Leitsatz (amtlich)

a) Im Rahmen der analogen Anwendung von § 839a BGB auf Sachverständigengutachten in staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren ist die Anklageerhebung als eine "gerichtliche Entscheidung" im Sinne dieser Vorschrift anzusehen (Bestätigung und Fortführung von Senat, Urt. v. 6.3.2014 - III ZR 320/12, BGHZ 200, 253).

b) Das Recht des Angeschuldigten, im Zwischenverfahren Beweisanträge zu stellen und Einwendungen vorzubringen, ist ein "Rechtsmittel" i.S.v. § 839a Abs. 2 i.V.m. § 839 Abs. 3 BGB.

c) Ein Rechtsmittel muss möglich, zumutbar und erfolgversprechend sein, damit sein Nichtgebrauch zu einem Anspruchsverlust führt; liegen diese Voraussetzungen aus der begründeten Sicht des Geschädigten nicht vor, so stellt sich der Nichtgebrauch des Behelfs nicht als schuldhaft dar. Dementsprechend fehlt es am Verschulden, wenn der Geschädigte davon ausgehen durfte, sämtliche konkret zumutbaren und erfolgversprechenden Behelfe gegen das einer Anklage zugrunde liegende Gutachten ergriffen zu haben.

 

Normenkette

BGB §§ 839a, 839 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LG Heidelberg (Urteil vom 08.06.2018; Aktenzeichen 1 S 41/17)

AG Heidelberg (Urteil vom 30.08.2017; Aktenzeichen 28 C 79/15)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des LG Heidelberg - 1. Zivilkammer - vom 8.6.2018 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Der Kläger verlangt von der Beklagten unter dem Vorwurf der grob fahrlässigen Erstellung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens in einem Ermittlungsverfahren den Ersatz immaterieller Schäden.

Rz. 2

Der Kläger ist Vater eines im Mai 2000 geborenen Sohnes und einer im September 2002 geborenen Tochter. Aufgrund einer im Juli 2009 erstatteten Strafanzeige seiner damaligen Ehefrau leitete die Staatsanwaltschaft gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil seiner Tochter ein. Im Ermittlungsverfahren wurden die seinerzeitige Ehefrau des Klägers und dessen Kinder als Zeugen vernommen. Hiernach stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts mit der Begründung ein, dass es an geeignetem Aussagematerial fehle.

Rz. 3

Auf die Beschwerde der damaligen Ehefrau des Klägers hob die Generalstaatsanwaltschaft die Einstellungsverfügung mit dem Hinweis auf, dass ein aussagepsychologisches Fachgutachten einzuholen sei. Daraufhin beauftragte die Staatsanwaltschaft die Beklagte, eine Diplom-Psychologin, mit der Erstellung eines aussagepsychologischen Gutachtens. Nach Exploration der Tochter des Klägers legte die Beklagte unter dem 28.12.2010 ein "Vorläufiges psychologisches Sachverständigengutachten" vor, in dem sie zu dem Ergebnis gelangte, dass sämtliche Alternativhypothesen mit hoher Wahrscheinlichkeit zurückgewiesen werden könnten und der Aussage des Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit subjektive Erlebnisse in der Wachwirklichkeit zugrunde lägen.

Rz. 4

Gestützt auf dieses Sachverständigengutachten erhob die Staatsanwaltschaft am 18.1.2011 gegen den Kläger Anklage wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen (§§ 176 Abs. 1, 53 StGB). Mit Schriftsatz vom 21.3.2011 beantragte der Strafverteidiger des Klägers, das Hauptverfahren nicht zu eröffnen; zur Begründung führte er unter Beifügung von Auszügen aus der Fachliteratur aus, dass das Gutachten der Beklagten fundamentale Fehler aufweise und daher unverwertbar sei. Mit weiterem Schriftsatz vom 29.3.2011 legte er eine methodenkritische Stellungnahme der Diplom-Psychologin A. vom 26.3.2011 vor, die dem Gutachten der Beklagten gravierende Mängel vorhielt und schlussfolgerte, dass dieses forensisch nicht verwertbar sei. Einen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens stellte der Verteidiger nicht. Auch gingen in den folgenden Monaten keine weiteren Schreiben oder Anträge des Verteidigers ein.

