Verfahrensgang
OLG Naumburg (Beschluss vom 10.03.2008; Aktenzeichen 1 Ws Reh 131/08) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 10. März 2008 – 1 Ws Reh 131/08 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Ablehnung eines Antrags auf Rehabilitierung wegen der Unterbringung in Kinderheimen und anderen Einrichtungen der Jugendhilfe der DDR.
I.
1. Der 1955 geborene Beschwerdeführer wurde im Jahr 1961 nach der Scheidung seiner Eltern in das Kinderheim „E. W.” nach M. verbracht. In der Folgezeit war er bis 1966 weiterhin in dem Kinderheim „W. T.” in B. bei B., einem weiteren Kinderheim in A. bei M. und schließlich im Kinderheim O. B. untergebracht. Im Jahr 1966 wurde er aus der Heimerziehung entlassen, 1967 jedoch zwangsweise in das Kombinat der Sonderheime der DDR verbracht. Bis 1970 war der Beschwerdeführer im Kombinat der Sonderheime zunächst in W. in B. und anschließend in B. bei B. untergebracht, bevor er am 8. Juli 1970 in den Jugendwerkhof H. und von dort vorübergehend zwischen dem 17. September 1971 und dem 31. Januar 1972 in den Geschlossenen Jugendwerkhof T. verbracht wurde. In einem Bericht des Jugendwerkhofs H. vom 21. September 1971 werden als Grund für die Einweisung in das Kombinat der Sonderheime 1967/68 sich verfestigende Fehlverhaltensweisen wie Rohheitsdelikte gegenüber Kindern, Wutausbrüche und Sachbeschädigungen genannt.
2. In einem gesonderten Verfahren beantragte der Beschwerdeführer seine Rehabilitierung wegen der Unterbringung in den Jugendwerkhöfen H. und T., die ihm mit Beschluss des Kammergerichts Berlin vom 15. Dezember 2004 in Bezug auf den Geschlossenen Jugendwerkhof T. gewährt, im Übrigen jedoch vom Brandenburgischen Oberlandesgericht verwehrt wurde.
3. Am 6. Dezember 2006 beantragte der Beschwerdeführer beim Landgericht Magdeburg seine Rehabilitierung in Bezug auf die übrige Unterbringung in Kinderheimen der DDR. Durch die ständige Verlegung von einem Heim ins andere sei es bei ihm zu einer Zerstörung von Privatsphäre und völliger Kontaktlosigkeit gekommen, die seelische und körperliche Schäden hinterlassen hätten. Bei der Entlassung aus der Heimerziehung im Jahr 1966 im Alter von elf Jahren sei der Beschwerdeführer mit normalen Kindern nicht mehr vergleichbar gewesen. Das Kombinat der Sonderheime, in das er 1967 verbracht worden sei, stelle eine absolute Sondereinrichtung unter den Heimen der DDR dar. Die Unterbringung komme gezielter Freiheitsentziehung gleich, da unter anderem Türen und Fenster vergittert gewesen seien und es vielfältige Misshandlungen wie Arrest, Essensentzug, stundenlanges Stehen, auch barfuß und nur mit Unterwäsche bekleidet, Schlafentzug und körperliche Übergriffe gegeben habe. Auch sei er gezwungen worden, Tabletten einzunehmen.
4. Mit Beschluss vom 21. Dezember 2007 wies das Landgericht Magdeburg den Antrag des Beschwerdeführers zurück. Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts sei zweifelhaft, da es auf den Sitz der Behörde ankomme, die die Anordnung zur Aufnahme in ein Kinderheim oder eine Einrichtung der Jugendhilfe getroffen habe. Danach ergebe sich die Zuständigkeit des Landgerichts Magdeburg wahrscheinlich nur für die Kinderheime „E. W.” in M. und „W. T.” in B. bei B. Im Übrigen sei der Antrag des Betroffenen aber auch unbegründet. Nachforschungen beim Landkreis J. L. (B.), beim Landesverwaltungsamt – Landesjugendamt – des Landes Sachsen-Anhalt, bei der Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. J. B. und bei der Landeshauptstadt Magdeburg hätten keinerlei Akten hinsichtlich des Beschwerdeführers zutage gefördert. Auch unter Zugrundelegung des Vorbringens des Beschwerdeführers komme eine Rehabilitierung nicht in Betracht; denn eine Freiheitsentziehung nach § 2 StrRehaG habe bei Kinderheimen und sonstigen Einrichtungen der Jugendhilfe der DDR ohne Strafcharakter in der Regel nicht vorgelegen. Etwas anderes gelte lediglich für den Jugendwerkhof T. Im Übrigen sei nicht ersichtlich, dass die Einweisung in ein Kinderheim unter Zugrundelegung des Standes der pädagogischen Wissenschaften im Jahr 1961 mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen sei. Es fänden sich keine Hinweise für politische Verfolgung.
