Verfahrensgang
Landesberufsgericht Stuttgart (Urteil vom 10.12.1994; Aktenzeichen 4/1994) |
Bezirksberufsgericht Freiburg (Urteil vom 08.06.1994; Aktenzeichen 1/1994) |
Tenor
Die Urteile des Landesberufsgerichts für Ärzte in Stuttgart vom 10. Dezember 1994 – 4/1994 – und des Bezirksberufsgerichts für Ärzte in Freiburg vom 8. Juni 1994 – 1/1994 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Bezirksberufsgericht für Ärzte in Freiburg zurückverwiesen.
Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine berufsgerichtliche Verurteilung eines Arztes wegen berufsunwürdigen Verhaltens.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin. Mit einem an den Chefarzt des Kreiskrankenhauses A. gerichteten und nachrichtlich an die Abrechnungsstelle O. der Kassenärztlichen Vereinigung und die AOK O. übermittelten Schreiben vom 16. November 1991 äußerte der Beschwerdeführer sich über die im Kreiskrankenhaus erfolgte stationäre Behandlung einer Patientin, die er zuvor als Hausarzt betreut hatte. In dem Schreiben kritisierte er die Anamneseerhebung durch die namentlich bezeichneten Ärzte Dr. Bi. und Dr. Be., die fehlende Kontaktaufnahme zu ihm als Hausarzt, die eingeleitete Therapie sowie die zwischenzeitlich erfolgte Verlegung der Patientin in eine andere Klinik. Das Schreiben enthielt unter anderem folgende Äußerungen:
Dr. Bi. erhob eine etwas dünn geratene Anamnese. Dadurch entging ihm bei der Rekonstruktion der vergangenen 2 Jahre die komplette Medikamentenanamnese. … Auch als er nach Ablauf einer teuren stat. Woche sie einvernehmlich mit Ihrem OA Be. nach P. weiterzuexpedieren gedachte, kam er nicht auf die Idee, letztere mit dem Hausarzt zu ventilieren. … Ich bin sicher, wenn sie sich an mich, der ich präsent war oder an die anderen niedergelassenen Kollegen im A. gewandt hätte, hätte man vorübergehend die bestehende Therapie ausgebaut und ergänzt und die Pat wäre zuhause geblieben. Das alles kümmert aber die Herren Bi./Be. nicht. Es ist ja nicht deren Geld, das sie da aus den Hosen anderer fließen lassen!
Jedenfalls bekam Frau A. die suffizienteste aller suffizienten Rheumatherapien verpasst. Methotrexat wurde im autokonservierten Unwissen abgesetzt, das Unwissen mitsamt Patientin nach P. transferiert. Es ist also nur eine Frage der Zeit, wann das Grundleiden die Patientin wieder in den Rollstuhl zurücksteift.
Aber Sie werden das sicher zu verhindern wissen und veranlassen, daß mein Schreiben auch in P. bekannt wird. Ich persönlich meine, daß der Vorgang auch unserer KV und der Kostenträgerin AOK zur Kenntnis gebracht werden muß. Zusammenfassend erscheint mir folgendes bemerkenswert: Mitarbeiter Ihres Hauses haben sich an einer kleinen regionalen Eruption der „Kostenexplosion im Gesundheitswesen” nicht unerheblich beteiligt. Eine Selbsteinweisung wurde nicht hinterfragt und hinterrücks des Hausarztes akzeptiert und mit Weiterleitung nach P. expandiert.
Die Basisfähigkeiten des Arztes Dr. Bi. erwiesen sich dabei als dringend entwicklungsbedürftig (Anamnese-Erhebung, Kooperation mit dem Hausarzt). Steht er nicht bei Ihnen in supervisionierter Ausbildung?
Mit einer therapeutischen Meisterleistung wurde eine 2 Jahre erfolgreiche Rheumatherapie beseitigt. Die Beseitigungskosten und die des zu erwartenden Rückschlags trägt freundlicherweise selbstverständlich die AOK. Dieser gegenüber sind ja bloß wir niedergelassenen Kassenärzte regresspflichtig!!
