Leitsatz (amtlich)
Zur Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Baugenehmigung für ein Vorhaben, bei dem die Gefahr besteht, daß es unzumutbaren Belästigungen oder Störungen durch Geruchsimmissionen ausgesetzt ist (hier: geplante Wohnbebauung, die an einen bestandsgeschützten Rindermastbetrieb heranrückt).
Normenkette
BGB § 839; BauNVO § 15
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 8. Oktober 1999 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Kläger beabsichtigten, zwei in der Gemarkung E. im Gebiet der beklagten Stadt belegene Grundstücke mit einer Wohnanlage in Form eines Vier-Seiten-Hofes und zwei Einfamilienhäusern zu bebauen. Das zuständige Bauamt der beklagten Stadt hatte dem Voreigentümer am 27. Oktober 1993 einen Bauvorbescheid erteilt, wonach das gesamte Projekt aus baurechtlicher Sicht genehmigungsfähig sei. Daraufhin erwarben die Kläger im Januar 1994 Teilflächen der zu bebauenden Flurstücke. Am 10. Mai 1994 erteilte die Beklagte ihnen eine Teilungsgenehmigung und am 6. Juni 1994 eine Teilbaugenehmigung für den Vier-Seiten-Bauernhof bis Oberkante Fundament einschließlich Teilfreigabebescheinigung. Die Baugenehmigung folgte am 10. Juni 1994. Nachdem die Beklagte den Klägern am 4. Juli 1994 die Baufreigabe für die Häuser I und II bis Unterkante Decke Erdgeschoß erteilt hatte, begannen die Kläger unverzüglich mit den Bauarbeiten. Auch von der am 20. Oktober 1994 erteilten Baufreigabe für die Häuser I und II bis Oberkante Decke I. Obergeschoß machten die Kläger Gebrauch.
Nördlich an das Baugelände grenzt ein im Eigentum des Landkreises F. als Rechtsnachfolger des Landkreises Fl. stehendes Grundstück, das an den Betreiber einer seit DDR-Zeiten bestehenden Rindermastanlage verpachtet ist. Diese umfaßt drei Ställe für etwa 300 bis 500 Rinder und einen Güllebehälter mit 2.500 m³ Fassungsvermögen. Das Bauvorhaben der Kläger ist von der Anlage etwa 50 bis 100 m entfernt. Der Rechtsvorgänger des Landkreises F. legte am 30. Juni 1994 gegen die Baugenehmigung Widerspruch ein und beantragte am 10. Oktober 1994 die Herstellung von dessen aufschiebender Wirkung. Diesem Antrag gab das Verwaltungsgericht Ch. mit Beschluß vom 14. November 1994, den Klägern am 18. November 1994 zugestellt, statt. Daraufhin untersagte die Beklagte mit Bescheid vom 22. November 1994 die Fortführung der – bereits weit fortgeschrittenen – Bauarbeiten und ordnete die sofortige Vollziehbarkeit dieses Bescheides an. Die Bauarbeiten wurden daraufhin eingestellt. Gegen den Bescheid legten die Kläger am 28. November 1994 Widerspruch ein. Ihre gegen den Beschluß des Verwaltungsgerichts Ch. erhobene Beschwerde wurde durch das Sächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluß vom 3. Juli 1995 zurückgewiesen.
Auf den Widerspruch des Nachbarn hob das Regierungspräsidium Ch. mit Bescheid vom 24. Januar 1996 die Baugenehmigungen auf. Hiergegen legten die Kläger kein Rechtsmittel ein.
Sie nehmen nunmehr die Beklagte aus Amtshaftung und aus anderen Rechtsgründen auf Ersatz des durch das fehlgeschlagene Vorhaben verursachten Schadens in Anspruch.
Die Beklagte hat bestritten, daß ihre Amtsträger rechtswidrig gehandelt hätten, und hat unter anderem eingewendet, die Kläger müßten sich vorrangig an die planenden Architekten halten.