Rz. 5

Mit Beschluss vom 7.12.2011 eröffnete das LG das Hauptverfahren. Nach Bestimmung der Hauptverhandlungstermine teilte der Vorsitzende Richter dem Verteidiger des Klägers am 30.1.2012 mit, dass die Strafkammer von sich aus kein zweites Glaubwürdigkeitsgutachten einholen werde. Der Verteidiger des Klägers lud daraufhin die Aussagepsychologin A. als präsente Sachverständige zur Hauptverhandlung. In der Hauptverhandlung am 23. und 24.2.2012 ließ sich der Kläger (dortige Angeklagte) zur Sache ein, wurde seine damalige Ehefrau als Zeugin vernommen und äußerten sich die Beklagte sowie die Psychologin A. als Sachverständige. Die Beklagte revidierte ihr schriftliches Gutachten, und auf allseitigen Antrag wurde der Kläger aus tatsächlichen Gründen - rechtskräftig - freigesprochen.

Rz. 6

Der Kläger hat geltend gemacht, die Beklagte habe grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten erstellt. Sie habe erkennen müssen, dass es an geeignetem Aussagematerial fehle. Durch das Strafverfahren sei ihm ein immaterieller Schaden entstanden. Er habe unter einer schweren Belastungsreaktion gelitten und psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Dies wäre ihm bei richtiger Gutachtenerstattung durch die Beklagte erspart geblieben. Auch hätte er dann ein Jahr früher wieder Kontakt zu seiner Tochter haben können.

Rz. 7

Die Beklagte ist diesen Vorwürfen entgegengetreten. Sie hat bestritten, dass die vom Kläger geschilderten Beeinträchtigungen auf die Durchführung des Hauptverfahrens zurückgegangen seien, und gemeint, der Kläger habe im Zwischenverfahren einen förmlichen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens stellen müssen.

Rz. 8

Das AG hat die Beklagte nach Beweisaufnahme zur Zahlung eines Schmerzensgelds von 5.000 EUR nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten verurteilt. Auf ihre hiergegen eingelegte Berufung hat das LG das Ersturteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 9

Die Revision ist insgesamt zulässig. Eine Beschränkung der Revisionszulassung, etwa auf die Folgen des Eröffnungsbeschlusses, geht aus dem Berufungsurteil nicht mit der gebotenen Deutlichkeit hervor, so dass die Zulässigkeit einer derartigen Beschränkung offenbleiben kann.