Der zuständige Oberarzt erwies sich mir gegenüber in einem Tel vom 14.11. als fußballbundesligaverdächtiger „Manndecker”: Sowohl Kollege Bi. wie er hätten sich demnach absolut korrekt verhalten. Die Dumme sei die Patientin gewesen. Die habe schließlich den armen Kollegen Bi. nicht an ihrem anamnestischen Wissen teilnehmen lassen.
2. Das Bezirksberufsgericht hat den Beschwerdeführer daraufhin wegen berufsunwürdigen Verhaltens zu einer Geldbuße von 1.000 DM verurteilt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Der Beschwerdeführer habe mit seinem Brief gegen § 19 Abs. 1 der Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg (nachfolgend: BO) verstoßen und sich damit zugleich berufsunwürdig verhalten. Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 BO hätten sich Ärzte untereinander kollegial und rücksichtsvoll zu verhalten. Unsachliche Kritik an der Behandlungsweise oder dem beruflichen Wissen eines Arztes sowie herabsetzende Äußerungen über seine Person seien berufsunwürdig (§ 19 Abs. 1 Satz 3 BO).
Der objektive Erklärungswert im Einzelnen zitierter Sätze aus dem Schreiben des Beschwerdeführers sei: Die Ärzte Dr. Bi. und Dr. Be. würden hinsichtlich ihres beruflichen Wissens und ihrer Person rücksichtslos herabgesetzt. Von hoher Warte aus, gewissermaßen in einer angemaßten Schiedsrichterrolle, würden die beiden Ärzte mit ironischen, beleidigenden Worten bedacht, als ärztliche Trottel hingestellt, die mit veralteter Therapie arbeiteten.
Damit seien die Grenzen einer sachlichen Information weit überschritten, Gründe für die Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht erkennbar. Dass die briefliche Äußerung des Beschwerdeführers durch die Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG nicht gedeckt sei, folge schon aus der Tatsache, dass § 19 Abs. 1 BO dieser Freiheit eine nach Art. 5 Abs. 2 GG zulässige Schranke ziehe, die der Beschwerdeführer nicht beachtet habe. Der Arzt, der Kollegen gegenüber Dritten hinsichtlich deren Person und Fachwissen herabsetze, beeinträchtige das Ansehen der Ärzteschaft, denn er säe Zweifel hinsichtlich der beruflichen Verlässlichkeit der Ärzte.
3. Die hiergegen eingelegte Berufung hat das Landesberufsgericht verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Nach § 29 Kammergesetz Baden-Württemberg (nachfolgend: KG) und § 1 Abs. 3 BO sei der Arzt verpflichtet, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben und dem ihm im Zusammenhang mit seinem Beruf entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Demgemäß hätten sich Ärzte untereinander kollegial und rücksichtsvoll zu verhalten (§ 19 Abs. 1 Satz 1 BO); unsachliche Kritik an der Behandlungsweise oder dem beruflichen Wissen eines Arztes sowie herabsetzende Äußerungen über seine Person seien deshalb berufsunwürdig (§ 19 Abs. 1 Satz 3 BO).
Gegen diese Berufspflichten habe der Beschwerdeführer aus den im angefochtenen Urteil des Bezirksberufsgerichts auszugsweise wiedergegebenen Gründen grob verstoßen. Es stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die im Schreiben des Beschwerdeführers geübte Kritik an der Anamnese und der Therapie der Patientin sowie der Verlegung der Patientin in das Fachkrankenhaus verfehlt gewesen sei. Sein nicht der Wahrnehmung berechtigter Interessen dienendes Verhalten lasse sich auch aus dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung weder rechtfertigen noch entschuldigen. § 19 Abs. 1 BO ziehe mit Rücksicht auf das im überrangigen Interesse der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes notwendige Ansehen der Ärzteschaft und dem Arzt im Zusammenhang mit dem Beruf entgegengebrachten Vertrauen eine nach Art. 5 Abs. 2 GG zulässige Schranke, die der Beschwerdeführer nicht beachtet habe.
