Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsätze des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfall
Leitsatz (amtlich)
Zum Anscheinsbeweis bei einem Auffahrunfall beim Verlassen der Autobahn.
Normenkette
StVG § 18 Abs. 3, § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 1; StVG § 18 Abs. 1; ZPO § 286
Verfahrensgang
LG Aachen (Urteil vom 08.01.2010; Aktenzeichen 6 S 168/09) |
AG Aachen (Entscheidung vom 01.10.2009; Aktenzeichen 117 C 133/09) |
Tenor
Die Revision der Klägerin und der Widerbeklagten gegen das Urteil der 6. Zivilkammer des LG Aachen vom 8.1.2010 wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Revisionsverfahrens tragen die Klägerin 3/5 und die Widerbeklagten zu 1) und 2) als Gesamtschuldner 2/5.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien machen mit Klage und Widerklage wechselseitig Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 5.11.2008 auf der Ausfahrt einer Bundesautobahn ereignet hat. Der Beklagte zu 1) befuhr mit dem Fahrzeug des Widerklägers, einem Opel Astra, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, die Autobahn und wechselte an der Ausfahrt auf den Verzögerungsstreifen, um dort die Autobahn zu verlassen. Der Widerbeklagte zu 1) befand sich mit dem Fahrzeug der Klägerin, einem VW-Bus, der bei der Widerbeklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, zunächst hinter dem Beklagten zu 1), überholte diesen jedoch im weiteren Verlauf, wobei der konkrete zeitliche Ablauf zwischen den Parteien streitig ist. In der lang gezogenen Ausfahrt bremste der Widerbeklagte zu 1) den VW-Bus dann plötzlich bis zum Stillstand ab, wobei der Beklagte zu 1) nicht mehr rechtzeitig zu reagieren vermochte und mit dem Opel Astra auf das Fahrzeug der Klägerin auffuhr. Hierdurch wurde der VW-Bus hinten rechts und der Opel Astra vorne links beschädigt. Die Klägerin und die Widerbeklagten haben behauptet, der Widerbeklagte zu 1) habe mit dem VW-Bus den Opel Astra bereits 300m vor der Ausfahrt überholt. Der spätere Unfall habe hiermit in keinem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang gestanden. Die Beklagten und die Widerkläger haben behauptet, der Verkehrsunfall sei dadurch verursacht worden, dass der Widerbeklagte zu 1) mit dem VW-Bus, der ihn zuvor überholt habe, unvermittelt wieder auf die rechte Spur vor den vom Beklagten zu 1) geführten Opel Astra gewechselt sei.
Rz. 2
Das AG hat der Klage und der Widerklage jeweils zur Hälfte stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Klägerin und der Widerbeklagten hatte lediglich hinsichtlich des Kostenausspruchs teilweise Erfolg. Im Übrigen hat das LG die Berufung zurückgewiesen. Es hat die Revision im Hinblick auf die in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstrittene Frage der Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfällen zugelassen. Mit ihrer Revision verfolgen die Klägerin und die Widerbeklagten ihr Klage- bzw. Klageabweisungsbegehren weiter, soweit das Berufungsgericht zu ihrem Nachteil entschieden hat.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 3
Das Berufungsgericht hat sich gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Feststellungen des AG gebunden gesehen, welches nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme den von der Beklagtenseite behaupteten Spurwechsel für ebenso wahrscheinlich hielt, wie den von der Klägerseite behaupteten Unfallhergang. Gegen den Beklagten zu 1) spreche insb. nicht der Beweis des ersten Anscheins. Allein das Kerngeschehen eines Heckanstoßes als solches reiche als Grundlage eines Anscheinsbeweises dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt seien, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprächen. Im Fall eines unstreitig oder erwiesenermaßen unmittelbar zuvor erfolgten Spurwechsels des Vorausfahrenden spreche der Beweis des ersten Anscheins nicht gegen den Auffahrenden, sondern vielmehr dafür, dass der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO die Fahrspur gewechselt habe. In der Rechtsprechung der OLG sei umstritten, ob ein (behaupteter) vorheriger Spurwechsel des Vorausfahrenden schon die Typizität des Auffahrunfalls in Frage stelle oder lediglich auf der nachfolgenden Stufe den Anscheinsbeweis erschüttere. Dabei verdiene die Auffassung den Vorzug, wonach der Vorausfahrende bei einem Fahrstreifenwechsel für die Unfallschäden mithafte, wenn er nicht vortragen und notfalls beweisen könne, dass er so lange im gleichgerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren sei, dass der Hintermann zum Aufbau des erforderlichen Sicherheitsabstandes in der Lage gewesen sei. Zumindest dann, wenn der Auffahrende nachvollziehbar und widerspruchsfrei darlege, dass der Vorausfahrende unmittelbar vor der Kollision die Spur gewechselt und hierdurch den Unfall verursacht habe, sei nicht mehr von einem typischen Geschehensablauf auszugehen. Andernfalls stehe derjenige, der grob verkehrswidrig die Fahrspur wechsle, prozessual besser als der Auffahrende, der in entsprechenden Fällen stets den Spurwechsel des Vorausfahrenden beweisen müsse. Das erstinstanzlich bindend festgestellte "non liquet" rechtfertige daher die angenommene hälftige Haftungsverteilung.
