Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragspflicht freiwilliger Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung
Beteiligte
Rechtsanwälte Benno Bleiberg und Koll. |
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig war, dass Sonderversorgungsempfänger im Jahre 1991 als freiwillige Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung den vollen Beitrag zu entrichten hatten.
I.
1. Die Beschwerdeführer waren Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit (MfS/AfNS) der Deutschen Demokratischen Republik. Nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst erhielten sie eine Sonderversorgung (Invalidenrente) und medizinische Versorgung im Krankheitsfall nach der amtlich nicht veröffentlichten Ordnung Nr. 7/87 vom 30. September 1987 (im Folgenden: MfS-Versorgungsordnung). Die Krankenversorgung war beitragsfrei. Nach Aufhebung der MfS-Versorgungsordnung durch Gesetz vom 29. Juni 1990 (GBl I S. 501) waren die Beschwerdeführer vom 1. Juli bis 31. Dezember 1990 gemäß § 14 d und § 36 Abs. 8 des Gesetzes über die Sozialversicherung (SVG) vom 28. Juni 1990 (GBl I S. 486) Pflichtversicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung der Deutschen Demokratischen Republik. Nach der Herstellung der Einheit Deutschlands blieben sie bis zum 31. Dezember 1990 in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert (vgl. § 308 Abs. 1 Satz 2 SGB V).
Mit dem In-Kraft-Treten des SGB V am 1. Januar 1991 im Beitrittsgebiet wurden die Beschwerdeführer freiwillig Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 309 Abs. 2 SGB V). Sie hatten ab diesem Zeitpunkt ihren Krankenversicherungsbeitrag – anders als die pflichtversicherten Mitglieder (vgl. § 319 Abs. 7 SGB V) – gemäß § 250 Abs. 2 SGB V allein zu tragen. In Härtefällen bestand ein Anspruch auf Zuschuss (§ 12 des Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets ≪Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz – AAÜG≫). Mit Schließung aller Versorgungssysteme und der Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus den Sonderversorgungssystemen in die gesetzliche Rentenversicherung auf Grund des AAÜG führten die Beklagten des Ausgangsverfahrens ab 1. Januar 1992 das Versicherungsverhältnis der Beschwerdeführer als Pflichtversicherung in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) fort.
Die hier maßgebenden Vorschriften des SGB V hatten folgenden Wortlaut:
§ 309
(1)…
(2) Wer bis zum 31. Dezember 1990 in der gesetzlichen Krankenversicherung in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet pflichtversichert war und mit Ablauf des 31. Dezember 1990 aus der Versicherungspflicht ausscheidet, bleibt versichert, ohne dass es eines Antrags auf freiwillige Versicherung bedarf. Die Versicherung wird als freiwillige Versicherung bis zum Wirksamwerden einer Austrittserklärung weiter geführt.
(3) bis (5)…
§ 313
(1) bis (6)…
(7) Abweichend von § 250 Abs. 1 Nr. 1 und 255 werden die Krankenversicherungsbeiträge für pflichtversicherte Rentner im Kalenderjahr 1991 von den Trägern der Rentenversicherung pauschal an die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte für die Krankenkassen mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Krankenkassen abgeführt. Der Pauschalbeitrag beträgt 12,8 vom Hundert des Gesamtbetrages der Renten.
(8) bis (10)…
§ 309 Abs. 2 und § 313 Abs. 7 SGB V sind durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Rechtsangleichung in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I S. 2657) aufgehoben worden.
2. Die Beschwerdeführer wandten sich gegen die Heranziehung zu Beiträgen als freiwillige Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung. Zur Begründung trugen sie im Wesentlichen vor, auch sie seien versicherungspflichtige Rentner und als solche im Jahre 1991 beitragsfrei krankenversichert gewesen. Ihr Antrag auf Erstattung der im Jahre 1991 gezahlten Beiträge wurde von den Beklagten des Ausgangsverfahrens abgelehnt. Die dagegen eingelegten Rechtsbehelfe blieben ohne Erfolg. Das Bundessozialgericht kam in seinen Urteilen zu dem Ergebnis, dass die Beitragsbescheide rechtmäßig seien. Die Beschwerdeführer hätten im Jahre 1991 keine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezogen und hätten auch keinen Anspruch hierauf gehabt. Ihre Versorgung erhielten sie vom gesetzlich zuständigen Funktionsnachfolger des Sonderversorgungssystems MfS/AfNS und nicht von einem Rentenversicherungsträger. Sie gehörten daher nicht zu dem versicherungspflichtigen Personenkreis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V.
3. Mit ihren Verfassungsbeschwerden greifen die Beschwerdeführer unmittelbar die ihr Erstattungsverlangen ablehnenden Verwaltungsentscheidungen und gerichtlichen Entscheidungen, mittelbar § 309 Abs. 2 und § 313 Abs. 7 SGB V an. Sie rügen die Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG, da § 313 Abs. 7 SGB V eine Beitragsbefreiung im Jahre 1991 lediglich für pflichtversicherte Rentner der Deutschen Demokratischen Republik vorsehe. Dies benachteilige sie gleichheitswidrig. Auch liege ein Verstoß gegen Art. 143 GG und gegen das Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (Verfassungsgrundsätze) vom 17. Juni 1990 vor.
4. Zu der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 653/95 haben das Bundesministerium für Gesundheit namens der Bundesregierung, das Bundessozialgericht und die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerden sind nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen nach § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25≫).
