Verfahrensgang
OLG Hamm (Beschluss vom 24.06.2004; Aktenzeichen 3 Ws 261/04) |
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 24. Juni 2004 – 3 Ws 261/04 – verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Darlegungsanforderungen für einen Klageerzwingungsantrag nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO.
I.
1. Gegen die Beschwerdeführerin ist im April 2003 ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum illegalen Aufenthalt und Verstoßes gegen die Abgabenordnung eingeleitet worden. Dem lag eine Aussage zweier Bediensteter der Arbeitsverwaltung zu Grunde, die angegeben hatten, eine männliche Person bei der Verrichtung von handwerklichen Arbeiten in der Wohnung der Beschwerdeführerin beobachtet zu haben. Der Mann habe ein Fenster von innen abgeklebt. Wenig später wurde ein polnischer Staatsangehöriger beim Verlassen des Gebäudekomplexes verhaftet.
2. Die Beschwerdeführerin begehrt die strafrechtliche Verfolgung dieser Mitarbeiter. Sie erstattete mit Schriftsatz vom 9. September 2003 Strafanzeige wegen des Verdachts der falschen Verdächtigung. Das hierauf von der Staatsanwaltschaft Essen eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde durch Verfügung vom 4. Februar 2004 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Mit Bescheid vom 2. April 2004 wies die Generalstaatsanwaltschaft Hamm die mit Schreiben vom 1. März 2004 erhobene Beschwerde zurück.
3. Den hiergegen gerichteten Klageerzwingungsantrag verwarf das Oberlandesgericht Hamm mit Beschluss vom 24. Juni 2004 als unzulässig, weil ihm nicht entnommen werden könne, ob die Beschwerdefrist des § 172 Abs. 1 StPO gewahrt worden sei.
In der Antragsschrift sei der Eingang der Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft Hamm oder der Tag der Absendung des Antrags nicht angegeben worden. Vielmehr habe der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin lediglich mitgeteilt, dass gegen den am 24. Februar 2004 eingegangenen Einstellungsbescheid mit Schreiben vom 1. März 2004 Beschwerde beim Generalstaatsanwalt eingelegt worden sei. Diese Darstellung lasse offen, ob die Beschwerdeschrift innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 172 Abs. 1 StPO bei der Generalstaatsanwaltschaft eingegangen sei. Denn der alleinigen Nennung des Datums lasse sich nicht entnehmen, wann der Schriftsatz tatsächlich zur Post gegeben worden sei. Nach allgemeinem Sprachgebrauch könne der gebrauchten Formulierung nur entnommen werden, dass die Beschwerdeschrift an diesem Tag abgefasst worden sei. Einen Erfahrungssatz des Inhalts, dass anwaltliche Schreiben unverzüglich nach ihrer Erstellung in den Postlauf gegeben oder sonst an ihren Adressaten übermittelt würden, gebe es jedoch nicht. Vielmehr sei es ohne weiteres möglich, dass ein Schriftsatz aus Gründen des internen Arbeitsablaufs in der Kanzlei erst mehrere Tage nach dem Datum seiner Erstellung herausgegeben werde. Auch die Tatsache, dass die Beschwerdefrist vorliegend erst am 9. März 2004 abgelaufen sei, führe nicht dazu, dass sich die Einhaltung der Frist aufdränge.
4. Mit der am 21. Juli 2004 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG.
Die Auffassung des Oberlandesgerichts, dass mit der Angabe der Daten im vorliegenden Fall die Einhaltung der Frist nicht hinreichend deutlich dargelegt sei, überspanne die Voraussetzungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO. Vielmehr ergebe sich aus den Darlegungen der Antragsschrift offensichtlich, dass die Fristen gewahrt worden sind.
5. Das Bundesverfassungsgericht hat den Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt, auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgebliche verfassungsrechtliche Frage der Anforderungen an die Darlegung eines Antrags nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass es die Beschwerdeführerin unterlassen hat, die staatsanwaltschaftlichen Bescheide vorzulegen. Denn Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist allein die Frage, ob die Auslegung der nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO erforderlichen Formvoraussetzungen durch das Oberlandesgericht die Rechte der Beschwerdeführerin verletzt. Die zur Beurteilung dieser Frage erforderlichen Unterlagen – den Klageerzwingungsantrag und den Beschluss des Oberlandesgerichts – hat die Beschwerdeführerin jedoch fristgerecht eingereicht.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.
a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfach-gesetzlichen Verfahrensordnungen, sondern garantiert auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Der Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 ≪274 f.≫; 78, 88 ≪99≫; 88, 118 ≪124≫). Dies muss auch der Richter bei der Auslegung prozessualer Normen beachten. Er darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch eine überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leer laufen” lassen (vgl. BVerfGE 77, 275 ≪284≫; 96, 27 ≪39≫). Soweit die einschlägigen Verfahrensregeln einen Auslegungsspielraum lassen, darf ein Gericht diesen nicht in einem Sinn ausfüllen, der zu einem Widerspruch mit den Prinzipien des Grundrechts auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz führen würde (vgl. BVerfGE 88, 118 ≪125≫).
b) Diesen Anforderungen genügt die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht.