5. In seiner dagegen gerichteten Beschwerde vom 22. Januar 2008 trug der Beschwerdeführer über den Rehabilitierungsantrag hinaus vor, dass er während der Ehe seiner Eltern massiven Gewaltexzessen des häufig betrunkenen Vaters ausgesetzt gewesen sei. Nach der Scheidung sei er ein Jahr zu früh eingeschult worden und damit überfordert gewesen. Durch die Einweisung in das Kinderheim sei er zusätzlich traumatisiert worden. Eine individuelle Persönlichkeitsbildung sei nicht möglich gewesen. Im Heim habe es seitens des Erziehungspersonals und auch unter den Kindern häufig Gewalt gegeben; Gewalt unter den Kindern sei von den Erziehern nicht geahndet, sondern das Opfer der Gewalt oft noch bestraft worden. Als er mit sieben Jahren Bettnässer geworden sei, sei dies mit Essensentzug und Strafarbeiten sowie Diskriminierung vor den anderen Kindern bestraft worden; Päckchen von zu Hause seien nicht weitergegeben worden. Schließlich sei behauptet worden, der Beschwerdeführer sei an einer latenten Epilepsie erkrankt.
Nach einer plötzlichen Entlassung aus dem Heim im Jahr 1966 habe der Beschwerdeführer erhebliche Probleme gehabt, sich an ein selbstbestimmtes Leben zu gewöhnen. In der Schule seien Störungen, für die er nicht verantwortlich gewesen sei, ihm vorgeworfen worden. Es habe eine Hetzkampagne gegen ihn gegeben, die dazu geführt habe, dass die Lehrerschaft sich geweigert habe, ihn weiter zu unterrichten. Damit sei die Einweisung in das Kombinat der Sonderheime eingeleitet worden. Das Heim sei von der Außenwelt abgeschnitten gewesen; Türen und Fenster der Einrichtung seien gesichert gewesen. Es habe Gruppenzwang geherrscht, gemeinsame Anstaltskleidung, Verbot des Postverkehrs, Verbot, Rundfunk und Fernsehen zu nutzen, finanzielle Unselbständigkeit. In der Aufnahmestation und auch später seien dem Beschwerdeführer ohne Grund und unter Anwendung körperlicher Gewalt Medikamente verabreicht worden, die zum Teil zu Unwohlsein, Erbrechen, Übelkeit, Kopfschmerz und motorischer Unruhe geführt hätten. Während der Nachtruhe mit anderen zu sprechen sei damit bestraft worden, dass man zum Teil zwei bis drei Stunden in den Toilettenraum eingeschlossen worden sei oder sportliche Übungen auf dem Appellplatz ohne angemessene Kleidung habe machen müssen. Es habe auch körperliche Übergriffe von Erziehern gegeben. Weiterhin habe es Übergriffe der Kinder untereinander gegeben. Das Klima in der Einrichtung sei wie ein Pulverfass gewesen. Kinder seien zum Teil wie Tiere in den Duschraum getrieben und unter kalte Duschen gestellt worden, bis sie sich wieder beruhigt hatten. In einem Urlaub bei seinen Eltern nach dem Schuljahr 1969 sei von einem Neurologen diagnostiziert worden, dass keine Epilepsie bestehe.
Die Verhaltensauffälligkeiten, die zu der Einweisung in den Jugendwerkhof T. geführt hätten, seien erst durch die Heimerziehung entstanden und könnten nicht als Begründung für die Einweisung im Jahr 1961 dienen. Die Unterbringung in den geschlossenen Heimen sei einer Freiheitsentziehung gleichzusetzen. Dies gelte insbesondere für das Leben im Kombinat der Sonderheime.
Der Beschwerdeschrift waren 16 Anlagen beigelegt, darunter Schreiben der Heimleitungen und Briefe des Beschwerdeführers aus seiner Zeit in den Heimen.
