Verfahrensgang
OLG Köln (Urteil vom 24.02.2012; Aktenzeichen 20 U 161/11) |
Tenor
Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Die Urteile des Oberlandesgerichts Köln vom 24. Februar 2012 – 20 U 159/11 –, soweit die Revision nicht zugelassen wurde, sowie – 20 U 154/11 – und – 20 U 161/11 – verletzen die Beschwerdeführer jeweils in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben; für das Urteil – 20 U 159/11 – gilt dies nur insoweit, als die Revision nicht zugelassen wurde. Die Sachen werden an das Oberlandesgericht Köln zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird in dem Verfahren 2 BvR 724/12 auf 16.000 EUR (in Worten: sechzehntausend Euro) und in den übrigen Verfahren auf jeweils 12.000 EUR (in Worten: zwölftausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Handhabung der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV in zivilrechtlichen Verfahren mit Blick auf die Rechtsfrage, ob § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. unionsrechtskonform ist.
I.
1. § 5a des Gesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG) sah im Geltungszeitraum vom 29. Juli 1994 bis 31. Dezember 2007 (im Folgenden: VVG a.F.) die Möglichkeit vor, Versicherungsverträge im sogenannten „Policenmodell” abzuschließen. Dieses Verfahren war dadurch gekennzeichnet, dass der potentielle Versicherungsnehmer zunächst das von ihm unterzeichnete Antragsformular auf Abschluss des Versicherungsvertrags an den Versicherer übermittelte und dieser dem Versicherungsnehmer die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und eine Verbraucherinformation nach § 10a VAG a.F. erst zusammen mit der Versicherungspolice zukommen ließ. Widersprach der Versicherungsnehmer nicht innerhalb der Widerspruchsfrist nach Überlassung der Unterlagen schriftlich, so galt der Vertrag auf Grundlage der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformationen als abgeschlossen (§ 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.). In dem Antrag des Versicherungsnehmers war das Vertragsangebot, in der nachfolgenden Übersendung der Vertragsunterlagen die Annahme durch den Versicherer zu sehen. Außerdem setzte der wirksame Vertragsschluss voraus, dass ein Widerspruch innerhalb der Widerspruchsfrist unterblieb; bis zu diesem Zeitpunkt war der Versicherungsvertrag nach herrschender Meinung schwebend unwirksam (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2010 – IV ZR 252/08 –, VersR 2011, S. 337 ≪338≫ Rn. 22; Urteil vom 16. Juli 2014 – IV ZR 73/13 –, WM 2014, S. 1575 ≪1576≫ Rn. 14, jeweils m.w.N.). Die Widerspruchsfrist begann nach dieser Regelung erst zu laufen, wenn der Versicherungsnehmer mit Aushändigung der Versicherungspolice über sein Widerspruchsrecht belehrt worden war; abweichend hiervon erlosch das Widerspruchsrecht – auch bei fehlender Belehrung – nach § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie.
2. § 5a VVG a.F. wurde durch das Dritte Gesetz zur Durchführung versicherungsrechtlicher Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften (Drittes Durchführungsgesetz/EWG zum VAG) vom 21. Juli 1994 (BGBl I S. 1630) in das Gesetz über den Versicherungsvertrag eingefügt und ist am 29. Juli 1994 in Kraft getreten. Er lautete, soweit für das vorliegende Verfahren von Bedeutung:
(1) Hat der Versicherer dem Versicherungsnehmer bei Antragstellung die Versicherungsbedingungen nicht übergeben oder eine Verbraucherinformation nach § 10a des Versicherungsaufsichtsgesetzes unterlassen, so gilt der Vertrag auf der Grundlage des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformation als abgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer nicht innerhalb von vierzehn Tagen nach Überlassung der Unterlagen schriftlich widerspricht. […]
(2) Der Lauf der Frist beginnt erst, wenn dem Versicherungsnehmer der Versicherungsschein und die Unterlagen nach Absatz 1 vollständig vorliegen und der Versicherungsnehmer bei Aushändigung des Versicherungsscheins schriftlich, in drucktechnisch deutlicher Form über das Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und die Dauer belehrt worden ist. Der Nachweis über den Zugang der Unterlagen obliegt dem Versicherer. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs. Abweichend von Satz 1 erlischt das Recht zum Widerspruch jedoch ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie.