II.
Rz. 4
Das Berufungsurteil hält im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.
Rz. 5
1. In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird zum Teil bei Auffahrunfällen auf der Autobahn bereits ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Auffahrenden verneint und - in der Regel - eine hälftige Schadensteilung angenommen, wenn vor dem Auffahren ein Fahrspurwechsel stattgefunden hat, aber streitig und nicht aufklärbar ist, ob die Fahrspur unmittelbar vor dem Anstoß gewechselt worden ist und sich dies unfallursächlich ausgewirkt hat (vgl. etwa OLG München, Urt. v. 4.9.2009 - 10 U 3291/09, juris, Rz. 21; KG, Beschl. v. 14.5.2007 - 12 U 195/06, NZV 2008, 198, 199 und Urt. v. 21.11.2005 - 12 U 214/04, NZV 2006, 374, 375; OLG Düsseldorf, Urt. v. 8.3.2004 - 1 U 97/03, juris, 2. Orientierungssatz, Rz. 10, 19; OLG Hamm, Urt. v. 8.12.1997 - 6 U 103/97, MDR 1998, 712, 713 und OLG Celle, Urt. v. 26.11.1981 - 5 U 79/81, VersR 1982, 960 f.). Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Zusammenstoß mit einem vorausfahrenden Fahrzeug nur dann das typische Gepräge eines Auffahrunfalls trage, der nach der Lebenserfahrung den Schluss auf zu schnelles Fahren, mangelnde Aufmerksamkeit und/oder einen unzureichenden Sicherheitsabstand des Hintermannes zulasse, wenn feststehe, dass sich das vorausfahrende Fahrzeug schon "eine gewisse Zeit" vor dem nachfolgenden Pkw befunden und diesem die Möglichkeit gegeben habe, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen (vgl. etwa OLG München, Urt. v. 21.4.1989 - 10 U 3383/88, NZV 1989, 438).
Rz. 6
2. Ein anderer Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung vertritt die Auffassung, dass nur die seitens des Auffahrenden bewiesene ernsthafte Möglichkeit, dass das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des Auffahrenden gewechselt sei, den Anscheinsbeweis erschüttern könne (vgl. etwa OLG Saarbrücken, Urt. v. 19.5.2009 - 4 U 347/08, NZV 2009, 556, 557 f.; v. 19.7.2005 - 9 U 290/04, MDR 2006, 329; OLG Zweibrücken, Urt. v. 30.7.2008 - 1 U 19/08, SP 2009, 175 und OLG Köln, Urt. v. 29.6.2004 - 9 U 176/03, RuS 2005, 127; ebenso wohl auch OLG Naumburg, Urt. v. 6.6.2008 - 10 U 72/07, NZV 2008, 618, 620; OLG Karlsruhe, Urt. v. 24.6.2008 - 1 U 5/08, SP 2009, 66, 67; OLG Frankfurt, Urt. v. 2.3.2006 - 3 U 220/05, VersR 2006, 668, 669 und OLG Koblenz, Urt. v. 3.8.1992 - 12 U 798/91, NZV 1993, 28). Zeige das Unfallgeschehen das typische Gepräge eines Auffahrunfalls, so könne sich der Unfallgegner nicht mit der bloßen Behauptung der lediglich theoretischen Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs entlasten mit der Folge, dass es nunmehr Sache des Vorausfahrenden sei, den theoretisch in Betracht kommenden Unfallverlauf im Sinne einer beweisrechtlichen "Vorleistung" auszuschließen (vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 19.7.2005 - 4 U 209/04, 31/05, juris, Rz. 2; KG, Beschl. v. 9.10.2008 - 12 U 168/08, NZV 2009, 458, 459). Vielmehr müssen sich nach dieser Ansicht aus den unstreitigen oder bewiesenen Umständen zumindest konkrete Anhaltspunkte und Indizien für den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem behaupteten Fahrspurwechsel und dem Auffahrunfall ergeben, um den gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern (vgl. OLG Köln, Urt. v. 29.6.2004 - 9 U 176/03, a.a.O.). Auch nach der im Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung greift der Anscheinsbeweis bei Auffahrunfällen nur dann nicht zu Lasten des Auffahrenden ein, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen feststeht oder unstreitig ist, dass der Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden erst wenige Augenblicke vor dem Auffahrunfall erfolgt ist (vgl. Burmann in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 4 StVO Rz. 24; Buschbell in Münchener Anwaltshandbuch Straßenverkehrsrecht, 3. Aufl., § 23 Rz. 284; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 4 StVO Rz. 18 und Zieres in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl., Kap. 27, Rz. 149).