Beide Vorinstanzen haben die Klage, mit der die Kläger zuletzt noch Zahlung von 2.860.766,90 DM nebst Zinsen und die Feststellung begehrt haben, daß die Beklagte zum Ersatz sämtlichen weiteren Schadens verpflichtet sei, abgewiesen. Mit der Revision verfolgen die Kläger ihre Ansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Als Grundlagen für den geltend gemachten Schadensersatzanspruch hat das Berufungsgericht zutreffend die Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) und eine Haftung nach § 1 StHG-DDR in Betracht gezogen.
a) Die Amtsträger des Bauamts der beklagten Stadt hatten gegenüber den Klägern als geschützten „Dritten” die Amtspflicht, ihnen die hier in Rede stehenden begünstigenden Bauverwaltungsakte (Bauvorbescheid, Teilbaugenehmigungen und Teilfreigabebescheinigungen) nicht zu erteilen, wenn und soweit diese gegen die einschlägigen bauplanungsrechtlichen oder bauordnungsrechtlichen Vorschriften verstießen. Dabei ist es unerheblich, daß die Kläger beim Erlaß des Vorbescheides noch nicht Eigentümer der Grundstücke waren; die gegenüber dem seinerzeitigen antragstellenden Grundstücksmiteigentümer wahrzunehmenden Amtspflichten galten auch zugunsten der Kläger als seiner Rechtsnachfolger (st. Rspr.; vgl. z.B. Senatsurteile BGHZ 122, 317, 321 f; vom 23. September 1993 – III ZR 139/92 = NJW 1994, 130, 131; vom 6. Juli 2000 – III ZR 340/98, für BGHZ 144, 394 vorgesehen = NJW 2000, 2996).
b) Die Erteilung eines solchermaßen rechtswidrigen (positiven) Bauverwaltungsaktes konnte zugleich einen Anspruch nach § 1 Abs. 1 StHG-DDR in der Fassung des Einigungsvertrages (Anlage II B Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt III BGBl. 1990 II S. 885, 1168) begründen (vgl. Senatsurteil BGHZ 142, 259, 273). Das StHG ist zwar inzwischen in Sachsen durch das Rechtsbereinigungsgesetz vom 17. April 1998 (SächsGVBl. S. 151) aufgehoben worden; dies betrifft aber nicht solche Rechtsverhältnisse, die – wie hier – zum Stichzeitpunkt bereits entstanden waren. Zu Recht hat das Berufungsgericht etwaige Ansprüche nach dem StHG nicht bereits daran scheitern lassen, daß das an sich erforderliche Vorverfahren (§§ 5 f) nicht durchgeführt worden war. Die Beklagte hatte sich nämlich geweigert, nach § 5 Abs. 3 StHG über Grund und Höhe des Schadensersatzanspruchs zu entscheiden und einen entsprechenden Bescheid zu erteilen; in einem solchen Fall kann und muß der Betroffene unmittelbar Klage beim Zivilgericht erheben (Ossenbühl, Staatshaftungsrecht 5. Aufl. 1998 S. 489; OVG Greifswald NJ 1997, 273; OLG Jena OLGR 1999, 131, 132).
2. In rechtsfehlerfreier tatrichterlicher Würdigung hat das Berufungsgericht das zu bebauende Areal dem unbeplanten Innenbereich der beklagten Stadt zugeordnet und es als Dorfgebiet eingestuft. Bedenken hiergegen werden weder von der Revision noch von der Revisionserwiderung erhoben. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens der Kläger richtete sich somit nach § 34 BauGB i.V.m. §§ 5, 15 BauNVO 1990. Als entscheidender Gesichtspunkt, der der Zulässigkeit des Vorhabens entgegenstehen konnte, kam in Betracht, daß die von den Klägern zu errichtenden Wohnbauten unzumutbaren Belästigungen und Störungen ausgesetzt sein konnten, die von dem benachbarten Rindermastbetrieb ausgingen (§ 15 Abs. 1 Satz 2 zweite Alternative BauNVO).