Nach Änderungen durch das Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr vom 13. Juli 2001 (BGBl I S. 1542) und das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge bei Finanzdienstleistungen vom 2. Dezember 2004 (BGBl I S. 3102) – Verlängerung der Widerspruchsfrist von 14 auf 30 Tage bei Lebensversicherungen –, wurde das „Policenmodell” durch die Einfügung des § 7 Abs. 1 Satz 1 VVG im Rahmen einer Gesamtreform des Gesetzes über den Versicherungsvertrag durch das Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23. November 2007 (BGBl I S. 2631) mit Wirkung zum 1. Januar 2008 abgeschafft. § 5a VVG a.F. blieb jedoch für das Zustandekommen der Versicherungsverträge maßgeblich, die im Zeitraum vom 29. Juli 1994 bis zum 31. Dezember 2007 in einer Vielzahl von Fällen nach dem „Policenmodell” abgeschlossen wurden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2534/10 –, NJW 2014, S. 1796 ≪1798≫; Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston vom 11. Juli 2013 in der Rechtssache C-209/12, Rn. 26; Ebers, in: Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar zum VVG, 2. Aufl. 2011, § 8 VVG Rn. 6, 10; vgl. ferner Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, § 1 EGVVG Rn. 9; Funck, VersR 2008, S. 163 ≪168≫; Schneider, VersR 2008, S. 859 ≪862≫).
3. Die Beschwerdeführer haben allesamt Lebensversicherungsverträge im Wege des sogenannten „Policenmodells” abgeschlossen.
a) Im Verfahren 2 BvR 723/12 klagte der Beschwerdeführer zu 1. auf die Rückabwicklung zweier Versicherungsverträge, wobei die Klage einmal auf § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. und einmal (ausschließlich) auf § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. gestützt war. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwerdeführer zu 1. beantragte sowohl im Jahr 1996 als auch im Jahr 2002 den Abschluss jeweils eines Versicherungsvertrags über eine fondsgebundene Lebensversicherung im Wege des „Policenmodells”. Die vollständigen Vertragsunterlagen erhielt er vom Versicherungsunternehmen per Post zugesandt. In der Folgezeit zahlte der Beschwerdeführer zu 1. in den ersten Vertrag Versicherungsprämien in Höhe von 16.541,24 EUR und in den zweiten Vertrag Versicherungsprämien in Höhe von 12.402,45 EUR ein. Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 30. März 2010 erklärte der Beschwerdeführer zu 1. jeweils den „Widerspruch gem. § 5a VVG a.F.”, hilfsweise die Kündigung des Versicherungsvertrags. Das beklagte Versicherungsunternehmen wertete das Schreiben als Kündigung, errechnete einen Rückkaufswert für den älteren Vertrag von 7.176,56 EUR sowie für den jüngeren Vertrag von 5.224.58 EUR und zahlte diesen an den Beschwerdeführer zu 1. aus.
Im Verfahren 2 BvR 724/12 beantragte der Beschwerdeführer zu 2. Ende des Jahres 1998 den Abschluss eines Versicherungsvertrags über eine Lebensversicherung im Wege des „Policenmodells”. Die vollständigen Vertragsunterlagen erhielt er vom Versicherungsunternehmen per Post zugesandt. In der Folgezeit zahlte der Beschwerdeführer zu 2. Versicherungsprämien in Höhe von 14.123,92 EUR ein. Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 14. Juni 2010 erklärte der Beschwerdeführer zu 2. den „Widerspruch gem. § 5a VVG a.F.”, hilfsweise die Kündigung des Versicherungsvertrags. Das beklagte Versicherungsunternehmen wertete das Schreiben als Kündigung, errechnete einen Rückkaufswert von 9.960,30 EUR und zahlte diesen an den Beschwerdeführer zu 2. aus.
Im Verfahren 2 BvR 725/12 beantragte der Beschwerdeführer zu 3. im Jahr 1998 den Abschluss eines Versicherungsvertrags über eine fondsgebundene Lebensversicherung im Wege des „Policenmodells”. Die vollständigen Vertragsunterlagen erhielt er vom Versicherungsunternehmen per Post zugesandt. In der Folgezeit zahlte der Beschwerdeführer zu 3. Versicherungsprämien in Höhe von 18.789,54 EUR ein. Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 14. Juni 2010 erklärte der Beschwerdeführer zu 3. den „Widerspruch gem. § 5a VVG a.F.”, hilfsweise die Kündigung des Versicherungsvertrags. Das beklagte Versicherungsunternehmen wertete das Schreiben als Kündigung, errechnete einen Rückkaufswert von 18.058,84 EUR und zahlte diesen an den Beschwerdeführer zu 3. aus.
b) Das Landgericht wies alle Klagen vollumfänglich ab. Zur Begründung führte es mit Blick auf § 5a VVG a.F. jeweils aus, die Vorschrift sei nach gefestigter Rechtsprechung, der sich die Kammer bereits früher angeschlossen habe, europarechtskonform und zwar insbesondere hinsichtlich des sogenannten „Policenmodells”. Insofern erübrige sich auch die vom Beschwerdeführer beantragte Vorlage der Sache an den Gerichtshof der Europäischen Union. Die Europarechtskonformität der Regelung stehe nicht in Zweifel.