Rz. 7
3. Der erkennende Senat hat in seinem Urt. v. 18.10.1988 - VI ZR 223/87, VersR 1989, 54, 55 an seiner bis dahin ergangenen Rechtsprechung festgehalten, dass bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen kann (vgl. etwa BGH, Urt. v. 6.4.1982 - VI ZR 152/80, VersR 1982, 672; v. 23.6.1987 - VI ZR 188/86, VersR 1987, 1241). Dies setzt allerdings nach allgemeinen Grundsätzen voraus, dass ein typischer Geschehensablauf feststeht (vgl. etwa BGH, Urt. v. 19.1.2010 - VI ZR 33/09, VersR 2010, 392 m.w.N.). Hieran fehlt es im Streitfall.
Rz. 8
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Widerbeklagte zu 1) nach eigenen Angaben mit dem VW-Bus den vor ihm fahrenden, vom Beklagten zu 1) geführten Opel Astra ca. 300m vor der Ausfahrt, an der beide Unfallbeteiligten die Autobahn verlassen haben, überholt und ist danach vor diesem auf dessen Fahrspur gewechselt. Nach § 7 Abs. 5 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies setzt u.a. voraus, dass der überholte Kraftfahrer nach dem Wiedereinscheren des ihn überholenden Fahrzeuges in der Lage ist, zu diesem einen ausreichenden Sicherheitsabstand i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO aufzubauen, was im Streitfall offen geblieben ist. Ein Anscheinsbeweis spricht hierfür nicht. Steht mithin lediglich fest, dass sich der Auffahrunfall in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit einem Überholvorgang kurz vor der Ausfahrt einer Autobahn ereignet hat, an der beide Verkehrsteilnehmer die Autobahn verlassen haben, liegt eine Verkehrssituation vor, die sich von derjenigen, die den Schluss auf ein Verschulden des Auffahrenden zulässt, grundlegend unterscheidet (vgl. BGH, Urt. v. 6.4.1982 - VI ZR 152/80, VersR 1982, 672). Darüber hinaus lag nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ein Schräganstoß vor, bei dem der VW-Bus hinten rechts und der Opel Astra vorne links beschädigt wurde. In einer solchen Situation gilt nicht mehr der Erfahrungssatz, dass der Auffahrende diesen Unfall infolge zu hoher Geschwindigkeit, Unaufmerksamkeit und/oder unzureichendem Sicherheitsabstand verschuldet hat. Mindestens ebenso nahe liegt der Schluss, dass der Überholende zuvor gegen die hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 StVO verstoßen und sich im Bereich der Ausfahrt in einem so geringen Abstand vor das überholte Fahrzeug gesetzt hat, dass der Sicherheitsabstand vom Überholten nicht mehr rechtzeitig vergrößert werden konnte und beim plötzlichen Abbremsen des Überholenden nicht mehr ausreichte.
Rz. 9
Nach diesen Grundsätzen ist auf der Grundlage der vom Berufungsgericht in tatrichterlicher Würdigung angenommenen Nichterweislichkeit des genauen Unfallhergangs eine hälftige Schadensteilung aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.
Fundstellen