Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör bei zivilgerichtlichem Verfahren. Honoraransprüche aus Beratervertrag
Verfahrensgang
OLG Naumburg (Urteil vom 16.05.2000; Aktenzeichen 9 U 99/99) |
Tenor
1. Das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 16. Mai 2000 – 9 U 99/99 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
2. Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 16.000 DM (in Worten: sechzehntausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen des rechtlichen Gehörs in einem zivilgerichtlichen Verfahren.
I.
1. Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, bildete zusammen mit Rechtsanwalt L. eine Sozietät. Im Mai 1994 schloss die Sozietät mit der Klägerin des Ausgangsverfahrens einen Beratervertrag, in dem sie sich gegen Zahlung eines monatlichen Pauschalhonorars in Höhe von 5.750 DM zur Beratung und Vertretung der Klägerin in allen außergerichtlichen Rechtsangelegenheiten verpflichtete.
Am 6. März 1996 vereinbarten der Beschwerdeführer und Rechtsanwalt L. rückwirkend zum 26. Januar 1996 die Auflösung der Sozietät und den Übergang des Gesellschaftsvermögens auf den Beschwerdeführer. Mit Schreiben vom 10. April 1996 kündigte die Klägerin den Beratervertrag gemäß § 627 BGB fristlos mit der Begründung, durch das Ausscheiden von Rechtsanwalt L. bestünden die Voraussetzungen, die dem Vertrag zu Grunde gelegen hätten, nicht mehr.
2. Im Ausgangsverfahren machte die Klägerin gegen den Beschwerdeführer aus abgetretenem Recht Mietzinsansprüche in Höhe von zuletzt 93.628,30 DM geltend. Der Beschwerdeführer verteidigte sich unter anderem damit, ihm stünden gegen die Klägerin für den Zeitraum von Mai 1995 bis Dezember 1996 nicht beglichene Honoraransprüche aus dem Beratervertrag zu, mit denen er die Aufrechnung erklärt habe. Die von der Klägerin ausgesprochene Kündigung des Beratervertrags sei unwirksam.
In der Berufungsinstanz verurteilte das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer unter Abänderung des klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils zur Zahlung von 38.616,68 DM nebst Zinsen. Die Klageforderung – die das Oberlandesgericht als solche für begründet erachtete – sei durch die vom Beschwerdeführer erklärte Aufrechnung in Höhe von 55.011,62 DM erloschen. Dem Beschwerdeführer stünden Honoraransprüche aus dem Beratervertrag nur für den Zeitraum von Mai 1995 bis zum 26. Januar 1996 zu. Mit dem 27. Januar 1996 sei die Sozietät beendet gewesen. Damit habe zwar nicht automatisch auch das Mandatsverhältnis aus dem Beratervertrag geendet. Dieser Vertrag sei vielmehr erst durch die Kündigung vom 10. April 1996 beendet worden. Die Kündigung wirke jedoch auf den 27. Januar 1996 zurück. Die Klägerin habe zunächst Kenntnis von dem Kündigungsgrund, dem Ausscheiden von Rechtsanwalt L., erlangen müssen. Auch müsse ihr eine Überlegungsfrist hinsichtlich des Kündigungsrechts eingeräumt werden. Zwar sei nicht dargelegt, wann die Klägerin insoweit Kenntnis erlangt habe. Einschließlich der Überlegungsfrist sei aber anzunehmen, dass sie mit dem Schreiben vom 10. April 1996 noch rückwirkend bezogen auf den Zeitpunkt des Eintritts des Ereignisses habe kündigen können.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. Hierzu trägt er unter anderem vor:
Das angegriffene Urteil des Oberlandesgerichts stelle eine nach Art. 103 Abs. 1 GG unzulässige Überraschungsentscheidung dar. Das Gericht hätte vor seiner Entscheidung darauf hinweisen müssen, dass es von der Anwendbarkeit des § 627 BGB und einer Rückwirkung der Kündigung ausgehe. Hiermit hätte auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nicht rechnen können, da das Gericht insoweit von fundamentalen Rechtsgrundsätzen abgewichen sei. Es herrsche Übereinstimmung darüber, dass die Kündigung ein Schuldverhältnis lediglich mit Wirkung für die Zukunft beenden könne, nicht aber mit Wirkung für die Vergangenheit. Die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts hinsichtlich der Rückwirkung der Kündigung sei unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar und daher willkürlich.
4. Über das Vermögen der Klägerin des Ausgangsverfahrens ist mittlerweile das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Der Insolvenzverwalter sowie die Landesregierung Sachsen-Anhalt haben jeweils von einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. insbesondere BVerfGE 84, 188 ≪189 ff.≫; 86, 133 ≪144 ff.≫).