c) Die Berufung der Beschwerdeführer wies das Oberlandesgericht jeweils mit Urteil vom 24. Februar 2012 zurück. § 5a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. stehe im Einklang mit europäischem Recht. Diese Gesetzesbestimmungen stellten sich insbesondere nicht als fehlerhafte Umsetzung der Bestimmungen in Art. 31 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang II Buchstabe A der Richtlinie 92/96 EWG des Rates vom 10. November 1992 beziehungsweise Art. 36 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang III Buchstabe A der die erstgenannte Richtlinie ablösenden Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 dar. Danach seien dem Versicherungsnehmer vor Abschluss des Versicherungsvertrags „mindestens die in Anhang … (II nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 92/96 EWG bzw. III nach Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG) Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen.” In dem jeweils genannten Anhang würden sodann die erforderlichen Angaben im Einzelnen aufgeführt. Diesen Anforderungen werde § 5a Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. inhaltlich gerecht. Soweit er die Übermittlung der Verbraucherinformation nach § 10a VAG a.F., in dem die Angaben aus den Anhängen der Richtlinien übernommen worden seien, nicht zwingend bis zur Antragstellung verlange, bleibe der Vertrag bis zum Ablauf einer vierzehntägigen Widerspruchsfrist nach Überlassung der Unterlagen schwebend unwirksam (vgl. Senat, VersR 2011, S. 245 ff.; S. 248 ff. sowie RuS 2011, S. 216; OLG Düsseldorf, VersR 2001, S. 837 ff.; OLG Frankfurt, VersR 2005, S. 631 ff.). Diese rechtliche Konstruktion gewährleiste, dass die vertragliche Bindung des Versicherungsnehmers erst nach der gebotenen Verbraucherinformation eintrete (Senat, a.a.O.).
Im Verfahren 2 BvR 723/12 ließ das Oberlandesgericht, soweit § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. entscheidungserheblich war, die Revision zu.
4. Bereits die Erste Richtlinie 79/267/EWG des Rates vom 5. März 1979 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Direktversicherung (Lebensversicherung) (ABl. EG Nr. L 63 vom 13. März 1979, S. 1 ff.; im Folgenden: Erste Lebensversicherungsrichtlinie) enthielt Regelungen für den Bereich der „Lebensversicherung”. Sie wurde durch die Zweite Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG (ABl. EG Nr. L 330 vom 29. November 1990, S. 50 ff.; im Folgenden: Zweite Lebensversicherungsrichtlinie) geändert und ergänzt. Die Zweite Lebensversicherungsrichtlinie wiederum wurde geändert durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (ABl. EG Nr. L 360 vom 9. Dezember 1992, S. 1 ff.; im Folgenden: Dritte Lebensversicherungsrichtlinie). Art. 15 der Zweiten Lebensversicherungsrichtlinie in der durch Art. 30 der Dritten Lebensversicherungsrichtlinie geänderten Fassung hatte folgenden Wortlaut:
(1) Jeder Mitgliedstaat schreibt vor, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.
Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen.
Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag nach Artikel 4 anwendbaren Recht geregelt, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.
(2) Bei Verträgen mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten oder wenn der Versicherungsnehmer aufgrund seines Status oder wegen der Umstände, unter denen der Vertrag geschlossen wird, dieses besonderen Schutzes nicht bedarf, können die Mitgliedstaaten von der Anwendung von Absatz 1 absehen. Die Mitgliedstaaten legen in ihren Rechtsvorschriften die Fälle fest, in denen Absatz 1 nicht zur Anwendung gelangt.
In Art. 31 der Dritten Lebensversicherungsrichtlinie war die Verpflichtung geregelt, dem Versicherungsnehmer vor Abschluss des Vertrags bestimmte Angaben mitzuteilen:
(1) Vor Abschluss des Versicherungsvertrags sind dem Versicherungsnehmer mindestens die in Anhang II Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen.
(2) Der Versicherungsnehmer muss während der gesamten Vertragsdauer über alle Änderungen der in Anhang II Buchstabe B aufgeführten Angaben auf dem Laufenden gehalten werden.
(3) Der Mitgliedstaat der Verpflichtung kann von den Versicherungsunternehmen nur dann die Vorlage von Angaben zusätzlich zu den in Anhang II genannten Auskünften verlangen, wenn diese für das tatsächliche Verständnis der wesentlichen Bestandteile der Versicherungspolice durch den Versicherungsnehmer notwendig sind.
