Verfahrensgang
Hessischer VGH (Beschluss vom 31.08.2005; Aktenzeichen 5 TG 1867/05) |
Tenor
- Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 31. August 2005 – 5 TG 1867/05 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
- Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung einstweiligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in einem Verfahren gegen die Erhebung einer Langzeitstudiengebühr.
I.
1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Erhebung von Studiengebühren für Langzeitstudierende nach dem Hessischen Studienguthabengesetz (StuGuG) vom 18. Dezember 2003 (GVBl I, S. 513, 516 ff.). Nach § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes erhalten Studierende ein einmaliges Studienguthaben in Höhe der Semesterzahl der Regelstudienzeit des gewählten Studiengangs zuzüglich von drei beziehungsweise vier Semestern. Dieses Studienguthaben verringert sich gemäß § 2 Abs. 5 Satz 1 StuGuG um die Studienzeiten im Geltungsbereich des Hochschulrahmengesetzes, einschließlich der Studienzeiten vor In-Kraft-Treten dieses Gesetzes. Von Studierenden, die kein Studienguthaben mehr besitzen, erheben die Hochschulen gemäß § 3 Abs. 2 StuGuG für jedes Semester Gebühren von 500 Euro bis 900 Euro.
Gemäß § 6 Abs. 1 der Verordnung über das Verfahren der Immatrikulation, das Teilzeitstudium, die Ausführung des Hessischen Studienguthabengesetzes und die Verarbeitung personenbezogener Daten an den Hochschulen des Landes Hessen (Hessische Immatrikulationsverordnung – HImmaVO) vom 29. Dezember 2003 (GVBl I 2004, S. 12) sind die Gebühren bei der Immatrikulation und jeweils bei der Rückmeldung fällig. § 68 Abs. 2 Nr. 4 des Hessischen Hochschulgesetzes (HHG) in der Fassung vom 31. Juli 2000 (GVBl I S. 374) sieht vor, dass Studierende zu exmatrikulieren sind, wenn bei der Rückmeldung die Zahlung fälliger Gebühren nicht nachgewiesen wird.
2. Der 1970 geborene Beschwerdeführer studiert seit dem Sommersemester 1991 an der Universität Marburg, der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens. Diese erhob von dem Beschwerdeführer für das Sommersemester 2004 eine Studiengebühr von 500 Euro wegen verbrauchten Studienguthabens. Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg. Hiergegen hat der Beschwerdeführer Klage beim Verwaltungsgericht erhoben.
In der Zwischenzeit hatte der Beschwerdeführer die Studiengebühren unter Vorbehalt entrichtet, um seine Rückmeldung zu ermöglichen und eine Exmatrikulation zu vermeiden. Des Weiteren beantragte er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO und begehrte in diesem Zusammenhang auch die Rückgewähr der bereits gezahlten 500 Euro. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens erklärte in diesem Verfahren, dass für das abgelaufene Sommersemester 2004 eine Einziehung der Gebühr im Wege der Zwangsvollstreckung nicht beabsichtigt sei. Das Verwaltungsgericht lehnte die gestellten Eilanträge als unbegründet ab.
3. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof mit dem angegriffenen Beschluss zurück. Der Aussetzungsantrag sei bereits unzulässig. Nach der von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens abgegebenen Erklärung, den Gebührenbescheid nicht durch Beitreibung der Gebühr vollziehen zu wollen, bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Aussetzungsentscheidung. Ein fortbestehendes Interesse an einer solchen Entscheidung lasse sich auch nicht mit der drohenden Nichtvornahme der Rückmeldung und Exmatrikulation begründen, denn diese Maßnahmen stellten keine “Vollziehung” des Gebührenbescheids dar. Auch werde die Fälligkeit der Gebühr, die Anknüpfungspunkt für die Sanktionen bei der Rückmeldung sei, durch die Aussetzung der Vollziehung des Gebührenbescheids nicht beseitigt, denn die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs habe nur zur Folge, dass der angefochtene Verwaltungsakt vorläufig nicht vollzogen werden dürfe, beseitige aber nicht dessen Wirksamkeit. Daher müsse der Beschwerdeführer Rechtsschutz durch das unmittelbar auf Rückmeldung und Exmatrikulation bezogene Rechtsmittel des vorläufigen Rechtsschutzes suchen.