Rz. 10

Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

Rz. 11

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

Rz. 12

Zwar habe die Beklagte grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten erstattet. Dieses Gutachten sei auch für die Eröffnung des Hauptverfahrens - als "gerichtliche Entscheidung" i.S.v. § 839a Abs. 1 BGB - ursächlich gewesen. Allerdings sei der Anspruch des Klägers gem. § 839a Abs. 2 i.V.m. § 839 Abs. 3 BGB ausgeschlossen, weil er im Zwischenverfahren keinen Beweisantrag auf Einholung eines erneuten Sachverständigengutachtens gestellt, sondern nur eine methodenkritische (Privat-)Stellungnahme zu dem Gutachten der Beklagten vorgelegt habe. Letzteres genüge den Anforderungen des § 839 Abs. 3 BGB nicht. Der Kläger müsse sämtliche zur Korrektur des unrichtigen Sachverständigengutachtens zur Verfügung stehenden innerprozessualen Behelfe schon vor Abschluss der jeweiligen Instanz ausschöpfen, um den Anforderungen nach §§ 839a Abs. 2, 839 Abs. 3 BGB gerecht zu werden. Dazu gehörten nicht nur Gegenvorstellungen und Hinweise auf die Unrichtigkeit des Gutachtens, sondern auch Anträge, den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu laden oder die Stellung eines formellen Beweisantrags auf Einholung eines neuen (Ober-)Gutachtens. Diese weitreichende Pflicht zum Tätigwerden bestehe nicht nur im Zivilprozess, sondern auch im Strafverfahren. § 839 Abs. 3 BGB sei Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes, dass ein Dulden und Liquidieren nicht möglich sein solle, vielmehr Verletzungen und Schäden frühestmöglich verhindert werden müssten, indem der Betroffene alles unternehme, um sie zu vermeiden. Dazu zähle auch das Stellen von förmlichen Beweisanträgen im Zwischenverfahren. Hier habe der Kläger daher, um alle innerprozessualen Rechtsbehelfe auszuschöpfen, bereits im Zwischenverfahren gem. § 201 StPO einen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens stellen müssen. Wegen der Begründungspflicht bei Ablehnung des Beweisantrags sei davon auszugehen, dass sich die Strafkammer im Falle eines förmlichen Beweisantrags intensiv mit den aufgezeigten Mängeln des Gutachtens der Beklagten und der Frage, ob sich hieraus ein hinreichender Tatverdacht ableiten lasse, auseinandergesetzt hätte. Bei pflichtgemäßem Vorgehen der Strafkammer wäre die Verwertbarkeit des fehlerhaften Gutachtens als Grundlage für die Eröffnung des Hauptverfahrens beseitigt worden. Den Kläger bzw. dessen Strafverteidiger treffe an der Versäumung des Rechtsbehelfs auch ein Verschulden. Der Strafverteidiger des Klägers habe sich bewusst gegen die Stellung eines förmlichen Beweisantrags im Zwischenverfahren und für eine Sistierung der Aussagepsychologin A. in der Hauptverhandlung entschieden. Er habe nach Einreichung der methodenkritischen Stellungnahme bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens nichts weiter unternommen, insb. weder auf die hier vorgetragenen psychischen Belastungen seines Mandanten hingewiesen noch auf eine zügige Ablehnung der Eröffnung der Hauptverhandlung mangels Belastbarkeit des Glaubhaftigkeitsgutachtens der Beklagten gedrängt. Er habe damit die zeitliche Verzögerung ebenso geduldet und hingenommen wie die sich abzeichnende Gefahr, dass das Hauptverfahren auf der Grundlage des Gutachtens der Beklagten zunächst eröffnet und der hinreichende Tatverdacht erst in der Hauptverhandlung ausgeräumt werde. Das Verschulden seines Strafverteidigers müsse sich der Kläger im Haftungsprozess zurechnen lassen.

II.

Rz. 13

1. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht in allen Punkten stand.

Rz. 14

a) Zutreffend hat das Berufungsgericht auf einen Anspruch nach § 839a BGB abgestellt. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, ist diese Vorschrift auf die Gutachtenerstattung in einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren analog anzuwenden (Senat, Urt. v. 6.3.2014 - III ZR 320/12, BGHZ 200, 253, 257 ff. Rz. 20 ff.).

Rz. 15

b) Nicht zu beanstanden ist ferner die Würdigung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten erstattet. Hierzu erhebt die Beklagte auch keine Gegenrügen.

Rz. 16

c) Ebenso rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht die Kausalität des Gutachtens für den Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens bejaht. Zu Recht weist die Revision allerdings darauf hin, dass nicht allein der gerichtliche Eröffnungsbeschluss (§ 203 StPO), sondern auch die ihm vorangegangene Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft (§§ 151, 152 Abs. 1, 170 Abs. 1 StPO) durch das Gutachten der Beklagten herbeigeführt worden ist und dass die Anklageerhebung im Rahmen der analogen Anwendung von § 839a BGB eine "gerichtliche Entscheidung" im Sinne dieser Vorschrift ist.