(4) Die Durchführungsvorschriften zu diesem Artikel und zu Anhang II werden von dem Mitgliedstaat der Verpflichtung erlassen.
In Anhang II war eine Aufzählung der Informationen aufgeführt, die dem Versicherungsnehmer „entweder (A) vor Abschluss des Vertrages oder (B) während der Laufzeit des Vertrages mitzuteilen” waren. Die Informationen waren „eindeutig und detailliert schriftlich in einer Amtssprache des Mitgliedstaats der Verpflichtung abzufassen”. Buchstabe A enthielt eine Tabelle, in deren linker Spalte die Informationen über das Versicherungsunternehmen und in deren rechter Spalte die Informationen über die Versicherungspolicen selbst genannt waren.
Die am 20. Dezember 2002 in Kraft getretene Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (ABl. EG Nr. L 345 vom 19. Dezember 2002, S. 1 ff.; im Folgenden: Lebensversicherungsrichtlinie) sah in ihren Art. 35 und Art. 36 vergleichbare Regelungen vor. Durch sie wurden zugleich die Erste, Zweite und Dritte Lebensversicherungsrichtlinie einschließlich ihrer Änderungen aufgehoben. Die Lebensversicherungsrichtlinie wurde ihrerseits durch die Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. EU Nr. L 335 vom 17. Dezember 2009, S. 1 ff.) mit Wirkung zum 1. November 2012 aufgehoben.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen die Zurückweisung ihrer Berufungen und rügen eine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Indem das Oberlandesgericht jeweils davon abgesehen habe, sich zur unionsrechtlichen Rechtslage hinreichend kundig zu machen und es seine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV mit einer offenkundig nicht tragfähigen Begründung verneint habe, habe es das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt. Als letztinstanzlich entscheidendes Gericht sei das Oberlandesgericht verpflichtet gewesen, die Frage, ob das durch § 5a VVG a.F. eröffnete „Policenmodell” den unionsrechtlichen Vorgaben entspreche, gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Die Auslegung der einschlägigen Richtlinienbestimmungen, nach denen dem Versicherungsnehmer die Informationen „vor Abschluss des Versicherungsvertrags” mitzuteilen seien, sei keinesfalls zweifelsfrei. Nach dem Ziel der Richtlinien müssten dem Versicherungsnehmer die Informationen bereits vorliegen, bevor er eine Auswahlentscheidung treffe und er seine auf den Vertragsschluss gerichtete Willenserklärung abgebe. Dem damit verfolgten Zweck, dem Versicherungsnehmer die Auswahl eines seinen Bedürfnissen am besten entsprechenden Angebots zu ermöglichen, werde § 5a VVG a.F. nicht gerecht, weil hiernach Versicherer ihre vorvertraglichen Informationspflichten erst nach der Auswahlentscheidung des Versicherungsnehmers erfüllen müssten. Daran ändere auch die Einräumung eines Widerspruchsrechts nichts, weil dem Versicherungsnehmer die Widerspruchslast aufgebürdet werde, was einer effektiven Durchsetzung der vorvertraglichen Informationspflichten widerspreche.
Das Oberlandesgericht sei in den angegriffenen Entscheidungen seiner Vorlagepflicht willkürlich nicht nachgekommen. Es habe sich weder mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch mit dem im Jahr 2005 durch die Europäische Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2005/5046) befasst. Indem es stattdessen lediglich auf die unzureichende Begründung eigener Entscheidungen und mehrerer Entscheidungen anderer Berufungsgerichte Bezug genommen habe, habe das Oberlandesgericht einen insgesamt leichtfertigen Umgang mit dem Unionsrecht dokumentiert.
III.
Die Verfassungsbeschwerden sind dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen sowie dem in den Ausgangsverfahren beklagten Versicherungsunternehmen zugestellt worden. Die Akten der Ausgangsverfahren wurden beigezogen. Im Verfahren 2 BvR 724/12 wurden zudem der Präsident des Bundesgerichtshofs, der Deutsche Versicherungs-Schutzverband e.V. (DVS), der Bund versicherter Unternehmer e.V. (BvU), der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) und der Bund der Versicherten e.V. (BdV) als sachkundige Dritte um die Abgabe einer Stellungnahme gebeten. Die eingegangenen Stellungnahmen wurden auch den Beteiligten der übrigen Verfahren zur Kenntnis gegeben.
1. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, das von den Ausgangsentscheidungen begünstigte Versicherungsunternehmen, der Deutsche Versicherungs-Schutzverband e.V. und der Bund versicherter Unternehmer e.V. haben von einer Äußerung abgesehen.
2. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat eine Stellungnahme des stellvertretenden Vorsitzenden des IV. Zivilsenats vom 17. Juni 2014 übermittelt. Darin wird insbesondere ausgeführt, dass seit Anfang 2012 über 100 gleichgelagerte Fälle beim Bundesgerichtshof anhängig geworden seien, und dass der Bundesgerichtshof sich demnächst mit der Problematik des „Policenmodells” auseinanderzusetzen habe. Ergänzend wird auf die im Verfahren 1 BvR 2771/11 abgegebene Stellungnahme vom 25. Januar 2012 Bezug genommen, in der mitgeteilt wurde, der IV. Zivilsenat sei mit den im Verfassungsbeschwerdeverfahren aufgeworfenen Rechtsfragen bereits mehrmals befasst gewesen. Eine Vorlage in Bezug auf die Richtlinienkonformität des „Policenmodells” sei bislang nicht vorgesehen gewesen, sondern nur eine Vorlage zur Richtlinienkonformität der Regelung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
3. Der Bund der Versicherten e.V. hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet. Er tritt ihren rechtlichen Wertungen vollumfänglich bei und ist der Auffassung, ihr sei unter Anwendung der Maßstäbe der einschlägigen Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats ebenfalls stattzugeben (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2083/11 –, WM 2014, S. 647 ff.; vom 2. Juli 2014 – 1 BvR 543/12, 1 BvR 544/12, 1 BvR 545/12, 1 BvR 892/12, 1 BvR 894/12, 1 BvR 2476/12 –, juris).
4. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. hat unter Vorlage zweier Rechtsgutachten die von der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung verteidigt. Die von dem Berufungsgericht angenommene Unionsrechtskonformität der Regelung des § 5a VVG a.F. entspreche dem von der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen und zutreffenden Standpunkt. Es sei daher verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn ein letztinstanzliches Gericht, das mit der herrschenden Meinung keine Zweifel an der Unionsrechtskonformität des § 5a VVG a.F. habe, von einer Vorlage der Rechtsfrage an den Gerichtshof der Europäischen Union absehe. Im Übrigen sei die Frage nach der Unionsrechtwidrigkeit des „Policenmodells” im vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich, weil eine richtlinienkonforme Auslegung insoweit nicht möglich wäre.
IV.
Die Kammer verbindet die Verfassungsbeschwerden zur gemeinsamen Entscheidung, nimmt sie zur Entscheidung an und gibt ihnen statt, weil sie unter Berücksichtigung der bereits hinreichend geklärten Maßstäbe zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 73, 339 ≪366 ff.≫; 75, 223 ≪233 ff.≫; 82, 159 ≪192 ff.≫; 126, 286 ≪315 ff.≫; 128, 157 ≪186 ff.≫; 129, 78 ≪105 ff.≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫) offensichtlich begründet sind (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
1. Die Entscheidungen des Berufungsgerichts verletzen die Beschwerdeführer wegen einer unhaltbaren Handhabung der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
a) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 ≪366≫; 82, 159 ≪192≫; 126, 286 ≪315≫; 128, 157 ≪186 f.≫; 129, 78 ≪105≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫). Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪192 f.≫; 128, 157 ≪187≫; 129, 78 ≪105≫; stRspr). Kommt ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens daher nicht nach oder stellt es ein Vorabentscheidungsersuchen, obwohl eine Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht gegeben ist (vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 –, NJW 2013, S. 1499 ≪1501≫, Rn. 91; Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫), kann dem Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen sein (vgl. BVerfGE 73, 339 ≪369≫; 126, 286 ≪315≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫).
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs. C-283/81, C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, S. 3415 ff., Rn. 21) muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. auch BVerfGE 82, 159 ≪193≫; 128, 157 ≪187≫; 129, 78 ≪105 f.≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫).
b) Durch die grundrechtsähnliche Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht zu einem Kontrollorgan, das jeden die gerichtliche Zuständigkeitsordnung berührenden Verfahrensfehler korrigieren müsste. Es muss vielmehr dem Umstand Rechnung tragen, dass die Kontrolle der gerichtlichen Zuständigkeitsverteilung in erster Linie in den Händen der Fachgerichte liegt (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪194≫). Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Normen, die die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung regeln, daher nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. BVerfGE 29, 198 ≪207≫; 82, 159 ≪194≫).
