Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 01.12.2004; Aktenzeichen 5 LA 51/04) |
VG Oldenburg (Urteil vom 29.01.2004; Aktenzeichen 4 A 808/02) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 29. Januar 2004 – 4 A 808/02 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Oldenburg zurückverwiesen.
Damit wird der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 1. Dezember 2004 – 5 LA 51/04 – gegenstandslos.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses und den hiergegen wegen angenommener Bestandskraft des Widerrufsbescheids versagten fachgerichtlichen Rechtsschutz.
1. Der Beschwerdeführer ist iranischer Staatsangehöriger. Im Jahre 1998 erstritt er nach Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln die Feststellung, dass hinsichtlich des Iran ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG vorliege. Im Sommer des Jahres 1998 hielt sich der Beschwerdeführer für zwei Monate in seinem Herkunftsland auf. Im Juli 1999 verhängte das Amtsgericht Oldenburg erneut Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer. Zum 8. Oktober 1999 wurde er von der Justizvollzugsanstalt S… in die Justizvollzugsanstalt O… verlegt. Das Landgericht Oldenburg verurteilte ihn mit Urteil vom 6. Februar 2001 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln und anderer Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren.
2. Mit Bescheid vom 28. Oktober 1999 widerrief das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) die Feststellung gemäß § 53 Abs. 4 AuslG mit Blick auf den zwischenzeitlichen Aufenthalt des Beschwerdeführers im Iran, da er dort staatlicher Verfolgung offenkundig nicht ausgesetzt gewesen sei. Das Bundesamt gab den Bescheid unter der zutreffenden Anschrift der Justizvollzugsanstalt O… zur Post. Die Postsendung gelangte indessen mit dem Zustellungsvermerk “Empfänger unbekannt” an das Bundesamt zurück.
3. Nachdem der Beschwerdeführer – aufgrund einer Akteneinsicht durch seine Bevollmächtigte – Kenntnis von dem Bescheid erlangt hatte, erhob er am 22. Februar 2002 Klage beim Verwaltungsgericht Oldenburg und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte er aus, es sei schon keine wirksame Zustellung des Widerrufsbescheides erfolgt. Auf einen Verstoß gegen etwaige Anzeigepflichten nach § 10 AsylVfG komme es nicht an, da der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Zustellversuchs unstreitig in der Justizvollzugsanstalt O… inhaftiert gewesen sei. Er könne aber nichts dafür, wenn fälschlicherweise der Bescheid von der Poststelle nicht angenommen und mit dem Vermerk “unbekannt” wieder im Original zurückgesandt werde. Dies sei nicht mit dem Fall vergleichbar, in dem ein Bescheid mangels Kenntnis der Anschrift nicht zugestellt werden könne.
4. Das Verwaltungsgericht Oldenburg wies die Klage durch Urteil vom 29. Januar 2004 – 4 A 808/02 – als unzulässig ab. Der Beschwerdeführer habe die Klagefrist versäumt, da er den erfolglos gebliebenen Zustellungsversuch vom 3. November 1999 gegen sich wirken lassen müsse. Nach überwiegender Ansicht, der das Gericht folge, fänden die besonderen Zustellungsvorschriften des § 10 AsylVfG auch im Widerrufsverfahren Anwendung. Im Hinblick auf die postalischen Vermerke auf der Zustellungsurkunde gelte die Zustellung als nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylVfG bewirkt. Mit den postalischen Vermerken vom 3. November 1999 auf der Zustellungsurkunde sei urkundlich belegt, dass die Sendung nicht habe zugestellt werden können, weil der Adressat der Postsendung unbekannt gewesen sei. Der Wiedereinsetzungsantrag sei gleichfalls abzulehnen. Gründe höherer Gewalt gemäß § 60 Abs. 3 VwGO seien nicht gegeben. Der Beschwerdeführer selbst habe durch seinen Aufenthalt im Iran den Anlass gesetzt, der zum Widerrufsverfahren geführt habe. Daher könne es für ihn nicht völlig fern gelegen haben, dass die unter Benutzung seines Reisepasses erfolgte Reise den zuständigen deutschen Stellen bekannt werden und zur Einleitung eines Widerrufsverfahrens habe führen können. Insoweit habe es der ihm zumutbaren Sorgfalt entsprochen, sich um eine verfahrenskundige Beratung und Vertretung zu sorgen.
5. Den hiergegen gerichteten Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 1. Dezember 2004 – 5 LA 51/04 – mit der Begründung ab, der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG sei nicht hinreichend dargelegt. Zudem sei die Zulassung der Berufung auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil es sich bei den mit dem Zulassungsantrag aufgeworfenen Fragen um solche Fragen handele, die nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, also nicht grundsätzlich, zu beantworten seien. Das gelte “insbesondere” hinsichtlich der Frage, ob dem Beschwerdeführer wegen Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei.