Rz. 17

aa) Der analogen Anwendung von § 839a BGB auf Sachverständigengutachten in staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren liegt - neben der organisatorischen und institutionellen Nähe und der engen verfahrensrechtlichen Verbindung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht - der Gedanke zugrunde, dass die Rechtsstellung des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren im Wesentlichen derjenigen eines solchen im Gerichtsverfahren entspricht (Senat, a.a.O.); insb. ist der Sachverständige hier wie dort gehalten, den Gutachtenauftrag zu übernehmen und auszuführen (§§ 75, 161a Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO). Anders als die Revisionserwiderung meint, spricht nicht gegen die analoge Anwendung von § 839a BGB im Ermittlungsverfahren, dass die Regelung der Verhinderung einer ansonsten bestehenden ungerechtfertigten Haftungsprivilegierung des Sachverständigen dient. Vielmehr ist sie im Gegenteil mit bestimmten Haftungserleichterungen zu dessen Gunsten verbunden, nämlich mit der Beschränkung der Haftung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit und dem Haftungsausschluss bei schuldhaftem Nichtgebrauch eines Rechtsmittels. Hierdurch trägt sie dem Umstand Rechnung, dass der Sachverständige den gerichtlichen oder staatsanwaltschaftlichen Gutachtenauftrag grundsätzlich nicht ablehnen und seine Arbeit nur nach den gesetzlichen Vergütungsbestimmungen abrechnen darf, seine Tätigkeit zudem gefahrenträchtig ist und er das damit verknüpfte Haftungsrisiko zu angemessenen Prämien versichern können muss.

Rz. 18

bb) Mit der analogen Anwendbarkeit von § 839a BGB auf das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren geht einher, dass als "gerichtliche Entscheidung" im Sinne dieser Vorschrift auch die Anklageerhebung anzusehen ist. Die (analoge) Anwendung von § 839a BGB ist auch dann eröffnet, wenn es nach der Anklageerhebung nicht zur Eröffnung des Hauptverfahrens kommt (§ 204 StPO). Bereits die - auf ein (unrichtiges) Sachverständigengutachten zurückgehende - Anklageerhebung als solche kann erhebliche Nachteile für den Angeschuldigten mit sich bringen, die eine Schadensersatzpflicht des Sachverständigen begründen können. Ein sachlicher Grund dafür, in diesen Fällen eine andere Haftungsregelung anzuwenden als im Falle der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 203 StPO), ist nicht ersichtlich. Der Zweck des § 839a BGB gebietet in der einen wie in der anderen Fallgestaltung die Anwendung dieser Norm.

Rz. 19

cc) Der Einwand der Revisionserwiderung, dass dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft grundsätzlich keine förmlichen Rechtsbehelfe zur Verfügung stünden, betrifft einen Umstand, der einen Anspruchsausschluss nach § 839a Abs. 2 i.V.m. § 839 Abs. 3 BGB erschweren mag, hindert aber nicht die Anwendbarkeit von § 839a BGB. Ohne Erfolg bleibt auch der Hinweis der Revisionserwiderung, dass das Richterspruchprivileg des § 839 Abs. 2 BGB für Entscheidungen der Staatsanwaltschaft nicht gelte. Der Anwendungsbereich des § 839a BGB beschränkt sich nicht auf solche gerichtlichen Entscheidungen, die diesem Privileg unterfallen, sondern umfasst sämtliche gerichtlichen Entscheidungen (s. nur BeckOGK/Dörr, BGB § 839a Rz. 45 [Stand: 1.9.2019]; Wagner in MünchKomm/BGB, 7. Aufl., § 839a Rz. 23; jeweils m.w.N.). Auf § 839 Abs. 2 BGB kommt es in diesem Zusammenhang dementsprechend nicht an.