3. Die Maßstäbe, die an die Zulässigkeit des konkreten Vorhabens der Kläger anzulegen sind (vgl. dazu vor allem BVerwG NVwZ 1993, 1184), hat das Berufungsgericht zutreffend wie folgt festgestellt: Bei der Beurteilung, in welchem Umfang Lärm- und Geruchsimmissionen aus dem landwirtschaftlichen Betrieb von einem mit Wohngebäuden bebauten Grundstück der Kläger hingenommen werden müßten, ist zunächst darauf abzustellen, daß in Dorfgebieten der Schutz des Wohnens grundsätzlich geringer ist als in Wohngebieten. Der Arbeitslärm von Maschinen und Fahrzeugen, die üblichen Gerüche von Ställen, Dungstätten, Güllegruben und Siloanlagen sind als typische Begleiterscheinungen landwirtschaftlicher Betriebe in einem Dorfgebiet innerhalb gewisser Toleranzgrenzen nicht als unzulässige Störung anzusehen. Anderenfalls würde das Dorfgebiet nicht mehr Standort landwirtschaftlicher Betriebe sein können, was es nach der Funktionsbestimmung des § 5 Abs. 1 BauNVO gerade sein soll. Die Reichweite des maßgeblichen Rücksichtnahmegebots, das das Maß der zumutbaren Beeinträchtigungen, die im vorliegenden Falle in der Geruchsbelästigung bestehen, bestimmt, ist deshalb im wesentlichen von der normativ vorgesehenen Privilegierung landwirtschaftlicher Betriebe im Dorfgebiet geprägt. Dieser Privilegierung ist bei der Lösung des Konfliktes bei der an landwirtschaftliche Betriebe heranrückenden Wohnbebauung hinreichend Rechnung zu tragen. Für eine hohe Zumutbarkeitsgrenze hinsichtlich der Beeinträchtigung des Wohnbauvorhabens der Kläger spricht, daß der vom Landkreis F. verpachtete Betrieb sich als ein im Dorfgebiet zulässiger landwirtschaftlicher Betrieb darstellt und die – unstreitig seit Jahren bestehende und betriebene – Rindermastanlage in ihrer derzeitigen Lage, Gestaltung und Ausstattung eine genehmigungsfreie Altanlage und der Güllebehälter als an sich genehmigungsbedürftige Anlage gemäß § 67 a BImSchG ordnungsgemäß angezeigt und daher im Ergebnis bestandsgeschützt sind. In diesem Umfang ist, soweit auf der Grundlage des bisherigen Umfeldes die immissionsschutzrechtlichen Bedingungen eingehalten werden, der Betrieb vor weiteren Auflagen geschützt. Daher hat eine sich annähernde, geplante und empfindsame Bebauung auf ihn Rücksicht zu nehmen. Das Grundstück der Kläger ist situationsbelastet. Bei der Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze kommt es nicht auf das Empfinden des individuell Betroffenen, sondern auf das eines verständigen Durchschnittsmenschen in vergleichbarer Lage an. Damit ergibt sich zugleich, daß Maßstab für die Zumutbarkeit von Nachteilen und Belästigungen deren Ortsüblichkeit ist. Auch die bei der Bebauung eines Grundstücks vorgefundenen Vorbelastungen unterhalb der Gefahrenschwelle einschließlich einer Zunahme, die bereits in der ortsüblichen Situation erkennbar angelegt und voraussehbar war, können die Erheblichkeitsschwelle in der Weise beeinflussen, daß der neu Hinzukommende die vorgefundene Belastung hinnehmen muß. Ebenso trifft es zu, daß die Kläger bewußt eine Wohnbebauung in diese vorbelastete Situation stellen wollten und deshalb ihrerseits geringere Abwehrrechte gegen Immissionen des Rindermastbetriebes hatten.
4. Das Berufungsgericht hat sich nach der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme außerstande gesehen, positive Feststellungen in der einen oder in der anderen Richtung zu treffen, nämlich entweder, daß das Bauvorhaben der Kläger unzumutbaren Geruchsbelästigungen ausgesetzt sei, oder daß es von solchen Belästigungen verschont bleibe. Dieses „non liquet” hat es zu Lasten der insoweit darlegungs- und beweispflichtigen Kläger gehen lassen. Die hiergegen gerichtete Verfahrensrüge der Revision greift durch.