§ 19 Abs. 1 Satz 3 BO diene der Gesundheit des Patienten, der nicht dadurch in seinem notwendigen Vertrauen zu ärztlichem Tun verunsichert werden solle, dass vorschnell Kritik in unsachlicher Form geäußert werde. Wer deshalb wie der Beschwerdeführer gegenüber Dritten die berufliche Verlässlichkeit der beiden Ärzte in einem unqualifizierten, weitgehend in überheblich-polemischer Form verfassten Rundumschlag hinsichtlich der Person, des Fachwissens und der Behandlungsziele in Zweifel ziehe, schädige zum Nachteil der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes das Ansehen der ganzen Ärzteschaft, handele somit berufsunwürdig.
Im Rahmen der Erwägungen zur Angemessenheit der verhängten Geldbuße hat das Gericht berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer die beiden Ärzte nicht nur bei ihrem Chef anzuschwärzen versucht habe, sondern seine unsachliche Kritik absichtlich durch nachrichtliche Übermittlung an die Kassenärztliche Vereinigung und die AOK weiteren Kreisen zugänglich gemacht habe, wodurch den beiden Ärzten, dem Ruf des Kreiskrankenhauses und dem Ansehen der gesamten Ärzteschaft schwerer Schaden zugefügt worden sei. Ferner hat das Gericht berücksichtigt, dass zwischen dem Beschwerdeführer und den Ärzten im Kreiskrankenhaus seit Jahren Dissonanzen bestünden.
4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Er macht im Wesentlichen geltend:
Sämtliche Äußerungen in seinem Schreiben seien vom Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt. Deshalb müsse Art. 5 Abs. 1 GG berücksichtigt werden, wenn es um die Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Vorschriften gehe. Soweit erkennbar werde dies zumindest vom Landesberufsgericht auch so gesehen.
Das Landesberufsgericht habe jedoch den Einfluss des Grundrechts der Meinungsfreiheit insoweit verkannt, als es sich unter mehreren objektiv möglichen Deutungen der inkriminierten Äußerungen für die zur Verurteilung führende entschieden habe, ohne die anderen unter Angabe überzeugender Gründe auszuschließen. Das Landesberufsgericht habe wie das Bezirksberufsgericht das Schreiben dahin interpretiert, dass es dem Beschwerdeführer nicht um eine sachliche Information, sondern darum gegangen sei, die beiden Ärzte quasi als Trottel hinzustellen, die unärztlich und mit veralteter Therapie arbeiteten.
Der eigentliche von ihm verfolgte Zweck, die durch die fehlende Rücksprache zwischen den Krankenhausärzten und ihm als Hausarzt bedingte Verursachung unnötiger hoher und überflüssiger Therapiekosten zu kritisieren, sei vom Landesberufsgericht hingegen trotz sich nach dem Inhalt des Schreibens aufdrängender Anhaltspunkte und seiner diesbezüglichen Hinweise in der Hauptverhandlung völlig ignoriert worden.
Für die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Entscheidungen könne es nicht darauf ankommen, ob die im Kreiskrankenhaus verordnete Therapie „richtig” gewesen sei oder nicht. Entscheidend sei hingegen, dass sich die Äußerungen des Beschwerdeführers objektiv zumindest auch in der dargelegten Weise verstehen ließen, die von den Gerichten nicht einmal erwähnt und schon gar nicht mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sei.