Rz. 20

d) Zu Recht beanstandet die Revision den vom Berufungsgericht angenommenen Anspruchsausschluss wegen schuldhaften Nichtgebrauchs eines Rechtsmittels gem. § 839a Abs. 2 i.V.m. § 839 Abs. 3 BGB.

Rz. 21

aa) Soweit die immateriellen Schäden des Klägers bereits auf die Anklageerhebung selbst - unabhängig von dem nachfolgenden Eröffnungsbeschluss - zurückzuführen sind, kann der Klageanspruch nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass der Kläger im Zwischenverfahren keinen Beweisantrag gestellt habe, weil ein solcher den Eintritt dieser Schäden nicht verhindert hätte.

Rz. 22

bb) Aber auch, soweit immaterielle Schäden erst durch den Eröffnungsbeschluss und das anschließende Hauptverfahren hervorgerufen worden sind, kann dem Kläger nicht entgegengehalten werden, dass er schuldhaft ein Rechtsmittel versäumt und deshalb sein Anspruch - in diesem Umfang - gem. § 839a Abs. 2 i.V.m. § 839 Abs. 3 BGB nicht begründet sei.

Rz. 23

(1) Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass als "Rechtsmittel" im Sinne dieser Vorschriften insb. auch solche Behelfe in Betracht kommen, die sich unmittelbar gegen das fehlerhafte Gutachten selbst richten und die bestimmt und geeignet sind, eine auf das Gutachten gestützte gerichtliche Entscheidung zu verhindern. Hierzu zählen etwa Gegenvorstellungen und Hinweise auf die Unrichtigkeit des Gutachtens (s. z.B. § 411 Abs. 4 ZPO), Anträge, den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu laden, und formelle Beweisanträge auf Einholung eines neuen (Ober-)Gutachtens gem. § 412 Abs. 1 ZPO; der Geschädigte muss sämtliche zur Korrektur des unrichtigen Sachverständigengutachtens zur Verfügung stehenden innerprozessualen Behelfe ausschöpfen, will er einen Ausschluss seines Anspruchs vermeiden (s. hierzu Senat, Beschl. v. 28.7.2006 - III ZB 14/06 NJW-RR 2006, 1454, 1455 Rz. 11; Urt. v. 5.7.2007 - III ZR 240/06, BGHZ 173, 98, 100 ff. Rz. 8 ff. und Beschl. v. 27.7.2017 - III ZR 440/16 VersR 2017, 1285, 1286 Rz. 6; s. auch Dörr, a.a.O., Rz. 64, 65; Wagner, a.a.O., Rz. 38; Geigel/Knerr, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 35 Rz. 13). Nach diesen Grundsätzen, die auf den strikten Vorrang des Primärrechtsschutzes vor dem Sekundärrechtschutz zurückgehen, als "Rechtsmittel" einzuordnen ist auch das in § 201 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 StPO angesprochene Recht des Angeschuldigten, im Zwischenverfahren Beweisanträge zu stellen und Einwendungen vorzubringen. Denn auch hierbei handelt es sich um innerprozessuale Behelfe, die bestimmt und geeignet sind, eine auf das Gutachten gestützte gerichtliche Entscheidung (hier: die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 203 StPO) zu verhindern.

Rz. 24

(2) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist dem Kläger jedoch nicht als Verschulden anzulasten, dass sein Strafverteidiger im Zwischenverfahren keinen förmlichen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens (§ 201 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 StPO) gestellt hat.