a) Ob unzumutbare Belästigungen oder Störungen vorliegen, ergibt sich aus den Anforderungen, die das Bundes-Immissionsschutzgesetz an die emittierende Anlage stellt. Die Rindermastanlage ist somit so zu betreiben, daß schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind, und daß nach dem Stand der Technik unvermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden (§ 22 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BImSchG). Schädliche Umwelteinwirkungen sind Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen (§ 3 Abs. 1 BImSchG). Der Maßstab der erheblichen Belästigung oder des erheblichen Nachteils liegt dabei unterhalb der Grenze, von der ab Immissionen durch Gerüche eine Gesundheitsgefahr darstellen oder die Nutzung eines Grundstücks in einer Weise einschränken, die mit der Gewährung privatnützigen Eigentums nicht mehr zu vereinbaren sind (BVerwGE 88, 210, 213). Ob Belästigungen im Sinne des Immissionsschutzrechts erheblich sind, richtet sich nach der konkreten Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Rechtsgüter, die sich ihrerseits nach der bebauungsrechtlichen Situation und nach den tatsächlichen oder planerischen Vorbelastungen bestimmen (BVerwG NVwZ 1993, 1184, 1185). Dieser Vorbelastung kommt hier eine besondere Bedeutung deswegen zu, weil die Rindermastanlage nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die nähere Umgebung der zu bebauenden Grundstücke wesentlich prägt.
b) Zutreffend legt das Berufungsgericht weiter dar, daß es bislang keine verbindlichen Vorschriften zur Beurteilung der Frage gibt, ob eine Geruchsimmission im beschriebenen Sinne unzumutbar ist. Die vom gerichtlichen Sachverständigen zur Grundlage seiner Bewertung gemachte Geruchsimmissionsrichtlinie des Landes Sachsen („GIRL” – Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums für Umwelt und Landesentwicklung zur Feststellung und Beurteilung von Geruchsimmissionen vom 16. März 1993, SächsABl. S. 514) ist keine normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift im Sinne der §§ 48, 51 BImSchG, da sie nicht nach den dort vorgesehen besonderen Verfahrensvorschriften von der Bundesregierung erlassen worden ist (vgl. Hansmann NVwZ 1999, 1158, 1160). Dies schließt es indessen nicht aus, sie als Hilfsmittel für die Ermittlung der Geruchsbelästigungen heranzuziehen, zumal sie inzwischen auch in den meisten anderen Bundesländern umgesetzt ist und angewandt wird (Koch, Immissionsschutz 1997, S. 6 ff; vgl. zur GIRL im allgemeinen auch Gablenz, ZMR 2000, 499, 500 ff; Perschau UPR 1998, 248, 249 ff). Die abweichende Auffassung des Berufungsgerichts im Anschluß an SächsOVG SächsVBl. 1998, 292, die GIRL sei für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Geruchsbeeinträchtigungen nicht heranzuziehen, läßt nicht erkennen, daß das Berufungsgericht die erforderliche Sachkunde für eine etwaige Verwerfung der GIRL besitzt; die bloße Bezugnahme auf jene Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts reicht dafür nicht aus. Im übrigen befaßt sich das Oberverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vorrangig mit derrechtlichen Qualität der GIRL und begründet deren angeblich fehlende Eignung für die Ermittlung von Immissionsgrenzwerten lediglich mit dem nicht näher belegten Hinweis darauf, daß sie „durch gewichtige Kreise sachverständiger Personen” abgelehnt werde. Diese Begründung übernimmt das Berufungsgericht ohne eigene sachkundige Prüfung.
c) Im vorliegenden Fall stellte der extrem geringe Abstand zwischen dem Rindermastbetrieb und der von den Klägern geplanten Wohnbebauung, die bis auf 50 m an ihn heranrücken sollte, bereits für sich genommen ein gewichtiges Indiz dafür dar, daß mit unzumutbaren Geruchsbelästigungen gerechnet werden mußte. Auf diesen Gesichtspunkt hatten sowohl das Regierungspräsidium bei der Widerspruchsentscheidung als auch das in deren Vorfeld eingeschaltete Staatliche Umweltfachamt Ch. sowie das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht im Verfahren des einstweiligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes wesentlich abgestellt. Auch das vom Berufungsgericht eingeholte gerichtliche Sachverständigengutachten gelangt zum gleichen Ergebnis.
d) Demgegenüber hält das von der Beklagten vorgelegte Privatgutachten, das auf einem anderen methodischen Ansatz beruht als das gerichtliche, nämlich auf der Verwerfung der GIRL, das Wohnbauvorhaben der Kläger unter immissionsschutzrechtlichen Gesichtspunkten insgesamt für genehmigungsfähig. Bei einer vergleichenden Würdigung beider Gutachten hat das Berufungsgericht nicht den Eindruck gewinnen können, daß dem Privatgutachten ein geringerer Erkenntniswert zukäme als dem gerichtlichen. Im Bewußtsein der Unwägbarkeiten von Immissionsprognosen hat das Berufungsgericht sich sodann einen eigenen Eindruck durch Augenscheinseinnahme verschafft und dabei eine unzumutbare Beeinträchtigung nicht festgestellt.