Diese Grundsätze gelten auch für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫). Vor diesem Hintergrund stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich auch einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 126, 286 ≪315≫), sondern nur eine Auslegung und Anwendung von Art. 267 Abs. 3 AEUV, die nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 126, 286 ≪315 f.≫; 128, 157 ≪187≫; 129, 78 ≪106≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫). Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums (vgl. BVerfGE 126, 286 ≪316≫ m.w.N.). Ein „oberstes Vorlagenkontrollgericht” ist es nicht (vgl. BVerfGE 126, 286 ≪316≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫; BVerfGK 13, 506 ≪512≫; 14, 230 ≪233≫; 16, 328 ≪336≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 – 2 BvR 808/82 –, NJW 1988, S. 1456 ≪1457≫).
aa) Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird offensichtlich unhaltbar gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht; vgl. BVerfGE 82, 159 ≪195 f.≫; 126, 286 ≪316 f.≫; 128, 157 ≪187 f.≫; 129, 78 ≪106 f.≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫).
bb) Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und dennoch nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft; vgl. BVerfGE 82, 159 ≪195 f.≫; 126, 286 ≪316 f.≫; 128, 157 ≪187 f.≫; 129, 78 ≪106 f.≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫).
cc) Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hingegen noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪195 f.≫; 126, 286 ≪316 f.≫; 128, 157 ≪187 f.≫; 129, 78 ≪106 f.≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Fachgerichte das Vorliegen eines „acte clair” oder eines „acte éclairé” willkürlich bejahen (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫). Das Gericht muss sich daher hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig machen. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪196≫; 128, 157 ≪189≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫). Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts (vgl. BVerfGE 75, 223 ≪234≫; 128, 157 ≪188≫; 129, 78 ≪107≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫) die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair”) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé”; vgl. BVerfGE 129, 78 ≪107≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫). Unvertretbar gehandhabt wird Art. 267 Abs. 3 AEUV im Falle der Unvollständigkeit der Rechtsprechung namentlich dann, wenn das Fachgericht eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage ohne sachlich einleuchtende Begründung bejaht (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪196≫; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, NVwZ 2014, S. 646 ≪657≫; zum Vorliegen eines solchen Falles, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht zugrunde gelegten Meinung eindeutig vorzuziehen sind, vgl. BVerfGE 82, 159 ≪196≫; 126, 286 ≪317≫).
2. Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht die Vorlagepflicht in nicht mehr vertretbarer Weise gehandhabt und durch das Unterlassen der Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.
a) Das Berufungsgericht ist Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV, weil seine Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann. In Fällen der zulassungsgebundenen Revision (vgl. dazu BVerfGE 82, 159 ≪196≫), in denen die Nichtzulassung der Revision durch das Instanzgericht nicht mit dem Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbar ist, tritt die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bei dem Gericht ein, das die Revision nicht zugelassen hat. Das ist vorliegend das Berufungsgericht, weil der Wert der mit der Revision (im Falle ihrer Zulassung) geltend zu machenden Beschwer 20.000 EUR nicht übersteigt und die Nichtzulassungsbeschwerde, die „Rechtsmittel” im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV ist (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪196≫), somit unzulässig ist (vgl. § 26 Nr. 8 EGZPO).
b) Durch die Annahme, die Frage der Richtlinienkonformität des in § 5a Abs. 1 VVG a.F. geregelten „Policenmodells” bedürfe nicht der Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union, weil die obergerichtliche Rechtsprechung einen Verstoß gegen unionsrechtliche Vorgaben bisher verneint habe, hat das Berufungsgericht Art. 267 Abs. 3 AEUV unvertretbar gehandhabt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2083/11 –, WM 2014, S. 647 ff.).
aa) Die Frage der Richtlinienkonformität des durch § 5a Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. eröffneten „Policenmodells” war nach der Auffassung des Berufungsgerichts entscheidungserheblich. Sie war und ist durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bisher nicht beantwortet. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat insbesondere in seinem Urteil vom 19. Dezember 2013 (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2013 – Rs. C-209/12 – Endress, NJW 2014, S. 452) von einer Stellungnahme dazu abgesehen, ob das „Policenmodell” insgesamt richtlinienkonform ist.
bb) Ein „acte clair” lag nicht vor. Der durch das Berufungsgericht zur Begründung seines Standpunktes angeführte Verweis auf die vorangegangene eigene und die von ihm in diesem Zusammenhang in Bezug genommenen Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 5. Februar 2010 – 20 U 150/09 –, VersR 2011, S. 245; Beschluss vom 29. Oktober 2010 – 20 U 100/10 –, VersR 2011, S. 248; Beschluss vom 9. Juli 2010 – 20 U 51/10 –, juris ≪soweit hier von Interesse in RuS 2011, S. 216 f. nicht abgedruckt≫; OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 10. Dezember 2003 – 7 U 15/03 –, VersR 2005, S. 631; OLG Düsseldorf, Urteil vom 5. Dezember 2000 – 4 U 32/00 –, VersR 2001, S. 837) sind vorliegend nicht geeignet, die richtige Anwendung des Unionsrechts als derart offenkundig erscheinen zu lassen, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2083/11 –, WM 2014, S. 647 ≪648≫).