6. Mit Beschluss vom 10. März 2008 verwarf das Oberlandesgericht Naumburg die Beschwerde als unbegründet. Die Unterbringung in Jugendwerkhöfen der ehemaligen DDR sei zwar von der Rechtsprechung als Freiheitsentziehung im Sinne des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes gewertet worden. Ob das für die Unterbringung in Kinderheimen entsprechend gelte, sei zweifelhaft, könne aber dahinstehen. Jedenfalls komme eine Rehabilitierung nur in Betracht, wenn auch die übrigen Voraussetzungen nach § 1 StrRehaG gegeben seien, also die Einweisung mit wesentlichen Grundsätzen einer rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sei, was insbesondere dann der Fall sei, wenn die Entscheidung politischer Verfolgung gedient habe oder die angeordneten Rechtsfolgen in grobem Missverhältnis zu einer zugrunde liegenden Tat stünden. Für eine politische Verfolgung lägen hier keine Anhaltspunkte vor. Ebenso sei nicht ersichtlich, dass eine „Tat” des Beschwerdeführers die Anordnung der Unterbringung in einem Kinderheim zur Folge gehabt hätte. Hintergrund der Unterbringung seien vielmehr die ungünstigen Familienverhältnisse und daraus resultierende Erziehungsaspekte gewesen. Die Richtigkeit der Maßnahmen als solche zu überprüfen sei nicht Aufgabe des strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahrens.
Entscheidungsgründe
II.
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde die Verletzung seiner Menschenwürde nach Art. 1 GG sowie seines Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 GG und des Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 GG im Hinblick auf die ihm widerfahrene Behandlung in den verschiedenen Heimen.
Die Feststellung des Oberlandesgerichts, nicht eine Tat des Beschwerdeführers habe zu der Unterbringung geführt, sondern die ungünstigen familiären Verhältnisse, könne die Ablehnung des Antrags nicht begründen. Die Unterbringung sei zu einem sachfremden Zweck erfolgt; dies liege nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz schon vor, wenn der Zweck einer Maßnahme nur dazu diene, dem Betroffenen ein sozialistisches Menschenbild aufzuzwingen.
Weiterhin rügt der Beschwerdeführer sinngemäß eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG: Das Landgericht habe keine klare Entscheidung über seine örtliche Zuständigkeit getroffen. Schließlich rügt er sinngemäß auch eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG, indem er vorträgt, die Gerichte seien auf sein Vorbringen zu den Zuständen in dem Kombinat der Sonderheime nicht eingegangen.
III.
Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 3 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Ebenso ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 10. März 2008 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
a) Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen der Fachgerichte nur in einem eingeschränkten Umfang überprüft. Ihm obliegt keine Kontrolle dahin, ob die Fachgerichte das einfache Recht im Sinne einer größtmöglichen Gerechtigkeit richtig anwenden. Es greift vielmehr nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte ein. Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot dann verletzt, wenn die Rechtsanwendung oder das Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 83, 82 ≪84≫; 86, 59 ≪63≫; 87, 273 ≪278 f.≫; 96, 189 ≪203≫). Dabei enthält die Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf. Willkür ist im objektiven Sinne zu verstehen als eine Maßnahme, welche im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist (vgl. BVerfGE 83, 82 ≪84≫; 86, 59 ≪63≫), oder als die krasse Missdeutung des Inhalts einer Norm, durch die ein gesetzgeberisches Anliegen grundlegend verfehlt wird (vgl. BVerfGE 86, 59 ≪64≫; 87, 273 ≪279≫; 96, 189 ≪203≫).
b) Die angegriffene Entscheidung ist danach mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren.
aa) Nach § 1 Abs. 1 StrRehaG ist neben dem Vorliegen einer strafrechtlichen Verurteilung oder einer sonstigen eine Freiheitsentziehung anordnenden Entscheidung im Sinne des § 2 StrRehaG Voraussetzung für die Rehabilitierung, dass die Maßnahme mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar ist. § 1 Abs. 1 StrRehaG enthält zur Konkretisierung dieses Tatbestandsmerkmals in den Nrn. 1 und 2 zwei – nicht abschließende – Beispiele, was an der Verwendung des Wortes „insbesondere” deutlich wird: Die Maßnahme kann insbesondere deshalb mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen sein, weil die Entscheidung politischer Verfolgung gedient hat (Nr. 1) oder weil die angeordneten Rechtsfolgen in grobem Missverhältnis zu der zugrunde liegenden Tat stehen (Nr. 2).
Das Oberlandesgericht stellt diese gesetzlichen Voraussetzungen in seiner Entscheidung dar und prüft anschließend das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StrRehaG. Für eine politische Verfolgung lägen keine Anhaltspunkte vor. Bezüglich § 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG geht das Oberlandesgericht davon aus, dass es zu einer weiteren Prüfung nicht verpflichtet sei, da Anlass für die Unterbringung des Beschwerdeführers in den Heimen nicht eine bestimmte Tat, sondern die ungünstigen familiären Verhältnisse des Beschwerdeführers und daraus resultierende Erziehungsaspekte gewesen seien. Die Richtigkeit darauf beruhender Maßnahmen, die weder Strafe seien noch als solche verstanden werden könnten, als solche zu überprüfen sei jedoch nicht Aufgabe des strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahrens. Auch eine Prüfung des gesetzlichen Oberbegriffs – Unvereinbarkeit der Maßnahme mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung – unterbleibt.
