3 aus und damit von einem Standpunkt außerhalb des Gefahrenbereichs durchgeführt werden können. Deshalb sei nicht zu beanstanden, daß der Sicherungsplan das Gleis 3 als Arbeits- und das Gleis 2 als Nachbargleis ausgewiesen habe. Es habe demgemäß auch genügt, das Rottenwarnsignal „Ro 1” („Vorsicht! Im Nachbargleis nähern sich Fahrzeuge”) zu geben; das Signal „Ro 2” („Arbeitsgleis räumen!”) sei nicht erforderlich gewesen. Daß einer der drei Sicherungsposten nicht richtig postiert gewesen sei, habe die Beweisaufnahme nicht ergeben. Vor dem betreffenden Güterzug sei auch hörbar gewarnt worden. Die erforderliche Hörprobe habe stattgefunden. Daß der Unfall durch eine anderweitige Warnung des Klägers hätte vermieden werden können, lasse sich nicht feststellen. Jedenfalls hätten etwaige Pflichtverstöße der Beklagten oder ihrer Streithelferinnen zurückzutreten, weil der Kläger den Unfall ganz überwiegend selbst verschuldet habe (§ 254 BGB), denn er sei trotz der Warnsignale und entgegen der Anweisung, nur vom Gleis 3 aus zu arbeiten, ohne äußeren Anlaß auf die andere Seite des Fundaments in den Gefahrenbereich des Gleises 2 gewechselt.
II.
Diese Erwägungen halten revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Die Auffassung des Berufungsgerichts, das Gleis 2 habe am Unfalltag nicht gesperrt werden müssen, weil ein Betreten des Gefahrenbereichs für die vorgesehenen Arbeiten nicht erforderlich gewesen sei, begegnet durchgreifenden Bedenken.
a) Die Revision rügt mit Recht, daß sich das Berufungsgericht nicht hinreichend mit der Frage auseinandergesetzt hat, welche Vorkehrungen erforderlich gewesen wären, um zu verhindern, daß Arbeiter in den Gefahrenbereich des Gleises 2 gelangten. Zwar hat das Berufungsgericht festgestellt, daß der Beton vom Gleis 3 aus eingefüllt werden konnte und die Arbeiter angewiesen waren, alle Arbeiten ausschließlich von dieser Seite der Verschalung her auszuführen. Indessen war dies nur eine von mehreren Möglichkeiten der Arbeitsausführung und schloß – wie der Unfall zeigt – eine Gefährdung der Arbeiter nicht zuverlässig aus. Auch wenn es nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht erforderlich war, in den eigentlichen Gefahrenbereich zu treten, und der etwa 75 bis 80 cm breite Fundamentgraben zudem eine natürliche Grenze bildete, die nicht unwillkürlich überschritten werden konnte, so bestand für die Arbeiter doch gleichwohl schon deswegen eine Gefahrenlage, weil die Arbeiten jedenfalls in einem relativ geringen Abstand zu dem befahrenen Gleis 2 auszuführen waren. Die von diesem Gleis ausgehende Gefährdung war nicht zuletzt auch wegen der Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Züge erheblich. So fuhr der Güterzug, der den Kläger erfaßte, nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h.
Unter diesen Umständen war der Verkehrssicherungspflicht nicht schon damit Genüge getan, daß die Arbeiter angewiesen waren, sich ausschließlich in einem ungefährdeten Bereich aufzuhalten. Selbst wenn die Durchführung der Betonierungsarbeiten ein Betreten des Gefahrenbereichs nicht erforderte, so war es doch nicht ausgeschlossen, daß ein Arbeiter dabei versehentlich in den Gefahrenbereich gelangte, sei es aufgrund kurzfristiger Unaufmerksamkeit oder auch aus Bequemlichkeit. Wie der Unfall zeigt, stellte die Breite des Grabens für sich allein kein ausreichendes Hindernis dar. Allerdings kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß es hier nicht um den Schutz unbeteiligter oder unerfahrener Dritter ging, sondern um die Sicherheit von Personen, die im Umgang mit Gefahren auf einer Baustelle – möglicherweise auch im Bahnbereich – vertraut waren. Auf einer Baustelle ist grundsätzlich nur ein beschränkter Verkehr zugunsten der am Bau beschäftigten Handwerker, des Architekten, des Bauherrn, der Beamten der Bauaufsichtsbehörde usw. eröffnet. Der Eröffnung eines so beschränkten Verkehrs entsprechend