Entscheidungsgründe
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 2, Art. 103 Abs. 1 GG sowie des Rechts auf ein faires Verfahren und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Es könne nicht angehen, dass ein Inhaftierter dafür Sorge tragen müsse, dass ihn seine Post erreiche. Hieran sei er geradezu infolge höherer Gewalt gehindert, da er nicht an die Pforte gehen könne, um seine Post entgegenzunehmen. Es könne ihm auch nicht auferlegt werden, den ordnungsgemäßen Erhalt seiner Post durch Bevollmächtigung Dritter zu gewährleisten, wenn er über diese Verpflichtung nicht oder nur in einem anderen, vorangegangenen Verfahren ohne Übersetzung in seine Heimatsprache belehrt worden sei.
Das Niedersächsische Justizministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr, da die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG vorliegen, mit der Rechtsfolge gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des sinngemäß als verletzt gerügten Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits beantwortet.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Wird ein Prozessbeteiligter mit entscheidungserheblichem Vorbringen deshalb ausgeschlossen, weil ihm bei fristgebundenen Rechtsbehelfen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus Gründen verwehrt wird, die er nicht zu vertreten hat, so ist sein Anspruch auf effektiven Zugang zu Gericht betroffen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juni 1992 – 2 BvR 1401/91 u.a. –, NVwZ 1992, S. 1080). Das Grundgesetz überlässt zwar die Ausgestaltung der Art und Weise, in der der grundrechtlich gebotene effektive Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) zu gewähren ist, der jeweiligen Prozessordnung. Bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Bestimmungen, einschließlich der gesetzlichen Voraussetzungen dafür, dass über den mit einer Klage unterbreiteten Sachverhalt überhaupt zur Sache entschieden werden darf, dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den dem Rechtssuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren. Insbesondere dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 67, 208 ≪212 f.≫; 110, 339 ≪342≫). Diesen Grundsatz hat das Verwaltungsgericht verletzt.
Der Begriff der höheren Gewalt in § 60 Abs. 3 VwGO ist zwar enger als der Begriff “ohne Verschulden” in § 60 Abs. 1 VwGO. Er erfasst jedoch nicht nur Ereignisse, die menschlicher Steuerung völlig entzogen sind. Vielmehr entspricht er im Wesentlichen dem Begriff der “unabwendbaren Zufälle” in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung des § 233 ZPO. Unter höherer Gewalt ist danach ein Ereignis zu verstehen, das unter den gegebenen Umständen auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falles vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe – also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung – zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (vgl. BVerwGE 105, 288 ≪300≫; BVerwG, Beschluss vom 11. Oktober 1988 – 8 B 118/88 –, JURIS; BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 7.85 – InfAuslR 1985, S. 278 ≪280 f.≫; Baumbach/Lauterbach, Zivilprozessordnung, Band 1, 33. Auflage 1975, § 233 ZPO, S. 459; zur Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung des Begriffs der höheren Gewalt vgl. BVerfGE 71, 305 ≪348≫).
Auch und gerade nach dem Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts, wonach die Fiktion einer wirksamen Zustellung gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 oder Satz 3 AsylVfG selbst in den Fällen eintritt, in denen die Zustellung infolge eines außerhalb der Sphäre des Adressaten liegenden Umstandes fehlschlägt (anders etwa VGH Mannheim, Beschluss vom 15. November 1995 – A 14 S 2542/95 –, JURIS), war ein dem entsprechendes Verständnis des Begriffs der höheren Gewalt verfassungsrechtlich geboten. Die Betroffenen könnten andernfalls in einer mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Garantie effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbaren Weise – selbst durch grobe, den Eintritt der Zustellungsfiktion bewirkende Fehlhandlungen Dritter – um die Durchsetzbarkeit ihrer Rechte gebracht werden. Im vorliegenden Fall musste es demnach darauf ankommen, ob die Erfolglosigkeit der Zustellung des Widerrufsbescheides von dem Beschwerdeführer bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte vermieden werden können. Mit dem zentralen Vorbringen des Beschwerdeführers, die organisatorischen Vorkehrungen der Poststelle seiner Haftanstalt unterlägen nicht seinem Einfluss, hat sich das Verwaltungsgericht indessen nicht auseinandergesetzt. Soweit das Gericht dem Beschwerdeführer entgegengehalten hat, der ihm zumutbaren Sorgfalt hätte es entsprochen, für verfahrenskundige Beratung und Vertretung zu sorgen, weil er mit seinem Aufenthalt im Iran den Grund für den Widerruf selbst gesetzt und daher mit dem Widerruf habe rechnen müssen, fehlt es an einem Bezug zu der allein entscheidungserheblichen Frage, ob der Beschwerdeführer den Fehlschlag der konkret unternommenen Zustellung – nämlich der Zustellung unter seiner Anstaltsanschrift – hätte vermeiden können. Dafür war nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts nichts ersichtlich.
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Broß, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen