Leitsatz (amtlich)
Hat im Arzthaftungsprozeß der medizinische Sachverständige in seinem mündlich erstatteten Gutachten neue und ausführlichere Beurteilungen gegenüber dem bisherigen Gutachten abgegeben, muß auch der sachkundigen Partei Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Dabei sind auch Ausführungen in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz zur Kenntnis zu nehmen und muß, sofern sie Anlaß zu weiterer tatsächlicher Aufklärung geben, die mündliche Verhandlung wiedereröffnet werden (im Anschluß an BGH, Urteil vom 31. Mai 1988 – VI ZR 261/87 – VersR 1988, 914 = NJW 1988, 2302).
Normenkette
BGB § 823; ZPO §§ 286, 156
Verfahrensgang
OLG Stuttgart |
LG Tübingen |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten zu 1) und zu 3) wird das Grund- und Teilurteil des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. Juli 1999 aufgehoben, soweit zum Nachteil der Beklagten zu 1) und 3) erkannt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger macht Ansprüche auf materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen der Folgen eines ärztlichen Eingriffs geltend.
Der Kläger leidet seit seinem 18. Lebensjahr an einem beidseitigen Ballenhohl- und Spreizfuß mit Krallenzehbildung. Trotz verschiedener Operationen und orthopädischer Einlagen verstärkten sich seine Beschwerden und Schmerzen bei Belastungen. Er entschloß sich deshalb zu einer Operation. Am 14. Juni 1993 wurde er in die Orthopädische Universitätsklinik T., deren Trägerin die Beklagte zu 3) ist, aufgenommen, wo am 14. und 15. Juni 1993 mit ihm Aufklärungsgespräche über die Risiken der bevorstehenden Operation geführt wurden. Der inzwischen verstorbene Operateur, dessen Erben die nunmehrigen Beklagten zu 1) sind, führte am 16. Juni 1993 den Eingriff durch. Die Beschwerden verschlimmerten sich in der Folgezeit trotzdem. Auch weitere Operationen brachten keine Besserung. Der Kläger mußte seine bisherige berufliche Tätigkeit aufgeben und schied im September 1996 aus dem aktiven Arbeitsprozeß aus.
Der Kläger hat im ersten Rechtszug dem ehemaligen Beklagten zu 1) einen Behandlungsfehler bei der Durchführung der Operation vorgeworfen. Auch sei er in den Aufklärungsgesprächen nicht über das Risiko der Verschlimmerung seiner Beschwerden belehrt worden. Die Beklagten hafteten ihm gesamtschuldnerisch für seine materiellen und immateriellen Schäden.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht durch Teil- und Grundurteil – unter Zurückweisung der Berufung im übrigen – die Beklagte zu 3) zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 60.000 DM verurteilt und die Klageanträge hinsichtlich des materiellen Schadensersatzes gegen die Beklagten zu 1) und die Beklagte zu 3) dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Dazu hat es die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten zu 1) und 3) für zukünftige materielle Schäden und die Ersatzpflicht der Beklagten zu 3) für zukünftige immaterielle Schäden festgestellt.
Mit der Revision verfolgen die Beklagten zu 1) und zu 3) die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht führt – sachverständig beraten – aus, ein Behandlungsfehler sei nicht festzustellen. Es lastet den Beklagten jedoch einen Aufklärungsfehler an, der zur Haftung führe.
Der Kläger sei zwar über Verlauf und Risiken der geplanten Eingriffe ausreichend aufgeklärt worden, nicht jedoch über die Alternative einer konservativen Behandlung mit orthopädischem Schuhwerk. Diese Behandlungsalternative stehe aufgrund der überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen fest. Das Berufungsgericht hat keinen Anlaß gesehen, auf einen nicht nachgelassenen Schriftsatz der Beklagten zu 3) die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen, weil das mit diesem vorgelegte Privatgutachten keine Zweifel an der Richtigkeit des gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu begründen vermöge.
II.
Die dagegen mit der Revision erhobenen Verfahrensrügen der Beklagten sind teilweise begründet und führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung an das Berufungsgericht.
1. Ohne Erfolg beanstanden die Beklagten allerdings, daß das Berufungsgericht eine konservative Behandlungsalternative mit orthopädischem Maßschuhwerk für den Kläger angenommen hat, obwohl der gerichtliche Sachverständige eine Besserungschance nur mit 50 % eingeschätzt und der Zeuge Dr. B. hierdurch keine Verbesserung in der Situation des Klägers erwartet hat. Das Berufungsgericht hat, wie den Urteilsgründen zu entnehmen ist, in seine Überzeugungsbildung beide Beweismittel einbezogen. Auch hat es die für die Beweiswürdigung wesentlichen Gesichtspunkte im Urteil dargelegt, so daß dem Revisionsgericht die Prüfung, ob alle Umstände vollständig berücksichtigt sind und nicht gegen Denk- oder Erfahrungssätze verstoßen wurde, möglich war (vgl. Senatsentscheidung vom 22. Januar 1991 – VI ZR 97/90 – VersR 1991, 566 = NJW 1991, 1894). Danach läßt die Annahme einer konservativen Behandlungsmöglichkeit keinen Rechts- oder Verfahrensfehler erkennen.