4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG durch den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs. Durch die dogmatische Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs bei der Auslegung des Begriffs der “Vollziehung” werde die Bedeutung der gerügten Grundrechte verkannt. Im Interesse effektiver Rechtsschutzgewährung und der Funktion der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gemäß § 80 Abs. 5 VwGO dürften im Falle aufschiebender Wirkung keinerlei Rechtsfolgen aus dem betreffenden Verwaltungsakt gezogen werden.
5. Zu der Verfassungsbeschwerde haben der Präsident der Philipps-Universität Marburg und der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Stellung genommen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93b Satz 1, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen den Justizgewährungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG durch die Nichtgewährung von einstweiligem verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪272 ff., 275≫; 40, 272 ≪275≫; 79, 69 ≪74 ff.≫).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der Beschwerdeführer hat den Rechtsweg erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es anerkannt, dass letztinstanzliche Entscheidungen in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein können, denn das vorläufige Rechtsschutzverfahren nach der Verwaltungsgerichtsordnung bildet gegenüber dem Hauptsacheverfahren ein rechtlich selbständiges Verfahren (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪397≫ m.w.N.; 69, 315 ≪339 f.≫ m.w.N.). Der Grundsatz der Subsidiarität steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ebenfalls nicht entgegen. Danach ist die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens erforderlich, wenn es die ausreichende Möglichkeit bietet, der Grundrechtsverletzung abzuhelfen (vgl. BVerfGE 51, 130 ≪138 ff.≫; 77, 381 ≪401≫). Die Notwendigkeit, vorab ein Klageverfahren zu betreiben, entfällt jedoch, wenn wie hier die Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG durch die Eilentscheidung selbst geltend gemacht wird (vgl. BVerfGE 79, 275 ≪279≫ m.w.N.).
3. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG, weil der Verwaltungsgerichtshof bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs der Vollziehung eines Verwaltungsakts den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes nicht Rechnung getragen hat.
Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 ≪275≫; 93, 1 ≪13≫; stRspr). Dieses Verfahrensgrundrecht verlangt jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 ≪74≫). Das Verfahren auf Anordnung beziehungsweise Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪272 ff., 275≫). Die Gerichte sind gehalten, bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über einstweiligen Rechtsschutz der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 79, 69 ≪74≫).
Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Der Verwaltungsgerichtshof hat dem Beschwerdeführer durch die Verweisung auf das unmittelbar gegen die Exmatrikulation gegebene Rechtsmittel des vorläufigen Rechtsschutzes die Möglichkeit, effektiven Rechtsschutz gegen den Studiengebührenbescheid und darauf beruhende weitere nachteilige Rechtsfolgen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu erlangen, in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr gerechtfertigter Weise erschwert (vgl. BVerfGE 40, 272 ≪274 f.≫; 88, 118 ≪124≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2003 – 1 BvR 2129/02 –, BVerfGK 1, 107-109).
Der Verwaltungsgerichtshof geht mit der herrschenden so genannten “Vollziehbarkeitstheorie” (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 1961 – BVerwG VIII C 398.59 –, BVerwGE 13, 1 ≪5 f.≫; Urteil vom 17. August 1995 – BVerwG 3 C 17.94 –, BVerwGE 99, 109 ≪112 f.≫, stRspr; Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Aufl., § 80 Rn. 4 m.w.N.; im Gegensatz zur “Wirksamkeitstheorie”, vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Bd. 1, Stand: Oktober 2005, § 80 Rn. 72 ff.) davon aus, dass die aufschiebende Wirkung lediglich die Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts hemmt, nicht hingegen dessen Wirksamkeit berührt. Die gesetzliche Regelung über die Exmatrikulation knüpft an die Fälligkeit der zu zahlenden Gebühr an (§ 68 Abs. 2 Nr. 4 HHG), die bei der Immatrikulation beziehungsweise Rückmeldung (§ 6 Abs. 1 Satz 1 HImmaVO) und für das Sommersemester 2004 mit Erlass des Gebührenbescheids (§ 10 Abs. 3 Satz 2 HImmaVO) eintritt. Nach der vom Verwaltungsgerichtshof in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 27. Oktober 1982 – BVerwG 3 C 6.82 –, BVerwGE 66, 218 ≪221 ff.≫; Beschluss vom 20. April 2004 – BVerwG 9 B 109.03 –, juris) wird die Fälligkeit einer durch Verwaltungsakt geltend gemachten Forderung durch die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nicht wieder beseitigt. Aus dieser Rechtslage folgert der Verwaltungsgerichtshof, dass dem Beschwerdeführer das Rechtsschutzinteresse an einem gegen den Gebührenbescheid gerichteten einstweiligen Rechtsschutzverfahren fehle, weil der Bescheid entsprechend der Zusage der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens einstweilen nicht durch Beitreibung vollzogen werde und eine Aussetzungsentscheidung die Fälligkeit und Wirksamkeit der Gebühr auch nicht beseitigen könne. Die drohende Versagung der Rückmeldung und die Exmatrikulation stellten keine “Vollziehung” des Gebührenbescheids dar.