e) Den Erkenntniswert jener Ortsbesichtigung hat das Berufungsgericht indessen selbst – zutreffend – dahin relativiert, daß ein einziger Termin für eine Augenscheinseinnahme nur einen unvollkommenen Anhalt geben konnte, zumal die Rindermastanlage nicht vollständig belegt war und sich überdies im Sommerbetrieb befand.
f) Zwar unterliegt ein Sachverständigengutachten wie jedes andere Beweismittel der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO); der Tatrichter ist daher nicht gehindert, von einem gerichtlichen Gutachten abzuweichen und einem Privatgutachten den Vorrang zu geben. Da der Sachverständige aber dem Richter gerade die Sachkunde vermitteln soll, die diesem selbst auf einem Spezialgebiet fehlt, muß der Richter prüfen, ob er seine Zweifel an dem Gutachten ohne jede weitere sachverständige Hilfe zur Grundlage des Urteils machen kann. Will er dem Gutachten nicht folgen, so muß er seine abweichende Überzeugung begründen, und diese Begründung muß erkennen lassen, daß die Beurteilung nicht von einem Mangel an Sachkunde beeinflußt ist (vgl. Senatsbeschluß vom 22. Dezember 1992 – III ZR 173/91 = BGHR ZPO § 286 Abs. 1 Sachverständigenbeweis 12; BGH, Urteil vom 21. Januar 1997 – VI ZR 86/96 = NJW 1997, 1446). Hat der Tatrichter die erforderliche Sachkunde nicht, so muß er notfalls ein weiteres Gutachten nach § 412 ZPO einholen (vgl. BGH, Urteile vom 12. Januar 2001 – V ZR 420/99 – zur Veröffentlichung vorgesehen; vom 9. Mai 1989 – VI ZR 268/88 = NJW 1989, 2948, 2949). Vorhandene weitere Aufklärungsmöglichkeiten müssen deshalb genutzt werden, wenn sie sich anbieten und Erfolg versprechen. Dies gilt auch dann, wenn der Tatrichter meint, keiner der Sachverständigen habe mehr überzeugt als der andere, so daß keinem der Vorzug zu geben sei. Dies mag im Einzelfall ein vertretbares Ergebnis der vorzunehmenden Beweiswürdigung sein. Diese muß aber erkennen lassen, daß die widersprechenden Ansichten der Sachverständigen gegeneinander abgewogen worden sind und daß sich nach Herausarbeitung der abweichenden Standpunkte keine weiteren Aufklärungsmöglichkeiten ergeben haben (BGH, Urteil vom 23. September 1986 – VI ZR 261/85 = BGHR ZPO § 412 Gutachten, widersprechende 1). Das Fehlen derartiger weiterer Aufklärungsmöglichkeiten hat das Berufungsgericht indessen nicht festgestellt. Insbesondere kann es nicht ausgeschlossen werden, daß es Personen oder Institute gibt, die über Forschungsmethoden verfügen, welche denjenigen der beiden widerstreitenden Sachverständigen überlegen sind, etwa auf Immissionsschutz spezialisierte Universitätsinstitute.