1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Da dies nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch Rechtsausführungen geschehen kann, gewährleistet Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern (BVerfGE 86, 133 ≪144≫ m.w.N.).
Zwar ist das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet. Ein Verfahrensbeteiligter muss daher prinzipiell alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (vgl. BVerfGE 86, 133 ≪145≫). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährleistung rechtlichen Gehörs setzt aber voraus, dass ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann (vgl. BVerfGE 84, 188 ≪190≫). Es kann daher im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 86, 133 ≪144 f.≫).
b) Gemessen an diesen Grundsätzen hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Auffassung des Oberlandesgerichts, die Kündigung vom 10. April 1996 habe das Vertragsverhältnis nicht erst mit dem Zugang der Kündigungserklärung beim Beschwerdeführer beendet, sondern wirke auf den 27. Januar 1996 zurück, war für den Beschwerdeführer nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht voraussehbar.
Ausweislich der beigezogenen Akten des Ausgangsverfahrens ist die Frage einer möglichen Rückwirkung der Kündigung des Beratervertrags im Laufe des Prozesses zu keinem Zeitpunkt problematisiert worden. Die Klägerin hat diese Rechtsansicht ebenso wenig vertreten wie der Beschwerdeführer. Das Landgericht ist in der erstinstanzlichen Entscheidung auf die Fragen im Zusammenhang mit der Kündigung des Beratervertrags nicht eingegangen, weil es anders als das Oberlandesgericht bereits den Klageanspruch als solchen verneinte und damit über die zur Aufrechnung gestellte Forderung nicht zu entscheiden brauchte. Schließlich kann auch dem Protokoll über die mündliche Verhandlung in der Berufungsinstanz nicht entnommen werden, dass das Oberlandesgericht seine Auffassung über den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Kündigung vor Erlass der Entscheidung zu erkennen gegeben hat.
Der Beschwerdeführer konnte auch bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt und Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen von sich aus nicht damit rechnen, dass das Oberlandesgericht der Kündigung eine Rückwirkung beimessen würde. Denn nach – soweit ersichtlich – einhelliger Ansicht in der fachgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur bewirkt eine Kündigung anders als der Rücktritt und die Anfechtung grundsätzlich nur eine Beendigung des Vertragsverhältnisses für die Zukunft (vgl. RGZ 90, 328 ≪330≫; BGHZ 73, 350 ≪354≫; Heinrichs, in: Palandt, BGB, 60. Aufl. 2001, Einf. vor § 346 Rn. 8; Hadding, in: Soergel, BGB, 12. Aufl. 1990, Vor § 346 Rn. 12; Westermann, in: Erman, BGB, 10. Aufl. 2000, Vor § 346 Rn. 5; Neumann, in: Staudinger, BGB, 13. Bearb. 1995, Vorbem. zu §§ 620 ff. Rn. 85; Schwerdtner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 3. Aufl. 1997, Vor § 620 Rn. 63). Für das außerordentliche Kündigungsrecht nach § 627 BGB gilt nichts anderes (vgl. Schlechtriem, in: Jauernig, BGB, 9. Aufl. 1999, § 627 Rn. 3). Eine fristlose Kündigung kann danach nicht rückwirkend für den Zeitpunkt ausgesprochen werden, zu dem der Kündigungsanlass eingetreten ist (vgl. LAG Bremen, BB 1961, S. 532; Schwerdtner, a.a.O., § 626 Rn. 38; Stahlhacke u.a., Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 7. Aufl. 1999, Rn. 430; Hillebrecht, in: Becker u.a., Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 4. Aufl. 1996, § 626 BGB Rn. 25).
Wollte das Oberlandesgericht von dieser allgemein vertretenen Rechtsauffassung abweichen, hätte es zur Vermeidung einer mit Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Überraschungsentscheidung dem Beschwerdeführer durch einen entsprechenden Hinweis Gelegenheit geben müssen, sich zu dieser Rechtsfrage zu äußern. Das ist jedoch nicht geschehen.
c) Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf dem dargelegten Verfassungsverstoß. Es lässt sich nicht ausschließen, dass das Oberlandesgericht seine Auffassung hinsichtlich der Rückwirkung der Kündigungserklärung noch einmal überdacht hätte und insoweit letztlich zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wäre, wenn es ihm Gelegenheit gegeben hätte, auch zu diesem Aspekt seinen gegenteiligen, mit der übrigen Rechtsprechung und dem Schrifttum in Einklang stehenden Rechtsstandpunkt darzulegen.
2. Da das angegriffene Urteil schon wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG aufzuheben ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob die nicht näher begründete Auffassung des Gerichts, der genannten Kündigung komme Rückwirkung zu, gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot verstößt.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Gegenstandswerts auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 635222 |
NJW-RR 2002, 69 |