Das Landesberufsgericht werde dem besonderen Wertgehalt des Grundrechts der Meinungsfreiheit nicht gerecht. Zu Unrecht messe es dem Schutz der Gesundheit des Einzelnen wie auch der öffentlichen Gesundheit ein größeres Gewicht bei, das dem § 19 Abs. 1 Satz 3 BO als einem „allgemeinen Gesetz” im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG bei der Abwägung gegenüber dem Wertgehalt des Grundrechts der Meinungsfreiheit zukomme. Der Gedanke des Schutzes der Gesundheit, soweit dieser über die Wahrung des Ansehens der Ärzteschaft gewährleistet werden solle, müsse im Lichte der für ein demokratisches Gemeinwesen konstituierenden Bedeutung der Meinungsfreiheit gesehen werden, zumal dann, wenn die Meinungsäußerung im Interesse der (öffentlichen) Gesundheit erfolge und mit ihr eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage, nämlich die finanzielle Seite – und damit schließlich die Finanzierbarkeit – der (öffentlichen) Gesundheit, angesprochen werde.
Daher habe es dem Beschwerdeführer auch nicht verwehrt sein können, seine Kritik weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Das Ansehen der Ärzteschaft und damit möglicherweise auch der Schutz der (öffentlichen) Gesundheit würden nicht dadurch tangiert, dass Fehler – seien es Behandlungsfehler, seien es unwirtschaftliche Behandlungsweisen oder Ähnliches – in der Öffentlichkeit angesprochen bzw. aufgedeckt würden. Das Ansehen der Ärzteschaft könne allenfalls dadurch beeinträchtigt werden, dass solche Fehler der Öffentlichkeit vorenthalten, dann aber durch „Indiskretion” aufgedeckt würden.
5. Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich das Sozialministerium Baden-Württemberg und der Landeskammeranwalt beim Landesberufsgericht für Ärzte geäußert.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie ist offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 und 2 BVerfGG).
1. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
a) Die Äußerungen, deretwegen der Beschwerdeführer mit einem Bußgeld belegt worden ist, genießen den Schutz von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Grundrechtsschutz entfällt insbesondere nicht deshalb, weil die Kritik nach den Feststellungen des Landesberufsgerichts inhaltlich verfehlt war und in ironisch-abschätziger Form verfasst war. Denn Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die Meinungskundgabe unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪289≫). Auch die polemische oder verletzende Formulierung der Aussage entzieht sie nicht dem Schutzbereich des Grundrechts, da der Schutz sich auch auf die Form der Äußerung erstreckt (vgl. BVerfGE 54, 129 ≪138 f.≫; 61, 1 ≪7 f.≫).
b) In der Verhängung des Bußgeldes gegen den Beschwerdeführer wegen seiner Äußerungen liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit.
c) Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährleistet. Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet es seine Schranke in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Dazu gehören auch § 54 KG und § 19 BO, auf die die Berufsgerichte ihre Verurteilung gestützt haben und gegen deren Verfassungsmäßigkeit Bedenken nicht vorgebracht worden sind. Soweit die Gerichte die erst nach dem hier maßgeblichen Tatzeitpunkt in Kraft getretene Fassung der Berufsordnung zugrunde gelegt haben, hat der Beschwerdeführer dies mit Blick auf die mit § 19 Abs. 1 Satz 3 BO inhaltsgleiche Regelung in § 16 Abs. 1 Satz 3 BO der bis 1992 geltenden Fassung nicht gerügt.
d) Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine berufsgerichtliche Verurteilung wegen Verletzung standesrechtlicher Vorschriften. Die Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften im einzelnen Fall ist Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92≫; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 24. September 1993, MedR 1994, S. 151). Dabei haben diese jedoch das eingeschränkte Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪208 f.≫).
aa) Das erfordert auf der Stufe der Normauslegung eine Abwägung zwischen der Bedeutung der Meinungsfreiheit einerseits und des Rechtsguts, in dessen Interesse sie eingeschränkt worden ist, andererseits. Eine Gesetzesauslegung, die an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik überhöhte Anforderungen stellt, ist mit Art. 5 Abs. 1 GG unvereinbar (vgl. BVerfGE 42, 163 ≪170≫).
