Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 4. Dezember 2001 – 6 Sa 868/00 – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Es wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht Hamm zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 EUR (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein landesarbeitsgerichtliches Berufungsurteil, das erst mehr als fünf Monate nach der Verkündung in vollständiger Fassung abgesetzt und zugestellt wurde.
I.
1. Der Beschwerdeführer war von 1977 bis 1996 bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens als Arbeitnehmer beschäftigt. Seine Betriebsrente hielt er für zu niedrig und erhob eine entsprechende Zahlungsklage. Das Arbeitsgericht gab der Klage vollen Umfangs statt.
2. Das Landesarbeitsgericht änderte die arbeitsgerichtliche Entscheidung durch ein am 4. Dezember 2001 verkündetes Urteil unter teilweiser Klageabweisung ab; die Revision ließ es nicht zu. Das vollständig abgefasste Urteil wurde der Geschäftsstelle vom Kammervorsitzenden als Entwurf zur Weiterleitung an die ehrenamtlichen Richter am 2. Mai 2002 übergeben; am 28. Mai 2002 gelangte es von allen drei Richtern unterschrieben an die Geschäftsstelle zurück. Den Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers im Ausgangsverfahren wurde das Urteil erst mehr als sechs Monate nach der Verkündung, am 10. Juni 2002, in vollständig abgefasster Form zugestellt.
II.
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner am 4. Juni 2002 eingegangenen Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG durch das Urteil des Landesarbeitsgerichts. Zur Begründung beruft er sich auf die Entscheidung der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 – 1 BvR 383/00 – (NZA 2001, S. 982).
III.
Zur Verfassungsbeschwerde sind das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und die Beklagte des Ausgangsverfahrens angehört worden.
Die Beklagte begehrt die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde, hilfsweise die Zurückverweisung an die gleiche fachzuständige Kammer des Landesarbeitsgerichts. Es sei nicht auszuschließen, dass das Berufungsurteil vor Ablauf der Fünf-Monats-Frist zur Geschäftsstelle gelangt sei. Eine etwaige Zurückverweisung an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts griffe in den dortigen Geschäftsverteilungsplan ein, sodass eine mit betrieblicher Altersversorgung nicht näher bewanderte Richterbank entscheiden müsste.
Das Justizministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
B. – I.
Die Kammer nimmt gemäß § 93 b BVerfGG die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde ist nach Maßgabe der Gründe stattzugeben. Die für die Beurteilung wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die einschlägigen verfassungsrechtlichen Fragen zur Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bereits entschieden.
Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪25 f.≫; 69, 381 ≪385≫). Gleichzeitig gebietet die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht zur Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und zur Herstellung von Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 60, 253 ≪269≫; 88, 118 ≪124≫).
2. Nach diesem Maßstab verletzt die erst am 28. Mai 2002 vollständig abgefasst und unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangte Entscheidung des Landesarbeitsgerichts die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).
Eine landesarbeitsgerichtliche Entscheidung, in der die Revision nicht zugelassen wurde und deren vollständige Gründe erst mehr als fünf Monate nach Verkündung unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind, kann keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht sein, um das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen in rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen. Ein Landesarbeitsgericht, das ein Urteil in vollständiger Fassung erst so spät absetzt, erschwert damit für die unterlegene Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kammervorsitzende des Landesarbeitsgerichts seinen schriftlichen Urteilsentwurf innerhalb der Fünf-Monats-Frist der Geschäftsstelle zur Weiterleitung an die ehrenamtlichen Richter übergeben hat. In vollständiger Fassung ist ein landesarbeitsgerichtliches Urteil erst dann abgesetzt, wenn es von sämtlichen Kammermitgliedern unterschrieben (vgl. § 69 Abs. 1 ArbGG) der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Denn die Fünf-Monats-Frist soll auch gewährleisten, dass die schriftlichen Urteilsgründe die Verhandlungs- und Beratungsergebnisse zutreffend wiedergeben. Diesem Erfordernis wird nur genügt, wenn sich sämtliche zur Unterschrift verpflichteten Richter einigermaßen zeitnah die Urteilsgründe zu Eigen machen können.
Wegen der weiteren Begründung wird verwiesen auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 – 1 BvR 383/00 –, AP Nr. 33 zu Art. 20 GG = NZA 2001, S. 982.
II.
Die angegriffene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten, weil sich die Verfassungsbeschwerde als begründet erwiesen hat (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG). Die Festsetzung des Wertes des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 113 Abs. 2 Satz 3, § 134 Abs. 1 BRAGO und den dazu vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Unterschriften
Jaeger, Hömig, Bryde
Fundstellen
Haufe-Index 841107 |
ARST 2003, 141 |
NZA 2003, 59 |
EzA |