2. Mit Erfolg rügen beide Revisionsführer jedoch, daß das Berufungsgericht die Ausführungen des Privatgutachters nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt und rechtsfehlerhaft den Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat.
a) Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung, daß beim Beschwerdebild des Klägers die Alternative einer konservativen Versorgung mit orthopädischem Schuhwerk zur Operation bestanden habe, aufgrund der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Sch. in der mündlichen Anhörung vom 15. Juni 1999 gewonnen. In diesem Termin hat der gerichtliche Sachverständige erstmalig eindeutig die Auffassung vertreten, daß beim Ballenhohlfuß die konservative Behandlung die Regel sei und der Kläger vor der Operation über diese Alternative hätte aufgeklärt werden müssen. Damit wurden die Beklagten mit einer neuen medizinischen Beurteilung konfrontiert. Die Beklagte zu 3) hat hierauf ein Parteigutachten vorgelegt, wonach orthopädisches Schuhwerk für Fälle wie den vorliegenden keine Alternative zur operativen Versorgung sei, sondern nur eine Rückzugsmöglichkeit nach Versagen der operativen Möglichkeiten darstelle, und hat auf den sich hieraus ergebenden Widerspruch zu den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen hingewiesen. Darüber durfte sich das Berufungsgericht nicht mit der formelhaften Wendung hinwegsetzen, das vorgelegte Privatgutachten vermöge Zweifel an der Richtigkeit des Sachverständigengutachtens nicht zu begründen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (Senatsurteile vom 10. Dezember 1991 – VI ZR 234/90 – VersR 1992, 722 = NJW 1992, 1459; vom 15. Juni 1993 – VI ZR 175/92 – VersR 1993, 1231 = NJW 1993, 2989; vom 9. Januar 1996 – VI ZR 70/95 – VersR 1996, 647 = NJW 1996, 1597 und vom 28. April 1998 – VI ZR 403/96 – VersR 1998, 853 = NJW 1998, 2735) hat das Gericht die Pflicht, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich ein Widerspruch zu einem gerichtlichen Gutachten ergibt.
Das Berufungsgericht konnte sich über den aufgezeigten Widerspruch auch nicht aus eigener Sachkunde hinwegsetzen, da es sich um medizinische Fachfragen handelte und von seiner Sachkompetenz nicht ausgegangen werden kann. Deshalb konnte es einen weiteren Aufklärungsbedarf auch nicht mit der Begründung verneinen, aus der dem Privatgutachten beigefügten Literaturübersicht lasse sich nicht entnehmen, daß bei schweren Fußdeformationen operativen Verfahren der Vorrang vor konservativen Formen der Behandlung mit orthopädischer Schuhversorgung gebühre.
b) Unter diesen Umständen war die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung geboten, um eine ordnungsgemäße Befassung mit dem Privatgutachten zu ermöglichen und es insbesondere dem gerichtlichen Sachverständigen zur Stellungnahme zuzuleiten. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, daß, wenn im Arzthaftungsprozeß der medizinische Sachverständige in seinem mündlich erstatteten Gutachten neue und ausführlichere Beurteilungen gegenüber dem bisherigen Gutachten abgegeben hat, der medizinisch nicht sachkundigen Partei Gelegenheit zu geben ist, sich ggf. sachverständig beraten zu lassen und nochmals Stellung nehmen zu können. Andernfalls wird die Partei meist nicht in der Lage sein, dem Sachverständigen etwaige abweichende medizinische Lehrmeinungen vorzuhalten, auf die Möglichkeit von Lücken in der Begutachtung hinzuweisen und etwaige Widersprüche im Gutachten aufzuzeigen. Das Berufungsgericht muß in solchen Fällen wenigstens dann die mündliche Verhandlung wiedereröffnen, wenn die Partei im nachgereichten Schriftsatz das mündlich erstattete Gutachten unter Anführung von Einzelheiten angreift und dies auch dann, wenn die Partei die Einräumung einer Schriftsatzfrist (§ 283 ZPO) nicht beantragt hatte (Senatsurteil vom 31. Mai 1988 – VI ZR 261/87 – VersR 1988, 914, 915 = NJW 1988, 2302).
Dieser Grundsatz gilt indes nicht nur für die nicht sachkundige Partei – als welche im Streitfall übrigens auch die Beklagten zu 1) anzusehen sind –, sondern auch für die Behandlungsseite, die unter dem Blickpunkt des rechtlichen Gehörs ebenfalls die Möglichkeit haben muß, zu neuem medizinischen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung eine ergänzende Stellungnahme bzw. ein Privatgutachten vorzulegen, und die deshalb Anspruch auf eine ordnungsgemäße Befassung des Gerichts mit einem solchen Gutachten hat.
III.
Bei dieser Sachlage kann nicht ausgeschlossen werden, daß die verfahrensrechtlich gebotene Berücksichtigung der Stellungnahme des Privatgutachters sich auf die Beurteilung des Rechtsstreits ausgewirkt hätte. Deshalb war das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es den Beklagten zu 1) und zu 3) nachteilig war, und die Sache an das Berufungsgericht zur Nachholung des rechtlichen Gehörs und der gebotenen Feststellungen zurückzuverweisen.
Unterschriften
Dr. Müller, Dr. Lepa ist durch Urlaub an der Unterschrift verhindert. Dr. Müller, Dr. Dressler, Dr. Greiner, Diederichsen
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 13.02.2001 durch Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
NJW 2001, 2796 |
BGHR 2001, 397 |
JurBüro 2001, 445 |
Nachschlagewerk BGH |
ArztR 2001, 304 |
MDR 2001, 567 |
MedR 2001, 364 |
VersR 2001, 722 |
GuG 2001, 188 |