Dieses Verständnis des § 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG erscheint schon in einfach-rechtlicher Hinsicht zweifelhaft: Das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz bezieht sich in erster Linie auf die Rehabilitierung wegen strafrechtlicher Verurteilungen, die jeweils an eine bestimmte Tat anknüpfen. Nach § 2 StrRehaG in seiner ursprünglichen Fassung war daneben eine Rehabilitierung nur für Einweisungen in psychiatrische Anstalten vorgesehen, die aus Gründen politischer Verfolgung oder zu sonstigen sachfremden Zwecken erfolgten. Infolge einer Änderung des § 2 StrRehaG durch Gesetz vom 23. Juni 1994, BGBl I S. 1311, erfasst das Gesetz nunmehr aber auch außerhalb eines Strafverfahrens ergangene Entscheidungen, mit denen eine Freiheitsentziehung angeordnet wurde. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu ausdrücklich, § 2 werde auf alle rechtsstaatswidrigen Freiheitsentziehungen ausgedehnt, die außerhalb von Strafverfahren erfolgten (vgl. BRDrucks 92/93, S. 149). Im Hinblick darauf kann der Begriff der „Tat” im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG nicht nur als eine bestimmte möglicherweise strafrechtlich relevante Verhaltensweise, sondern muss allgemein als der Anlass für die die Freiheitsentziehung anordnende Entscheidung verstanden werden. Anderenfalls verlöre die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Gesetzes auf Freiheitsentziehungen, die außerhalb eines Strafverfahrens angeordnet wurden, nach § 2 StrRehaG ihren Sinn. In diesem Sinne muss es auch Aufgabe des strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahrens sein, das Vorliegen eines Missverhältnisses zwischen dem Anlass für die die Freiheitsentziehung anordnende Entscheidung und den angeordneten Rechtsfolgen zu prüfen.
Im Übrigen hätte das Oberlandesgericht selbst bei Zugrundelegung seiner Auslegung nach der oben dargelegten Systematik des Gesetzes prüfen müssen, ob die – nach seiner Auffassung eventuell vorliegende – Freiheitsentziehung in sonstiger Weise mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar war. Eine solche Prüfung unterblieb jedoch.
bb) Diese Anwendung des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes durch das Oberlandesgericht hält den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht stand.
Die Annahme des Oberlandesgerichts, nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz seien nur Maßnahmen rehabilitierungsfähig, die durch eine strafrechtlich relevante Tat veranlasst worden seien, führt – im Hinblick auf § 2 StrRehaG sinnwidrig und im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung in § 1 Abs. 1 StrRehaG auch über den Wortlaut des Gesetzes hinaus – zu einer Beschränkung der Rehabilitierung von Freiheitsentziehungen auf Fälle, denen eine von der DDR-Justiz als strafrechtlich relevant eingeordnete Tat zugrunde gelegen hat. Mit dieser Auslegung wird die gesetzgeberische Intention, durch die Erweiterung des § 2 StrRehaG auch außerhalb eines Strafverfahrens angeordnete Freiheitsentziehungen, auch über Einweisungen in psychiatrische Anstalten hinaus, rehabilitierungsfähig zu machen, zunichte gemacht. Der Anwendungsbereich des Gesetzes wird dadurch in nicht vertretbarer, weil dem gesetzgeberischen Willen entgegenstehender Weise verengt. Es handelt sich um eine krasse Missdeutung des Inhalts der Norm, die auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht.
2. Ob die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der weiteren Rügen begründet ist, kann hier dahinstehen, da bereits die festgestellte Grundrechtsverletzung die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung erfordert.
3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Die Zurückverweisung gibt dem Oberlandesgericht auch Gelegenheit, bei seiner erneuten Entscheidung den ausführlichen Vortrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Umstände der Unterbringung in den verschiedenen Heimen und deren Auswirkungen auf die Einordnung der Unterbringung als Freiheitsentziehung und auf die Frage der Unvereinbarkeit der Maßnahme mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung, insbesondere auf das Vorliegen eines groben Missverhältnisses der angeordneten Rechtsfolgen im Verhältnis zu der zugrunde liegenden Tat im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG, zu berücksichtigen.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Broß, Di Fabio, Landau
Fundstellen
Haufe-Index 2175863 |
EuGRZ 2009, 401 |
LKV 2009, 315 |
NJ 2010, 175 |
DVBl. 2009, 909 |