bb) Auf der Stufe der Normanwendung verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die dem von der einschränkenden Norm geschützten Rechtsgut auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht, bei der alle wesentlichen Umstände des Falles zu berücksichtigen sind. Das Ergebnis dieser Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist allerdings anerkannt, dass die Meinungsfreiheit regelmäßig zurücktreten muss, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde oder als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellt. Anderenfalls kommt es für die Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter an. Bei Äußerungen, die einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung darstellen, spricht eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede. Bei Äußerungen, die im Zuge einer ausschließlich privaten Auseinandersetzung gefallen sind, gilt hingegen keine derartige Vermutungsregel (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪293 f.≫).
cc) Voraussetzung jeder Abwägung ist, dass der Sinn einer Äußerung zutreffend erfasst wird. Der Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheit wird verkannt, wenn die Gerichte ihrer Beurteilung eine Äußerung zugrunde legen, die so nicht gefallen ist, wenn sie dieser einen Sinn geben, den sie nach dem festgestellten Wortlaut objektiv nicht hat, oder wenn sie sich unter mehreren objektiv möglichen Deutungen für die zur Verurteilung führende entscheiden, ohne die anderen unter Angabe überzeugender Gründe auszuschließen (vgl. BVerfGE 43, 130 ≪136 f.≫; 93, 266 ≪295 f.≫).
Die Auslegung selbst hat vom Wortlaut der Äußerung auszugehen, darf aber auch den sprachlichen Kontext, in dem sie steht, sowie die für den Rezipienten erkennbaren Begleitumstände, unter denen sie gefallen ist, nicht unberücksichtigt lassen. Die isolierte Betrachtung eines bestimmten Äußerungsteils oder Satzes wird den Anforderungen einer zuverlässigen Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪295≫).
e) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.
aa) Allerdings leiden die Entscheidungen der Gerichte nicht an einem beachtlichen Fehler auf der Deutungsebene.
Nach dem Verständnis der Gerichte beinhaltete das Schreiben eine unsachliche Kritik an der Behandlungsweise und dem beruflichen Wissen der Ärzte im Kreiskrankenhaus, die Ärzte seien quasi als Trottel hingestellt worden, die unärztlich und mit veralteter Therapie arbeiteten. Diese Deutung ist nachvollziehbar.
Zwar kann es für die Beurteilung der Sachlichkeit der Kritik keine Rolle spielen, ob sie aus medizinischer Sicht zutreffend war. Sachlichkeit setzt nicht inhaltliche Richtigkeit voraus. Soweit das Landesberufsgericht festgestellt hat, dass die Kritik des Beschwerdeführers an der Behandlung in der Sache verfehlt war, und dies als Argument für die Unsachlichkeit der Kritik gebraucht hat, kann dem daher nicht gefolgt werden.
Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass das Deutungsergebnis fehlerhaft wäre. Denn die Gerichte haben unabhängig von der Berechtigung der Kritik die auf die Personen der Ärzte bezogenen Äußerungen als unsachlich und herabsetzend eingestuft. Hiergegen bestehen keine Bedenken.
Auch ergibt sich aus dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten Zweck seines Schreibens keine Deutungsalternative. Motiv und Anlass der Äußerung geben der Kritik an der Behandlungsweise und dem beruflichen Wissen der Ärzte keinen anderen Bedeutungsinhalt. Ebenso wenig vermag der Zweck der Äußerung die Beurteilung zu beeinflussen, ob die Kritik selbst unsachlich ist. Die Frage der Sachlichkeit lässt sich im hier maßgeblichen Zusammenhang nur nach der Art, dem Inhalt und der Form der Kritik beantworten. Die Gerichte haben in dieser Hinsicht Unsachlichkeit der Kritik bejaht, weil sie in einer die betroffenen Ärzte disqualifizierenden Form angebracht worden ist. Das ist nicht zu beanstanden.
bb) Auch auf der Ebene der Normauslegung bestehen verfassungsrechtliche Bedenken nicht. Die Gerichte haben prinzipiell keine überhöhten Anforderungen an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik in Bezug auf die Behandlungsweise oder das berufliche Wissen eines anderen Arztes gestellt. Indem sie die Wahrnehmung berechtigter Interessen geprüft haben, sind sie von einem Verständnis der Sanktionsnorm ausgegangen, welches die verfassungsrechtlich gebotene Berücksichtigung der Belange der Meinungsfreiheit grundsätzlich ermöglicht.
cc) Jedoch sind die Gerichte den verfassungsrechtlichen Anforderungen auf der Ebene der Normanwendung nicht gerecht geworden. Sie haben die im Rahmen der Prüfung der Frage der Wahrnehmung berechtigter Interessen gebotene fallbezogene Abwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem Rechtsgut, dessen Schutz die einschränkende Norm bezweckt, unterlassen bzw. unzureichend vorgenommen.