Rz. 25

(a) Der Nichtgebrauch des Rechtsmittels muss dem Geschädigten im Sinne eines "Verschuldens gegen sich selbst" vorwerfbar sein (Dörr, a.a.O., Rz. 72). Daran fehlt es, wenn er - bzw. der von ihm beauftragte Rechtsanwalt, dessen Verhalten er sich insoweit gem. §§ 254 Abs. 2 Satz 2, 278 BGB zurechnen lassen muss (BeckOGK/Dörr, BGB § 839 Rz. 702 und § 839a Rz. 74 [jeweiliger Stand: 1.9.2019]; MünchKomm/BGB/Papier/Shirvani, 7. Aufl., § 839 Rz. 335) - davon ausgehen durfte, sämtliche konkret zumutbaren und erfolgversprechenden Behelfe gegen das Gutachten ergriffen zu haben. Ein Rechtsmittel muss möglich, zumutbar und erfolgversprechend sein, damit sein Nichtgebrauch zu einem Anspruchsverlust führt; liegen diese Voraussetzungen aus der begründeten Sicht des Geschädigten nicht vor, so stellt sich der Nichtgebrauch des Behelfs nicht als schuldhaft dar (vgl. Senat, Beschlüsse vom 29.1.2009 - III ZR 182/08, BeckRS 2009, 6398 Rz. 2; v. 30.6.2016 - III ZR 316/15, NVwZ-RR 2016, 917 Rz. 2; Dörr, a.a.O., § 839 Rz. 704).

Rz. 26

(b) Letzteres ist hier der Fall. Der Kläger und sein Strafverteidiger durften ohne Fahrlässigkeit annehmen, mit den Ausführungen in den Schriftsätzen vom 21. und 29.3.2011 unter Beifügung von Auszügen aus der Fachliteratur und der methodenkritischen Stellungnahme der Diplom-Psychologin A. vom 26.3.2011 sämtliche konkret zumutbaren und erfolgversprechenden Behelfe gegen das Gutachten der Beklagten ergriffen zu haben und dass ein förmlicher Beweisantrag keine weiterreichende Aussicht auf die Abwendung der Eröffnung des Hauptverfahrens geboten hätte.

Rz. 27

(aa) Das Strafgericht ist von Amts wegen verpflichtet, sich mit den Einwänden des Angeschuldigten zu befassen und über die Einholung weiterer Beweise im Zwischenverfahren zu befinden (§§ 201 Abs. 2 Satz 1, 202 Satz 1, 244 Abs. 2 StPO). Ebenso wie bei der Bescheidung eines förmlichen Beweisantrags ist es dabei nicht an die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 bis 5 StPO gebunden (s. etwa MüKoStPO/Wenske, 1. Aufl., § 201 Rz. 25, 31 f.; KK/StPO/Schneider, 8. Aufl., § 201 Rz. 12, 18); seine hierzu ergehende Entscheidung ist unanfechtbar (§§ 201 Abs. 2 Satz 2, 202 Satz 2 StPO), und diesbezügliche Fehler sind nicht revisibel (§ 336 Satz 2 Alt. 1 StPO; Schneider, a.a.O., Rz. 22). Das Zwischenverfahren richtet sich maßgeblich nach der Aktenlage und verlangt anhand der hierdurch dokumentierten Ermittlungsergebnisse eine Verdachtsprüfung. Es ist nicht der Ort für umfassende Beweisaufnahmen. Diese bleiben regelmäßig der von den Grundsätzen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit beherrschten Hauptverhandlung vorbehalten, die vom Zwischenverfahren nicht vorweggenommen werden soll ("keine Hauptverhandlung vor der Hauptverhandlung"); eine umfassende Beweisaufnahme im Zwischenverfahren läuft Gefahr, zu erheblichen Verfahrensverzögerungen, doppelten Beweiserhebungen und Mehrfachbelastungen aller Verfahrensbeteiligten, insb. auch der möglichen Tatopfer, zu führen (vgl. BGH, Beschl. v. 30.3.2001 - StB 4, 5/01, BGHSt 46, 349, 352 f.; Wenske, a.a.O., Rz. 32; s. auch Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., vor § 198 Rz. 23).