ist die Verkehrssicherungspflicht begrenzt (Senatsurteile vom 10. Juli 1956 – VI ZR 133/55 – VersR 1956, 554 und vom 11. Dezember 1984 – VI ZR 292/82 – VersR 1985, 360 f. jeweils m.w.N.). Der Umfang der zu treffenden Sicherungsmaßnahmen hat sich an den Sicherungserwartungen von mit den Gegebenheiten und den üblichen Gefahren einer Baustelle vertrauten Personen auszurichten (Senatsurteil vom 1. Oktober 1968 – VI ZR 121/67 – VersR 1969, 37). Andererseits muß auch derjenige, der es gewohnt ist, in Gefahrensituationen zu arbeiten, so weit wie möglich davor geschützt werden, daß er durch ein unbedachtes, jedoch naheliegendes Verhalten zu Schaden kommt. Nicht zuletzt deshalb gelten Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften für alle Beschäftigten ohne Rücksicht auf ihre mehr oder weniger große Berufserfahrung; sie sollen vor typischen Gefährdungen des jeweiligen Gewerbes schützen und nicht Erfahrungsdefizite ausgleichen (Senatsurteil vom 18. Oktober 1988 – VI ZR 15/88 – VersR 1989, 109, 110). Bei den hier ausgeführten Betonierungsarbeiten (Abziehen mit einem Richtscheit, Verdichten mit einer Rüttelbirne) lag ein Betreten des Gefahrenbereichs nicht fern, denn der in den Fundamentgraben eingefüllte Beton mußte gleichmäßig über die gesamte Breite abgezogen und verdichtet werden. Da es sich nie verhindern läßt, daß z.B. das Arbeitsgerät sich irgendwo verhakt oder einem Arbeiter aus der Hand fällt, muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß der betreffende Arbeiter seine Aufmerksamkeit kurzfristig ausschließlich auf das Arbeitsgerät richtet und dabei in den Gefahrenbereich gelangt. Auch vor einem solchen Fehlverhalten muß der Arbeiter soweit wie möglich geschützt werden. Das hat das Berufungsgericht nicht hinreichend bedacht.
Hier war ein Schutz nicht nur möglich (etwa durch eine Sperrung des Gleises 2, durch eine besondere Absperrung sowie durch das Warnsignal „Ro 2”: „Arbeitsgleis räumen!”), sondern nach den eigenen Bestimmungen der Beklagten sogar geboten. Die Revision weist hierzu auf die Anordnung hin, welche die Beklagte in ihrem an alle bauausführenden Firmen gerichteten Schreiben vom 5. Mai 1994 – also vor dem hier in Rede stehenden Unfall – bekanntgegeben hat. Darin heißt es wörtlich, daß künftig „in allen geeigneten Fällen – sowohl auf Arbeitsstellen im gesperrten Gleis als auch im Baugleis – Arbeitskräfte am Betreten des Gefahrenbereichs von Nachbargleisen durch Einsatz ‚sichtbarer Abgrenzungen’ (feste Absperrung) zu hindern” sind. Mit Recht rügt die Revision als Verstoß gegen § 286 ZPO, daß das Berufungsgericht diese Weisung nicht gewürdigt hat.
b) Weiter rügt die Revision mit Erfolg, das Berufungsgericht habe außer acht gelassen, daß die Sicherungsmaßnahmen auch nach Einschätzung des von der Berufsgenossenschaft beauftragten Sachverständigen Dipl.-Ing. W. in mehrfacher Hinsicht unzureichend waren. Der Gutachter bemängelt u.a., daß die Arbeiten entgegen der Weisung des Vorstandes der Beklagten und der Deutschen Reichsbahn vom 29. Oktober 1993 im nicht gesperrten Gleis ausgeführt wurden und daß statt des seiner Beurteilung nach erforderlichen Signals „Ro 2” das Signal „Ro 1” („Vorsicht! Im Nachbargleis nähern sich Fahrzeuge”) gegeben wurde. Mit dieser Bewertung des Sachverständigen hat sich das Berufungsgericht nicht befaßt, obwohl der Kläger sich darauf bezogen und in einem nachgelassenen Schriftsatz beantragt hatte, ein Gutachten eines Eisenbahnsachverständigen einzuholen. Diesen Beweisantrag hat das Berufungsgericht verfahrensfehlerhaft übergangen. Zwar ist die Beantwortung der Frage, ob die getroffenen Sicherungsmaßnahmen hier ausreichend waren, dem Gericht vorbehalten, doch darf der Tatrichter ohne Darlegung eigener Sachkunde die von einer Partei in diesem Zusammenhang vorgetragene Einschätzung eines Sachverständigen im allgemeinen nicht unberücksichtigt lassen. Das gilt auch bei Fragen der Arbeitssicherung.