(1) Das Bezirksberufsgericht hat eine Abwägung vollkommen unterlassen. Es hat ohne nähere Begründung und ohne auf die konkreten Umstände des Falles einzugehen lediglich apodiktisch festgestellt, die Meinungsfreiheit werde durch § 19 BO eingeschränkt und Gründe für die Wahrnehmung berechtigter Interessen seien nicht erkennbar.
(2) Das Landesberufsgericht hat zwar im Ansatz eine Abwägung unternommen, hierbei jedoch die Bedeutung und Tragweite des Grundrechtsschutzes aus Art. 5 GG verkannt und sich mit der Schwere der Beeinträchtigung des kollidierenden Rechtsguts unzureichend befasst.
Es hat unter dem Blickwinkel der Wahrnehmung berechtigter Interessen allein geprüft, ob die Äußerungen zum Schutz der Patientin veranlasst waren. Unberücksichtigt geblieben ist jedoch, dass das Schreiben ersichtlich von dem Sachanliegen geprägt war, die aus Sicht des Beschwerdeführers mangelnde Kooperation zwischen Hausarzt und Krankenhaus und die dadurch verursachten Behandlungskosten zu kritisieren. Das Landesberufsgericht hat sich damit der Erkenntnis verschlossen, dass es sich um eine – von einer konkreten Erfahrung bestimmte – Stellungnahme zur Kostenentwicklung im Gesundheitswesen handelte und das Schreiben damit eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage betraf, so dass eine Vermutung für die Freiheit der Rede spricht.
Diese Gesichtspunkte, die die Belange der Meinungsfreiheit kennzeichnen und den Grad ihrer Beeinträchtigung im Falle der Unterdrückung der Meinungsäußerung bestimmen, können nicht von vornherein durch das mit der Meinungsfreiheit kollidierende Schutzgut überspielt werden. Das Landesberufsgericht verkennt demgemäß die Bedeutung und Tragweite des Grundrechtsschutzes aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, wenn es mit Blick auf den Schutzzweck des § 19 Abs. 1 Satz 2 BO folgert, es seien bei einem Eingriff in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit andere Maßstäbe anzusetzen als bei einem Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz. Das Landesberufsgericht geht – von der Verfassungsbeschwerde nicht in Frage gestellt – davon aus, dass § 19 Abs. 1 Satz 3 BO der Gesundheit des Patienten dient, der nicht dadurch in seinem notwendigen Vertrauen zu ärztlichem Tun verunsichert werden soll, dass vorschnell Kritik in unsachlicher Form geäußert wird. In die Abwägung ist damit zwar nicht die persönliche Ehre der von den Äußerungen betroffenen Ärzte einzustellen, wohl aber die Volksgesundheit. Dies macht aber eine Abwägung unter Berücksichtigung der jeweiligen Schwere der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit einerseits und des kollidierenden verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts andererseits nicht entbehrlich. Dabei können auf Seiten der Meinungsfreiheit keine anderen Maßstäbe gelten als sonst auch. Deshalb darf der Kommunikationszusammenhang auch hier nicht unberücksichtigt bleiben. Betrifft – wie vorliegend – die Äußerung eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage, droht die erhöhte Repression im Einzelfall zu einschüchternden Auswirkungen auf den Kommunikationsprozess insgesamt zu führen. Diese Gefahr besteht unabhängig davon, ob die Kommunikation aus Gründen des Ehrenschutzes oder der Volksgesundheit eingeschränkt wird.