1. Den Verfassungsbeschwerden kommt grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die von ihnen aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen sind bereits in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Dies gilt insbesondere für die Anforderung des Art. 3 Abs. 1 GG an den Gesetzgeber bei sozialrechtlichen Regelungen (vgl. BVerfGE 102, 68 ≪87≫; stRspr), dessen Gestaltungsspielraum bei Herstellung der Rechtseinheit im wiedervereinigten Deutschland (vgl. etwa BVerfGE 95, 143; 100, 1; 102, 41; 102, 254) und die verfassungskonforme Ausgestaltung der Mitgliedschaft und des Beitragsrechts in der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfGE 102, 68).
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerden ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerden haben keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Regelungen, auf denen die freiwillige Mitgliedschaft der Beschwerdeführer in der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Beitragspflicht im Jahre 1991 beruhten, sind nicht verfassungswidrig. Insbesondere ist Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt.
a) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt das Grundrecht vielmehr nur, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 102, 68 ≪87≫; stRspr). Geht es um die Regelung komplexer Sachverhalte, so kann es vertretbar sein, dass dem Gesetzgeber eine angemessene Zeit zur Sammlung von Erfahrungen und Erkenntnissen eingeräumt wird und dass er sich zunächst mit gröberen Generalisierungen begnügt (vgl. BVerfGE 75, 108 ≪162≫; 100, 271 ≪288≫; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 3. April 2001, NZS 2001, S. 309 ≪312≫; stRspr). Dies gilt auch, wenn er bei der Neuordnung sozialrechtlicher Rechtsverhältnisse im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Zeit für die Ermittlung der relevanten Fakten und deren rechtspolitische Bewertung benötigt (vgl. auch BVerfGE 100, 59 ≪94 f.≫). Der Gesetzgeber konnte bei der Herstellung der Rechtseinheit im Sozialversicherungsrecht schrittweise vorgehen (vgl. BVerfGE 95, 143 ≪157 f.≫) und jedenfalls übergangsweise vereinfachende Regelungen treffen.
b) Im Hinblick auf diesen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist es unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden, dass er die Empfänger von Versorgungsleistungen aus einem beamtenrechtsähnlichen Sonderversorgungssystem der Deutschen Demokratischen Republik in § 309 Abs. 2 SGB V für das Jahr 1991 der gesetzlichen Krankenversicherung als freiwillige Mitglieder und nicht – wie die Empfänger von Renten aus der Sozialpflichtversicherung und von Leistungen aus Zusatzversorgungen – als Pflichtversicherte zugewiesen hat. Er knüpfte damit in der Zeit des Übergangs an Unterscheidungen im Alterssicherungssystem der Deutschen Demokratischen Republik an (vgl. näher BVerfGE 100, 1 ≪3 ff.≫). Er durfte mit der endgültigen krankenversicherungsrechtlichen Behandlung dieser Personengruppe warten, bis gesetzlich entschieden war, ob und wie deren Ansprüche aus Versorgungssystemen der Deutschen Demokratischen Republik in das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland übergeleitet würden. Diese Entscheidung wurde erst im Laufe des Jahres 1991 durch das AAÜG getroffen. Eine unangemessene Benachteiligung der Beschwerdeführer war damit nicht verbunden. Die Berechtigten aus dem Sonderversorgungssystem MfS/AfNS waren trotz Absenkung der Versorgungsleistungen durch § 7 AAÜG im Allgemeinen in einer besseren wirtschaftlichen Situation als die Versicherten der Sozialpflichtversicherung, die für das Kalenderjahr 1991 beitragsrechtlich von § 313 Abs. 7 SGB V erfasst wurden (vgl. BVerfGE 100, 138 ≪194≫).
c) Damit können die Verfassungsbeschwerden auch insoweit keinen Erfolg haben, als sie die Beitragsbescheide der Beklagten und die diese Bescheide bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen angreifen. Diesen liegen verfassungsgemäße Regelungen zu Grunde. Es ist nicht ersichtlich, dass die Anwendung dieser Regelungen auf die Beschwerdeführer in einer das Grundgesetz verletzenden Weise erfolgt ist.
d) Durch die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerden entsteht den Beschwerdeführern im Übrigen auch kein besonders schwerer Nachteil (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b Halbsatz 2 BVerfGG).
Sie hatten vom 1. Januar 1991 bis 1. Juli 1991 einen Beitrag von monatlich 111,71 DM beziehungsweise 114,84 DM und ab 1. August 1991 von 90,03 DM für ihren Krankenversicherungsschutz zu entrichten. Diese Beiträge lagen unterhalb der Prämien, welche für eine private Krankenversicherung zu entrichten gewesen wären. Hätten sie – was ihnen offen stand – eine private Krankenversicherung abgeschlossen, wäre dies schon wegen ihres Alters mit weitaus höheren Kosten verbunden gewesen. Die Beschwerdeführer verkennen insoweit, dass die von ihnen angegriffene Vorschrift des § 309 Abs. 2 SGB V für sie keineswegs nachteilig war. Sie diente dem Ziel, die gesetzliche Krankenversicherung für solche Personen zu öffnen, bei denen im Vergleich zu Pflichtversicherten ein ähnliches, aber eingeschränktes Schutzbedürfnis bestand. Der Gesetzgeber hat den Versorgungsempfängern, die am 1. Januar 1991 weder einen Versicherungstatbestand nach § 5 SGB V erfüllten noch in die Familienversicherung nach § 10 SGB V einbezogen werden konnten, mit § 309 Abs. 2 SGB V die Möglichkeit eingeräumt, voraussetzungslos und insbesondere ohne Vorversicherungszeiten Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung zu werden. Sie erhielten damit vollen und beitragsgünstigen Schutz gegen das Krankheitsrisiko. Der Gesetzgeber hat zudem für Härtefälle Vorsorge getroffen (§ 12 AAÜG i.V.m. § 106 SGB VI).
3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 645098 |
SozSi 2003, 36 |