Rz. 28

(bb) Vor diesem Hintergrund durften der Kläger und sein Strafverteidiger ohne Verschulden von der Stellung eines förmlichen Beweisantrags im Zwischenverfahren absehen. Sie konnten insb. davon ausgehen, dass ein solcher Antrag - dessen Ablehnung unanfechtbar und an die Voraussetzungen des § 244 Abs. 3 bis 5 StPO nicht gebunden gewesen wäre - keine bessere Aussicht auf eine Verhinderung der Eröffnung des Hauptverfahrens geboten hätte. Der - substantiierte - Angriff auf das aussagepsychologische Gutachten der Beklagten zielte darauf ab, dem Gutachten selbst und damit auch dem für die Eröffnung des Hauptverfahrens erforderlichen hinreichenden Tatverdacht (§ 203 StPO) die Grundlage zu entziehen und hierdurch einen alsbaldigen Nichteröffnungsbeschluss herbeizuführen. Dieses Vorgehen reichte zur Verteidigung aus, denn der Kläger war als Angeschuldigter nicht gehalten, seine Unschuld zu beweisen. Der Antrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens - mit nochmaliger Exploration des mutmaßlichen Tatopfers - hätte demgegenüber die Gefahr einer Vorwegnahme der Hauptverhandlung und einer mehrfachen Beweiserhebung mit entsprechenden zeitlichen Verzögerungen und Mehrbelastungen für sämtliche Verfahrensbeteiligten mit sich gebracht. Damit, dass das Strafgericht in dieser Weise verfahren würde, brauchte daher nicht gerechnet zu werden. Zudem hätte gerade diese Verfahrensweise zu einer längerdauernden Belastung des Klägers führen können. Dies hat das Berufungsgericht bei seinem Vorwurf, der Verteidiger des Klägers habe mit seinem Vorgehen eine Verfahrensverzögerung - bewusst - "hingenommen", nicht berücksichtigt.

Rz. 29

(cc) Der schuldhafte Nichtgebrauch eines Rechtsmittels kann auch nicht - wie die Revisionserwiderung meint - daraus hergeleitet werden, dass der Kläger (bzw. sein Strafverteidiger) keinen Antrag auf mündliche Erläuterung des Gutachtens der Beklagten gestellt habe. Zwar hat der erkennende Senat es für vorwerfbar gehalten, wenn der Geschädigte sich auf ausführliche schriftsätzliche Einwände unter Beifügung privatgutachterlicher Stellungnahmen beschränkt und es unterlassen hat, die mündliche Befragung des Sachverständigen und die Erläuterung seines Gutachtens zu beantragen (Senat, Urteil vom 5.7.2007, a.a.O., S. 101 Rz. 10 und S. 102 f Rz. 13). Dabei ging es jedoch nicht um ein Zwischenverfahren im Strafprozess, sondern um einen Zivilprozess, der einen entsprechenden Verfahrensabschnitt nicht kennt. Jenes richtet sich, wie ausgeführt, maßgeblich nach der Aktenlage; eine umfassende Beweisaufnahme findet regelmäßig erst in der Hauptverhandlung statt, die vom Zwischenverfahren nicht vorweggenommen werden soll. Dies steht der Vernehmung eines Sachverständigen im Zwischenverfahren grundsätzlich entgegen. Diese hätte ebenso wie die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens die Gefahr einer Vorwegnahme der Hauptverhandlung und einer mehrfachen Beweiserhebung mit entsprechenden zeitlichen Verzögerungen und Mehrbelastungen für sämtliche Verfahrensbeteiligten mit sich gebracht. Der Kläger und sein Verteidiger handelten demzufolge nicht schuldhaft, wenn sie davon absahen, die Vernehmung der Beklagten im Zwischenverfahren zu beantragen.

Rz. 30

2. Das Berufungsurteil ist nach alldem aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil das Berufungsgericht zu Art und Umfang des eingetretenen immateriellen Schadens und der Bemessung der Entschädigung des Klägers keine eigenen Feststellungen getroffen hat und die Sache deshalb nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 13546970

NJW 2020, 1592

JurBüro 2020, 54

MDR 2020, 221

VersR 2020, 433

DVBl. 2020, 638

StV 2020, 464

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