Das Landesberufsgericht hat überdies nicht nur die fallbezogenen Belange der Meinungsfreiheit in der Abwägung unberücksichtigt gelassen. Es hat sich auch nicht mit der Schwere der Beeinträchtigung des durch § 19 Abs. 1 Satz 3 BO geschützten Rechtsguts befasst. Die angegriffene Entscheidung verhält sich nicht darüber, in welchem Maße durch die hier inkriminierten Äußerungen das notwendige Vertrauen der Patienten zu ärztlichem Tun konkret beeinträchtigt worden ist. Die Feststellung des Landesberufsgerichts im Rahmen der Erwägungen zur Sanktionszumessung, den beiden Ärzten, dem Ruf des Kreiskrankenhauses und dem Ansehen der gesamten Ärzteschaft sei schwerer Schaden zugefügt worden, ist nicht näher begründet worden und findet auch im Sachverhalt keine hinreichende Stütze. Gegen eine erhebliche Beeinträchtigung spricht bereits, dass der Beschwerdeführer das Schreiben nicht einem breiten Kreis möglicher Patienten der kritisierten Ärzte zugänglich gemacht hat. Es war vielmehr an den Chefarzt des Kreiskrankenhauses als Dienstvorgesetzten der angesprochenen Ärzte gerichtet. Die Kenntnisnahme der unsachlichen Kritik durch ihn barg von vornherein nicht die Gefahr einer Beeinträchtigung des Patientenvertrauens in sich.
Auch soweit der Beschwerdeführer das Schreiben nachrichtlich an die Abrechnungsstelle der Kassenärztlichen Vereinigung und die AOK übersandt hat, war damit kaum eine nennenswerte Gefährdung des Vertrauens möglicher Patienten zu ärztlichem Tun verbunden. Sowohl die Kassenärztliche Vereinigung als auch die AOK hatten als im Kassenarztrecht beteiligte Sozialpartner einen Bezug zum Sachanliegen des Beschwerdeführers. Sie konnten das Schreiben zum Anlass nehmen, die Notwendigkeit der ärztlichen Behandlung im Krankenhaus und die Erforderlichkeit der Kostenerstattung zu überprüfen. Nur soweit die Personen, die bei der Kassenärztlichen Vereinigung und der AOK vom Inhalt des Schreibens Kenntnis genommen haben, nicht (nur) in ihrer dienstlichen Funktion, sondern auch als mögliche Patienten in Betracht zu ziehen waren, konnte überhaupt eine Beeinträchtigung ihres Vertrauens in das ärztliche Tun der betroffenen Ärzte beeinträchtigt werden. Der Grad dieser Beeinträchtigung erscheint jedoch eher gering, da diese Personen aufgrund ihres Tätigkeitsbereichs über eine hinreichende Sachkunde verfügt haben dürften, um erkennen zu können, dass es sich um vorschnelle Kritik in unsachlicher Form handelte. Das Maß der möglichen Beeinträchtigung würde sich zudem noch weiter verringern, wenn den Empfängern der Schreiben bei der Kassenärztlichen Vereinigung und der AOK bekannt gewesen sein sollte, dass – wie vom Landesberufsgericht im Rahmen der Sanktionszumessungserwägungen ausgeführt – seit Jahren zwischen dem Beschwerdeführer und den Ärzten im Kreiskrankenhaus Dissonanzen bestanden. Der Rezipient wird die Unsachlichkeit der Kritik dann eher im Spannungsverhältnis begründet sehen und sie weniger als Anlass genommen haben, das Vertrauen zu den betroffenen Ärzten und die Ärzteschaft insgesamt in Frage zu stellen.
2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf den dargelegten Abwägungsdefiziten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte bei grundrechtsgeleiteter Rechtsanwendung und der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter zu dem Ergebnis gelangen, dass die Äußerungen die Grenze der Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht überschritten haben.
3. Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 1210317 |
NJW 2000, 3413 |
MedR 2000, 526 |