5. Die aufgezeigten Rechts- und Verfahrensfehler, die darin bestehen, daß die erforderliche Sachkunde des Berufungsgerichts für eine etwaige Verwerfung der GIRL nicht hinreichend dargelegt ist und daß die Voraussetzungen für eine „non liquet”-Entscheidung nicht festgestellt sind, nötigen zur Aufhebung des Berufungsurteils. Denn die Klageabweisung erweist sich auch nicht mit anderer Begründung als richtig. Insbesondere kommt – entgegen der Auffassung des Landgerichts – hier eine anderweitige Ersatzmöglichkeit in Form eines Schadensersatzanspruchs gegen die planenden Architekten (§ 839 Abs. 1 Satz 2 BGB, § 3 Abs. 3 StHG) nicht in Betracht. Eine zum Schadensersatz verpflichtende Vertragsverletzung der Architekten ist nämlich nicht erkennbar. Zwar schuldeten die Architekten eine genehmigungsfähige Planung. Die Bewältigung schwieriger immissionsschutzrechtlicher Belange konnte indessen von ihnen nicht verlangt werden (vgl. Senatsbeschluß vom 29. März 1990 – III ZR 145/88 = BGHR BGB § 839 Abs. 1 Satz 2, Bauunternehmer 1, betreffend einen Bauunternehmer). Ihren vertraglichen Pflichten sind die Architekten – nach dem dem Revisionsverfahren zugrunde zu legenden Sachvortrag der Kläger – hier dadurch in ausreichendem Maße nachgekommen, daß sie die Bauherren auf die bauplanungsrechtlichen, insbesondere immissionsschutzrechtlichen Probleme hingewiesen und angeregt hatten, speziell zur Klärung dieser Fragen einen Bauvorbescheid einzuholen.
6. Sollten die somit vorzunehmenden weiteren Prüfungen zu dem Ergebnis führen, daß die GIRL entgegen der bisherigen Auffassung des Berufungsgerichts doch eine taugliche Grundlage für die Ermittlung der Geruchsimmissionen bildet, so wird zu prüfen sein, ob eine Amtspflichtwidrigkeit bei der Erteilung der hier in Rede stehenden Bauverwaltungsakte nicht bereits darin bestehen konnte, daß die Amtsträger der Bauaufsichtsbehörde die GIRL bei ihren Entscheidungen unberücksichtigt gelassen haben. Sie war nämlich aufgrund ihres Einführungserlasses von den sächsischen Behörden zu beachten (Hansmann aaO). Im Amtshaftungsrecht ist anerkannt, daß externe Amtspflichten auch durch Verwaltungsvorschriften begründet werden können (Ossenbühl aaO S. 42 f m.w.N.). Jedoch wird, auch wenn eine Amtspflichtverletzung oder ein Haftungstatbestand nach dem StHG festgestellt werden sollte, ein mitwirkendes Verschulden der Kläger zu prüfen sein, und zwar hinsichtlich derjenigen Aufwendungen, die sie in Kenntnis des Nachbarwiderspruchs getätigt haben. Zwar entfällt ein einmal begründetes schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand einer erteilten Baugenehmigung nicht schon ohne weiteres völlig mit der Anfechtung dieser Genehmigung durch einen Dritten; indessen wird ab dem Vorliegen von Drittanfechtungen grundsätzlich eine größere Eigenverantwortung des Bauherrn unter dem Gesichtspunkt des § 254 BGB oder des § 2 StHG anzunehmen sein. Ist zulässigerweise Widerspruch eingelegt, verbunden mit dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, so hat der Bauherr die Möglichkeit der Rechtswidrigkeit der ihm erteilten Genehmigung jedenfalls dann ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn Anfechtungsgründe vorgebracht werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. Setzt der Bauherr in einer solchen Situation sein Vorhaben entsprechend der Genehmigung fort, ohne die Entscheidung des Gerichts über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwarten, so nimmt er das in der Drittanfechtung liegende Risiko bewußt auf sich (Senatsurteil vom 16. Januar 1997 – III ZR 117/95 – WM 1997, 375, 393; insoweit in BGHZ 134, 268 nicht abgedruckt).
Unterschriften
Rinne, Wurm, Schlick, Dörr, Galke
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 21.06.2001 durch Freitag Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
NJW 2001, 3054 |
BGHR 2001, 633 |
BGHR |
BauR 2001, 1566 |
BauR 2001, 1798 |
EBE/BGH 2001, 242 |
NVwZ 2002, 122 |
EWiR 2002, 61 |
IBR 2001, 497 |
IBR 2001, 511 |
Nachschlagewerk BGH |
WM 2001, 1727 |
MDR 2001, 1293 |
NJ 2001, 594 |
VersR 2001, 1425 |
ZUR 2002, 112 |
ZfBR 2001, 552 |
BRS 2002, 662 |
BayVBl. 2002, 536 |
DVBl. 2001, 1435 |
GV/RP 2002, 175 |
KomVerw 2002, 104 |
NZBau 2001, 556 |
UPR 2001, 438 |
FuHe 2002, 86 |