Diese enge Auslegung des Begriffs der Vollziehung wird den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht. Sie verkennt die enge rechtliche Verknüpfung zwischen der Nichtzahlung der festgesetzten Studiengebühr und der zwingenden Rechtsfolge der Exmatrikulation, die es im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG gebietet, auch diese Maßnahme als Vollziehung des Gebührenbescheids anzusehen. Damit durfte dem Beschwerdeführer das Rechtsschutzinteresse an einem gegen den Gebührenbescheid gerichteten einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abgesprochen werden.
Nach § 68 Abs. 2 Nr. 4 HHG sind Studierende zu exmatrikulieren, wenn sie bei der Rückmeldung die Zahlung fälliger Gebühren nicht nachweisen. Durch die drohende Rechtsfolge der Exmatrikulation sollen die Studierenden zur Zahlung der festgesetzten Gebühr angehalten werden, zumal die Beitreibung aufgrund der Mittellosigkeit vieler Studierender in vielen Fällen ohnehin aussichtslos sein wird. Die Rechtsfolge der Exmatrikulation dient auch dem Ziel der eingeführten Langzeitstudiengebühr, ein überlanges Studium nur noch gegen Gebührenzahlung zuzulassen.
Eine Aussetzungsentscheidung ist bei der Frage der Exmatrikulation ebenso zu berücksichtigen wie der Erlass oder die Stundung einer festgesetzten Gebühr. Die als Druckmittel konzipierte Folgebeziehung verlangt unter dem Gesichtspunkt der Effektivität des Rechtsschutzes die Berücksichtigung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen die Gebührenfestsetzung bei der Entscheidung über die Exmatrikulation.
Eine solche Auslegung fügt sich auch ein in die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach während des Bestehens der aufschiebenden Wirkung aus dem angefochtenen Verwaltungsakt keine Rechtsfolgen gezogen werden dürfen, die der Vollziehung des Verwaltungsakts dienen, sofern diese Maßnahmen den Bestand oder die Rechtmäßigkeit des ergangenen Verwaltungsakts voraussetzen. Deshalb kann auch ein selbständiger Folgebescheid von der aufschiebenden Wirkung erfasst werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 1961 – BVerwG VIII C 398.59 –, BVerwGE 13, 1 ≪5 f.≫; Urteil vom 17. August 1995 – BVerwG 3 C 17.94 –, BVerwGE 99, 109 ≪112 f.≫).
Demgegenüber werden Studierende durch die Verweisung auf das unmittelbar gegen die Exmatrikulation bezogene Rechtsmittel des vorläufigen Rechtsschutzes gezwungen, entweder die streitige Gebühr vorerst zu zahlen, um eine Exmatrikulation zu vermeiden, oder es auf ein gegen die Exmatrikulationsentscheidung gerichtetes einstweiliges Rechtschutzverfahren ankommen zu lassen, innerhalb dessen dann inzident die Rechtmäßigkeit der Gebührenerhebung geprüft werden müsste. Dies erschwert die Erlangung effektiven Rechtsschutzes im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in nicht gerechtfertigter Weise, zumal die zwingende Rechtsfolge der Exmatrikulation ohne weiteres als “Vollziehung” des Gebührenbescheids angesehen werden kann.
4. Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Unter Aufhebung des Beschlusses ist die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).
5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Haas, Bryde, Eichberger
Fundstellen
Haufe-Index 1573318 |
NJW 2006, 3551 |
JuS 2007, 171 |