Verfahrensgang

BGH (Beschluss vom 08.08.2023; Aktenzeichen VIa ZR 717/22)

OLG Dresden (Entscheidung vom 09.05.2022; Aktenzeichen 10 U 2765/21)

LG Leipzig (Entscheidung vom 24.11.2021; Aktenzeichen 9 O 2599/18)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 9. Mai 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Berufungsantrag zu I in Höhe von 20.998,57 € nebst Zinsen hieraus Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs sowie der Berufungsantrag zu III zurückgewiesen worden sind.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

Rz. 2

Der Kläger kaufte am 9. Mai 2014 von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten Mercedes-Benz B 200 CDI, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 ausgerüstet ist. In dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" temperaturabhängig gesteuert. Das Fahrzeug verfügt über eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR). Es ist nicht von einem vom Kraftfahrt-Bundesamt veranlassten Rückruf wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen.

Rz. 3

Der Kläger hat zuletzt die Erstattung des Kaufpreises nebst Verzugszinsen (Berufungsantrag zu I) sowie die Zahlung von Deliktszinsen (Berufungsantrag zu II) jeweils Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten (Berufungsantrag zu III) sowie die Freistellung von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten (Berufungsantrag zu IV) begehrt.

Rz. 4

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit seiner vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt der Kläger den Berufungsantrag zu I in Höhe von 20.998,57 € nebst Zinsen hieraus sowie den Berufungsantrag zu III weiter.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 5

Die Revision des Klägers hat Erfolg.

I.

Rz. 6

Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:

Rz. 7

Dem Kläger stünden keine deliktsrechtlichen Ansprüche gegen die Beklagte zu. Er habe die Voraussetzungen für eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung im Sinne des § 826 BGB nicht schlüssig dargelegt. Sein Vorbringen biete keine hinreichend fassbaren tatsächlichen Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten. Zu seinen Gunsten könne unterstellt werden, dass es sich bei dem in das Fahrzeug eingebauten Thermofenster und der implementierten KSR um unzulässige Abschalteinrichtungen handele. Da deren Funktionsweise auf dem Prüfstand und im realen Fahrbetrieb unter denselben Bedingungen im Grundsatz gleich sei, sei jedoch nicht ohne Weiteres von einem verwerflichen Verhalten der für die Beklagte verantwortlich handelnden Personen auszugehen. Eine möglicherweise fahrlässige Verkennung, dass das Thermofenster oder die KSR als unzulässige Abschalteinrichtungen zu qualifizieren sei, genüge hierfür nicht.

Rz. 8

Aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ergebe sich ebenfalls kein Anspruch des Klägers. Die Vorschriften der EG-FGV dienten nicht dem Schutz des Interesses eines Fahrzeugkäufers, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden. Jedenfalls scheitere ein Anspruch am fehlenden Verschulden der Beklagten. Da der Bundesgerichtshof durchweg den Schutzgesetzcharakter der einschlägigen unionsrechtlichen Normen verneint habe, könne der Beklagten wegen eines insoweit unvermeidbaren Verbotsirrtums im Zeitpunkt des Erwerbs des Fahrzeugs durch den Kläger ein Fahrlässigkeitsvorwurf nicht gemacht werden.

II.

Rz. 9

Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.

Rz. 10

1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat, weil es tatsächliche Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten nicht festgestellt hat. Die von der Revision erhobene Verfahrensrüge, das Berufungsgericht habe das Vorbringen des Klägers zur Prüfstandsbezogenheit der im Fahrzeug verbauten KSR unberücksichtigt gelassen, hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.

Rz. 11

2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV abgelehnt hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein solcher Schadensersatzanspruch des Klägers nicht verneint werden.

Rz. 12

a) Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).

Rz. 13

Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.).

Rz. 14

b) Ebenfalls von Rechtsfehlern beeinflusst ist die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte treffe unter dem Gesichtspunkt eines unvermeidbaren Verbotsirrtums kein Verschulden, weil zur Zeit des Fahrzeugerwerbs durch den Kläger die höchstrichterliche Rechtsprechung den Schutzgesetzcharakter der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV verneint habe. Das Berufungsgericht hat schon nicht festgestellt, dass sämtliche verfassungsmäßig berufenen Vertreter der Beklagten einem Rechtsirrtum erlegen sind (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 63; Urteil vom 25. September 2023 - VIa ZR 1/23, juris Rn. 14). Unabhängig davon hat es übersehen, dass sich das nach § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB erforderliche Verschulden allein auf die Verletzung des Schutzgesetzes beziehen muss (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 1961 - III ZR 9/60, BGHZ 34, 375, 381; Urteil vom 2. Februar 1988 - VI ZR 133/87, BGHZ 103, 197, 200; vgl. auch BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 38). Im Hinblick auf einen Verstoß gegen die Vorschriften der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV hat es das Berufungsgericht indessen für möglich gehalten, dass die Beklagte die - unterstellte - Unzulässigkeit des Thermofensters und der KSR fahrlässig verkannt hat.

III.

Rz. 15

Das angefochtene Urteil ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann im Umfang der Aufhebung des Berufungsurteils nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Rz. 16

Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.

Menges     

Götz     

Rensen

Wille     

Vogt-Beheim     

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16155417

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