Zwar begegnet die Auffassung, dass ein Antragsteller im Klageerzwingungsverfahren für einen zulässigen Antrag auf gerichtliche Entscheidung auch die Einhaltung der Beschwerdefrist des § 172 Abs. 1 StPO darzulegen hat, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. zuletzt Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 2003 – 2 BvR 1465/01 –, NJW 2004, S. 1585 m.w.N.). Denn durch die Darlegungsanforderungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO sollen die Oberlandesgerichte vor einer Überlastung durch unsachgemäße und unsubstanziierte Anträge bewahrt und ohne Studium der Akten in den Stand versetzt werden, durch eine „Schlüssigkeitsprüfung” das Vorliegen der formellen Zulässigkeitsvoraussetzungen zu überprüfen (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 28. November 1999 – 2 BvR 1339/98 –, NJW 2000, S. 1027). Die Anforderungen tragen damit zur Effektivität des Rechtsschutzes bei.
Die Darlegungsanforderungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO sind aber nicht als „formalistischer Selbstzweck” zu verstehen. Es wäre daher mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu vereinbaren, wenn der Antragsteller die Einhaltung der Beschwerdefrist nur mit der Angabe des Eingangsdatums der Beschwerdeschrift bei der Generalstaatsanwaltschaft – die er regelmäßig nur durch eine Akteneinsicht in Erfahrung bringen kann – darlegen könnte. Denn die Qualtitätsmerkmale der Briefbeförderung nach § 2 Nr. 3 Satz 1 der Post-Universaldienstverordnung vom 15. Dezember 1999 (BGBl I S. 2418, zuletzt geändert durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Postgesetzes vom 30. Januar 2002, BGBl I S. 572) gewährleisten grundsätzlich, dass ein Schreiben zwei Postbeförderungstage nach dem Einlieferungstag beim Adressaten eingeht. Dem Erfordernis einer hinreichenden Darlegung der Einhaltung der Beschwerdefrist ist daher auch dann Genüge getan, wenn der Antragsteller den Posteinwurftag der Beschwerdeschrift angibt und danach noch zwei Postbeförderungstage bis zum Ablauf der Beschwerdefrist verbleiben. Damit ist dargetan, dass der Antragsteller seinerseits alles Erforderliche getan hat, um die Beschwerde fristgerecht einzureichen. Vorsorgliche Darlegungen für den Fall einer außergewöhnlich langen Postlaufzeit sind vor Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu rechtfertigen (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 2003 – 2 BvR 1465/01 –, NJW 2004, S. 1585).
Die Beschwerdeführerin hat vorliegend jedoch nur das Datum ihres Schreibens angegeben. Wann die Beschwerdeschrift zur Post gebracht wurde, lässt sich den Darlegungen der Antragsschrift nicht entnehmen. Auch diese Angabe genügt bei lebensnaher Betrachtungsweise jedoch den Darlegungsanforderungen, wenn nach Abfassung der Beschwerdeschrift noch eine hinreichend lange Zeit verbleibt, bei der unter Berücksichtigung normaler Postlaufzeiten davon auszugehen ist, dass die Beschwerde fristgerecht eingegangen war. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, dass die Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm, auch beim Verbleib von fünf Postbeförderungstagen nach Abfassung der Beschwerdeschrift könne nicht von der Einhaltung der Zwei-Wochenfrist ausgegangen werden, nicht mehr vertretbar ist (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Oktober 1996 – 2 BvR 502/96 –, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Februar 1999 – 2 BvR 1201/98 – und Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juni 2003 – 2 BvR 1659/01 – für eine verbleibende Postlaufzeit von neun Tagen). Dies gilt in besonderer Weise, wenn – wie hier – die ablehnende Entscheidung des Generalstaatsanwalts nicht auf die Versäumung der Beschwerdefrist gestützt war und für den Antragsteller so kein Anlass bestand, diesem Umstand in seinem Klageerzwingungsantrag besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Die im vorliegenden Fall vom Oberlandesgericht vertretene Auffassung, aus der verbleibenden Zeit von acht Tagen bis zum Ablauf der Frist könne nicht auf die Einhaltung der Frist geschlossen werden, verkennt daher die aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgenden Maßstäbe. Den Angaben der Antragsschrift kann die Einhaltung der Beschwerdefrist vielmehr schlüssig entnommen werden.
Weil das Oberlandesgericht seine Unzulässigkeitsentscheidung ausschließlich auf die mangelnde Mitteilung der für die Kontrolle der Beschwerdefrist des § 172 Abs. 1 StPO erforderlichen Daten stützt, ist der Beschluss aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Jentsch, Broß, Gerhardt
Fundstellen