Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 17.11.2009; Aktenzeichen 20 W 412/07) |
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die überlange Dauer des Verfahrens vor dem Landgericht Frankfurt am Main – 3-03 O 11/89 – die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz) verletzt.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
3. Das Land Hessen hat den Beschwerdeführern drei Viertel ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten.
4. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 50.000 EUR (in Worten: fünfzigtausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein aktienrechtliches Spruchverfahren, das vor dem Landgericht 18 Jahre, insgesamt bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts 20 Jahre gedauert hat.
Die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführer war Aktionärin der damals so firmierenden D. AG, die mit der A. Aktiengesellschaft einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag abgeschlossen hatte. Die im Jahre 1992 verstorbene Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführer stellte gemeinsam mit weiteren Aktionären in einem im Jahr 1989 eingeleiteten Verfahren nach dem Aktiengesetz (entsprechend dem heutigen Spruchverfahren) einen Antrag auf Bestimmung eines angemessenen Ausgleichs und einer Abfindung, über den das Landgericht im Jahr 2007 entschied und einen Ausgleich pro Aktie sowie eine Abfindung für die Antrag stellenden Aktionäre – darunter die Beschwerdeführer – festsetzte. Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen diesen Beschluss wies das Oberlandesgericht im Jahr 2009 zurück. Die Beschwerdeführer selbst hatten einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Landgerichts nicht eingelegt.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Beschwerdeführer, die mit der Verfassungsbeschwerde den Beschluss des Oberlandesgerichts angreifen, rügen eine Verletzung der Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG. Das Oberlandesgericht habe es in verfassungswidriger Weise unterlassen, die Dauer des Verfahrens bei der Bemessung des Ausgleichs und der Abfindung angemessen mit zu entgelten. Das Gericht sei zu verpflichten, die nach den Wert- und Preisverhältnissen im Jahr 1988 festgesetzte Abfindung um denjenigen Betrag zu erhöhen, der sie für den Zeitpunkt der Auszahlung (Dezember 2009) angemessen erscheinen lasse. Im Übrigen beanstanden sie aber auch, das Spruchverfahren habe insgesamt unvertretbar lange gedauert.
2. Die Bundesregierung, die Hessische Landesregierung und die Beteiligten des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen vor.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit sich die Beschwerdeführer gegen die überlange Dauer des Verfahrens vor dem Landgericht – 3-03 O 11/89 – wenden; im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Angriffsgegenstand der Verfassungsbeschwerde ist nicht nur der – ausdrücklich als angegriffen bezeichnete – Beschwerdebeschluss des Oberlandesgerichts. Der Zusammenhang des Vorbringens der Beschwerdeführer lässt hinreichend deutlich erkennen, dass sie auch die lange Dauer des Verfahrens insgesamt – also sowohl vor dem Landgericht als auch vor dem Oberlandesgericht – beanstanden.
1. Die Annahme zur Entscheidung ist zur Durchsetzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt, soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die überlange Dauer des Verfahrens vor dem Landgericht richtet (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Insoweit sind die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung erfüllt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫; 60, 253 ≪269≫; 93, 1 ≪13≫). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit offensichtlich begründet.
a) Für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten gewährleistet Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) einen wirkungsvollen Rechtsschutz im materiellen Sinne (vgl. BVerfGE 82, 126 ≪155≫; 93, 99 ≪107≫). Daraus ergibt sich die Verpflichtung der Fachgerichte, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫; 60, 253 ≪269≫; 93, 1 ≪13≫). Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫). Es gibt keine allgemein gültigen Zeitvorgaben; davon geht auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, NJW 1997, S. 2811; EGMR, 3. Sektion, Urteil vom 11. Januar 2007 – 20027/02 Herbst / Deutschland –, NVwZ 2008, S. 289 ≪291≫ Rn. 75). Die Verfahrensgestaltung obliegt in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht. Sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, muss das Gericht hierfür zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festlegen (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫).
Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien (vgl. BVerfGE 46, 17 ≪29≫), die Auswirkung einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, NJW 1997, S. 2811 ≪2812≫), die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, S. 214 ≪215≫). Dagegen kann sich der Staat nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 –, NVwZ 2004, S. 334 ≪335≫). Ferner haben die Gerichte auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Dauer nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000, a.a.O., S. 215).
b) Daran gemessen ist die Dauer des Verfahrens vor dem Landgericht mit dem Recht der Beschwerdeführer auf effektiven Rechtsschutz unvereinbar. Es ist nach Abwägung sämtlicher Umstände verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar, dass erst nach 18 Jahren erstinstanzlich über den Antrag der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführer entschieden wurde.
Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Gesamtdauer des Verfahrens ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Rechtssache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht kompliziert und in der Verfahrensführung sehr aufwendig war. Die eingeholten Sachverständigengutachten galten einer komplexen Materie im Zusammenhang mit dem Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages zwischen zwei großen Unternehmen. Nach hier nicht zu beanstandender Auffassung des Landgerichts erforderte namentlich eine Fortentwicklung höchstrichterlicher Rechtsprechung die Einholung von Ergänzungsgutachten. Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus der Vielzahl der Verfahrensbeteiligten und der zwölfjährigen Dauer des parallel zum erstinstanzlichen Verfahren durchgeführten Beschwerdeverfahrens zu einer prozessualen Zwischenfrage. Die Dauer des Beschwerdeverfahrens verursachte jedoch eine Verzögerung der erstinstanzlichen Entscheidung nur insoweit, als sie die Anlegung und teilweise Rekonstruktion von Duploakten erforderte. Aus den beigezogenen Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich nicht, dass das erstinstanzliche Verfahren bei frühzeitigerer Bescheidung der Beschwerden durch das Oberlandesgericht beschleunigt worden wäre. Vielmehr dauerte die parallel zum Beschwerdeverfahren durchgeführte Beweisaufnahme des Landgerichts bis Juli 2004 (Vorlage des zweiten Ergänzungsgutachtens durch den Sachverständigen) an. Zur selben Zeit hatte aber auch das Oberlandesgericht die Beschwerden bereits zurückgewiesen und die Akten an das Landgericht zurückgereicht.
Jedenfalls nachdem im Juli 2004 sowohl das ergänzende Sachverständigengutachten als auch die zurückweisende Entscheidung des Oberlandesgerichts über die sofortige Beschwerde vorlagen, hat das Landgericht das Verfahren nicht in ausreichendem Maße weiterbetrieben. Den Verfahrensbeteiligten wurde eine Frist zur Stellungnahme zu dem Ergänzungsgutachten bis Ende Oktober 2004 gesetzt. Dann wurde das Verfahren erst wieder durch den Beschluss des Landgerichts vom 18. Oktober 2006 fortgeführt, in welchem das Gericht seinen rechtlichen Standpunkt unter Berücksichtigung neuerer Rechtsprechung darstellte und den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme bis Ende 2006 gab. Da das Verfahren im Jahr 2004 bereits 15 Jahre anhängig war, hätte das Landgericht verstärkt auf einen zügigeren Abschluss hinwirken müssen. Ein Verfahrensstillstand von zwei Jahren ist in dieser Situation ersichtlich nicht vertretbar.
2. Im Übrigen liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung nicht vor (§ 93a BVerfGG). Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG rügen und sich gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts wenden, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Insoweit sind die Beschwerdeführer nicht beschwert und haben zudem den Rechtsweg nicht erschöpft.
Das Oberlandesgericht hat ausschließlich die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin – also der Gegenpartei der Beschwerdeführer – zurückgewiesen, nachdem das Landgericht den Beschwerdeführern Ausgleich und Abfindung zugesprochen hatte. Die Beschwerdeführer selbst hatten gegen die Entscheidung des Landgerichts keinen Rechtsbehelf eingelegt, über den das Oberlandesgericht abschlägig hätte entscheiden können.
Daraus ergibt sich zugleich, dass die Beschwerdeführer auch den Rechtsweg nicht erschöpft haben. Sie haben es unterlassen, gegen die Entscheidung des Landgerichts ihrerseits sofortige Beschwerde beziehungsweise Anschlussbeschwerde einzulegen. Deshalb können sie mit ihrer Verfassungsbeschwerde in der Sache kein Gehör mehr finden, wenn sie meinen, das Oberlandesgericht habe die vom Landgericht festgesetzten Werte zu ihren Gunsten nachbessern und erhöhen müssen.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2, 3 BVerfGG. Die Verfassungsbeschwerde hat überwiegend Erfolg.
Der nach § 37 Abs. 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt 50.000 EUR. Dies rechtfertigt sich aus der objektiven Bedeutung der Sache sowie Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die Besonderheiten aufweisen, welche eine deutliche Erhöhung des Mindestwertes veranlassen.
Unterschriften
Kirchhof, Schluckebier, Baer
Fundstellen