(1) Die angeführten Entscheidungen gehen zum einen davon aus, dass Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG (bzw. Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 92/96/EWG) lediglich eine Übermittlung der Verbraucherinformationen „vor” Vertragsschluss erfordere und dass § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. dem hinreichend Rechnung trage, weil der Vertrag erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist rechtsverbindlich zustande komme. Der Verbraucher könne mithin die Informationen prüfen, bevor er sich endgültig für den Vertragsschluss entscheide. Dies trage dem Ziel der Richtlinie, Markttransparenz zu schaffen, Rechnung. Diese Erwägungen sind nicht geeignet, die Auslegung des Unionsrechts als offenkundig im Sinne eines „acte clair” erscheinen zu lassen.
Die in Bezug genommenen Entscheidungen haben sich zunächst, sofern es ihnen nach der zeitlichen Abfolge überhaupt möglich war, nicht mit den beachtlichen Gegenargumenten der Europäischen Kommission in dem von ihr im Jahr 2005 gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2005/5046) auseinandergesetzt. Die Europäische Kommission hatte in ihrer Stellungnahme vom 12. Oktober 2006 darauf hingewiesen, dass der Versicherungsnehmer nach der deutschen Regelung bereits eine Auswahlentscheidung für eine Versicherung treffen müsse, bevor ihm die notwendigen Informationen erteilt würden. Nach Erteilung der Information müsse er sodann durch fristgemäßes Erheben eines Widerspruchs aktiv werden, um eine Bindung an den Vertrag zu verhindern. Es spreche daher Einiges dafür, dass dies die Zielsetzung der Richtlinie, den Versicherungsbinnenmarkt zu stärken, vereitle. Der Verbraucher solle nämlich gerade deshalb umfassend informiert werden, um die Vielfalt der Angebote im Binnenmarkt und den verstärkten Wettbewerb der Versicherer untereinander besser nutzen und einen seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auswählen zu können (siehe die Erwägungsgründe Nr. 46 und Nr. 52 der Richtlinie 2002/83/EG bzw. die Erwägungsgründe Nr. 20 und Nr. 23 der Richtlinie 92/96/EWG; vgl. dazu weiter und ebenso die Generalanwältin Sharpston bei Rn. 59 ihrer Schlussanträge vom 11. Juli 2013 in der Rechtssache C-209/12 – Endress).
Nach dem „Policenmodell” musste ein Versicherungsnehmer in der Tat möglicherweise gegenüber mehreren Versicherern zunächst Anträge auf Abschluss eines Versicherungsvertrags stellen, um erst mit der Versicherungspolice die spezifischen Informationen zu erhalten, die ihm eine sachgerechte Auswahlentscheidung ermöglichten. Damit wurden ihm nicht nur eine mit erheblichen Risiken – etwa dem der Fristversäumnis – behaftete „Widerrufslast” aufgebürdet; es erscheint auch lebensfremd, dass er die nicht immer zeitgleich bei ihm eingehenden Versicherungsbedingungen während der regelmäßig unterschiedlich laufenden Widerspruchsfristen eingehend vergleichen konnte (so auch Berg, VuR 1999, S. 335 ≪341 f.≫; Osing, Informationspflichten des Versicherers und Abschluss des Versicherungsvertrages, 1996, S. 92 f.; Rehberg, Der Versicherungsabschluss als Informationsproblem, 2003, S. 109 ff. ≪113 f.≫). Dass die Verträge vor Ablauf der Widerspruchsfrist rechtsdogmatisch noch „schwebend unwirksam” sind, ist insoweit nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, dass dem Versicherungsnehmer angesonnen wurde, mehrere auf Abschluss verschiedener Verträge gerichtete Willenserklärungen abzugeben, von vornherein jedoch mit der Absicht, alle Erklärungen bis auf eine später zu widerrufen, nur um vor dem Wirksamwerden der Verträge in den Besitz der gebotenen Verbraucherinformation zu gelangen. Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG stellt demgegenüber auf einen Zeitpunkt „vor Abschluss des Versicherungsvertrags” ab, nicht fernliegender Weise also auf den Zeitpunkt der maßgeblichen, zum Vertragsschluss führenden Willenserklärung.
(2) Zum anderen vermag auch die Annahme des Oberlandesgerichts, die Richtlinie mache den Mitgliedstaaten ausschließlich Vorgaben für das Versicherungsaufsichtsrecht und strebe eine Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts gerade nicht an (vgl. die Erwägungsgründe Nr. 7 und Nr. 44 der Richtlinie 2002/83/EG bzw. die Erwägungsgründe Nr. 5 und Nr. 19 der Richtlinie 92/96/EWG), der deutsche Gesetzgeber aber habe ihre Vorgaben in § 10a VAG a.F. umgesetzt, das Unterlassen einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nicht zu rechtfertigen. Sie gibt für die Auslegung des Unionsrechts vielmehr nichts her.
Zwar war die Informationspflicht „vor” Abschluss des Vertrages in § 10a VAG a.F. aufsichtsrechtlich normiert; ihr Inhalt war freilich durch die versicherungsvertragsrechtliche Regelung des § 5a VVG a.F. geprägt. Da Maßstab für die Versicherungsaufsicht ausweislich des § 81 Abs. 1 VAG jedoch allein die „Einhaltung der aufsichtsrechtlichen, der das Versicherungsverhältnis betreffenden und aller sonstigen die Versicherten betreffenden Vorschriften” sind, bestand für ein Einschreiten der Aufsichtsbehörden kein Anlass, solange das Versicherungsvertragsrecht das „Policenmodell” als Möglichkeit für den Abschluss eines Versicherungsvertrages vorsah, (vgl. nur Ebers, in: Micklitz, Verbraucherrecht in Deutschland – Stand und Perspektiven, 2005, S. 253, 260 ff. ≪266 f.≫). Sollte die Praxis der Informationserteilung im Rahmen des „Policenmodells” nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. der Richtlinie daher nicht entsprochen haben, hätte die Bundesrepublik Deutschland der Richtlinie auch durch das Aufsichtsrecht mithin keine praktische Wirksamkeit verschafft.
(3) Darüber hinaus spricht gegen die Annahme eines „acte clair” (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2083/11 –, WM 2014, S. 647 ≪649≫), dass der Gesetzgeber ausweislich der Begründung zu der am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Reform des Versicherungsvertragsgesetzes die Vereinbarkeit des – abgeschafften – „Policenmodells” mit unionsrechtlichen Vorgaben als „nicht zweifelsfrei” eingeschätzt hat (vgl. BTDrucks 16/3945, S. 60) und dass die Richtlinienkonformität des „Policenmodells” im Schrifttum außerordentlich umstritten war (die Richtlinienkonformität bezweifeln: Berg, VuR 1999, S. 335 ≪341 f.≫; Dörner, in: Brömmelmeyer/Heiss/Meyer/Rückle/Schwintowski/Wallrabenstein, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform, Schwachstellen der VVG-Reform, 2009, S. 137 ≪145 f.≫; Dörner/Staudinger, WM 2006, S. 1710 ≪1712≫; Ebers, in: Micklitz, Verbraucherrecht in Deutschland – Stand und Perspektiven, 2005, S. 253 ≪260 ff.≫; Lenzing, in: Basedow/Fock, Europäisches Versicherungsvertragsrecht, Band I, 2002, S. 139 ≪164 f.≫; Micklitz/Ebers, in: Basedow/Meyer/Rückle/Schwintowski, Verbraucherschutz durch und im Internet bei Abschluss von privaten Versicherungsverträgen – Altersvorsorgeverträge – VVG-Reform, 2003, S. 43 ≪82 f.≫; Osing, Informationspflichten des Versicherers und Abschluss des Versicherungsvertrages, 1996, S. 92 f.; Rehberg, Der Versicherungsabschluss als Informationsproblem, 2003, S. 109 ff. ≪116 f.≫; Schwintowski, VuR 1996, S. 223 ≪238 f.≫; die Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben bejahen: Herrmann, in: Bruck/Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 9. Aufl. 2009, § 7 Rn. 65; Lorenz, VersR 1995, S. 616 ≪625 f.≫; ders., VersR 1997, S. 773 ≪780 f.≫; Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl. 2004, VVG § 5a Rn. 8; Reiff, VersR 1997, S. 267 ≪271≫; Schirmer, VersR 1996, S. 1045 ≪1056≫; Wandt, Verbraucherinformation und Vertragsschluss nach neuem Recht – Dogmatische Einordnung und praktische Handhabung –, 1995, S. 31 ff.).
c) Die angegriffenen Urteile des Berufungsgerichts über die Zurückweisung der Berufung beruhen auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2083/11 –, WM 2014, S. 647 ≪649 f.≫).
V.
Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG in der gemäß § 60 Abs. 1 RVG vor dem 1. August 2013 geltenden Fassung und den durch das Bundesverfassungsgericht für die Festsetzung des Gegenstandswerts im Verfahren der Verfassungsbeschwerde entwickelten und fortgeltenden Maßstäben (vgl. BVerfGE 79, 357 ff.; 365 ff.).
Unterschriften
Huber, Müller, Maidowski
Fundstellen
Haufe-Index 7536548 |
WM 2015, 123 |