c) Durchgreifende Einwendungen erhebt die Revision auch gegen die Feststellungen des Berufungsgerichts zur sogenannten Hörprobe bezüglich des Warnsignals. Sie weist darauf hin, daß diese nach den Ausführungen des Sachverständigen W. unter den gleichen akustischen Bedingungen hätte durchgeführt werden müssen, die zur Unfallzeit herrschten, also nicht nur bei laufendem Betonmischer, sondern auch bei laufendem Rüttler und unter Berücksichtigung der konkreten Entfernung der Arbeiter von dem Signalgeber. Von daher macht die Revision mit Recht geltend, die Auffassung des Berufungsgerichts, eine erneute Hörprobe sei nicht erforderlich gewesen, weil sich die Verhältnisse nicht nachteilig verändert hätten, werde von den getroffenen Feststellungen nicht getragen. So läßt sich dem Berufungsurteil weder entnehmen, ob auch bei der am Vortag durchgeführten Hörprobe ein Rüttler in Betrieb war, noch, ob die Signalgebung aus derselben Entfernung erfolgte wie am Unfalltag.
2. Dem Berufungsgericht kann nach den bisherigen Feststellungen auch nicht darin gefolgt werden, daß etwaige Ansprüche jedenfalls wegen überwiegenden Mitverschuldens des Klägers gemäß § 254 BGB ausgeschlossen wären. Allerdings gehört die Abwägung der Verantwortlichkeiten nach § 254 BGB in den dem Revisionsgericht nur begrenzt zugänglichen Bereich der tatrichterlichen Würdigung (Senatsurteil vom 12. Juli 1988 – VI ZR 283/87 – VersR 1988, 1238, 1239). Eine Nachprüfung ist dem Revisionsgericht dahin möglich, ob der Tatrichter alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat (vgl. Senatsurteile vom 8. Dezember 1987 – VI ZR 82/87 – VersR 1988, 412, 413; vom 12. Juli 1988 – VI ZR 283/87 – aaO; vom 12. Januar 1993 – VI ZR 75/92 – VersR 1993, 442, 443 und vom 12. März 1996 – VI ZR 12/95 – VersR 1996, 715, 718). Entscheidend für die Haftungsverteilung nach § 254 Abs. 1 BGB ist, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat. Das beiderseitige Verschulden ist ein Faktor der Abwägung. Anerkannt ist, daß bei der Bewertung der beiderseitigen Verursachungsanteile nur unstreitige oder bewiesene Umstände zu berücksichtigen sind (vgl. Senatsurteile vom 7. Juni 1988 – VI ZR 203/87 – VersR 1988, 842 und vom 24. Juni 1975 – VI ZR 159/74 – VersR 1975, 1121, 1122). Gegen diesen Grundsatz hat das Berufungsgericht verstoßen, weil es zu Lasten des Klägers angenommen hat, er sei „ohne äußeren Anlaß” auf die andere Seite des Fundaments gewechselt. Diese Annahme wird von den getroffenen Feststellungen nicht getragen. In der Beweisaufnahme konnte nämlich nicht geklärt werden, weshalb der Kläger in den Gefahrenbereich gelangt ist. Bleibt der Grund hierfür offen, ist dem Vorwurf des Berufungsgerichts, der Kläger habe „jegliche Aufmerksamkeit und Sorgfalt außer Acht gelassen”, die Grundlage entzogen. Hinzu kommt, daß auch nicht festgestellt ist, ob der Kläger das Warnsignal überhaupt gehört hat. Da er selbst nach eigenen Angaben keine Erinnerung an den Unfallhergang hat, kann ihm die Ungeklärtheit des Unfallgeschehens – entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – auch nicht mit der Begründung entgegengehalten werden, er habe es „grundsätzlich abgelehnt, genauer vorzutragen, wo er sich im Zeitpunkt des Unfalls aufgehalten habe”.
III.
Nach alledem muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden. Sollte die weitere Beweiserhebung ergeben, daß eine etwaige Verletzung der Verkehrssicherungspflicht einer der Streithelferinnen anzulasten ist, wird noch zu prüfen sein, inwieweit dafür auch die Beklagte verantwortlich ist (vgl. Senatsurteil vom 9. November 1982 – VI ZR 129/81 – VersR 1983,152 m.w.N.).
Unterschriften
Dr. Müller, Dr. Dressler, Dr. Greiner, Diederichsen, Pauge
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 08.01.2002 durch Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
NJW 2002, 1263 |
BGHR 2002, 460 |
BauR 2002, 833 |
BauR 2002, 951 |
IBR 2002, 135 |
Nachschlagewerk BGH |
MDR 2002, 578 |
NZV 2002, 314 |
VersR 2002, 330 |
ZfBR 2002, 353 |