Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes bei Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug
Tenor
1. Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes ist dadurch verletzt, dass die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe im Verfahren 2 StVK 60/00 über den am 29. Februar 2000 eingegangenen Eilantrag des Beschwerdeführers gemäß § 114 Absatz 2 Satz 1 des Strafvollzugsgesetzes erst mit Beschluss vom 7. März 2000 entschieden hat.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.
3. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten.
4. Soweit der Verfassungsbeschwerde stattgegeben wird, erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts; im Übrigen wird er zurückgewiesen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) bei Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug.
I.
Der Beschwerdeführer verbüßt eine mehrjährige Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung in einer Vollzugsanstalt in Baden-Württemberg. Die Justizvollzugsanstalt verhängte am 25. Februar 2000 gegen den Beschwerdeführer gemäß § 103 Abs. 1 Nr. 8 und 9 StVollzG zehn Tage Arrest und für diese Zeit die Beschränkung des Verkehrs mit Personen außerhalb der Anstalt. Die Disziplinarmaßnahmen wurden ab Montag, dem 28. Februar 2000 vollzogen. An diesem Morgen übergab der Beschwerdeführer der Vollzugsanstalt in einem Briefumschlag mit der Aufschrift „Eilt sehr, sofort auf den Richtertisch, Eilantrag” einen bereits am 25. Februar 2000 verfassten Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung der Maßnahmen gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. Diesen leitete die Vollzugsanstalt noch am selben Tage mit der Post an das Landgericht weiter, wo er am 29. Februar 2000 einging. Am 6. März 2000 setzte die Vollzugsanstalt den Arrest zur Bewährung aus. Dies teilte sie am 7. März 2000 telefonisch dem Gericht mit. Durch Beschluss vom selben Tag lehnte die Strafvollstreckungskammer den Eilantrag ab, weil im Hinblick auf die Aussetzung des Arrests zur Bewährung keine Gefahr mehr bestehe, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werde.
II.
Mit seiner am 3. März 2000 erhobenen, am 4. März 2000 eingegangenen und am 13. sowie 14. März 2000 ergänzend begründeten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG). Die Justizvollzugsanstalt habe seinen Eilantrag zu spät weiter geleitet. Angesichts der besonderen Eilbedürftigkeit hätte es einer Übermittlung mittels Telefax bedurft. Das Landgericht habe seinen Antrag mehrere Tage unbearbeitet liegen lassen und damit seinen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz endgültig vereitelt.
III.
Das Justizministerium Baden-Württemberg hat namens der baden-württembergischen Landesregierung von einer Stellungnahme abgesehen.
IV.
1. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, soweit der Beschwerdeführer behauptet, durch eine verzögerliche Weiterleitung seines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz durch die Vollzugsanstalt in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt zu sein. Sein Vortrag genügt insoweit nicht den sich aus §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG ergebenden Begründungsanforderungen. Der Subsidiaritätsgrundsatz verlangt neben der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG), dass der Beschwerdeführer alle bestehenden Möglichkeiten nutzt, um die behauptete Grundrechtsverletzung zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 95, 96 ≪127≫ m.w.N.). Dass und in welcher Weise dies geschehen ist, gehört zum notwendigen Vortrag im Verfassungsbeschwerde-Verfahren. Daran fehlt es. Der Beschwerdeführer hat weder vorgetragen, dass und gegebenenfalls weshalb es ihm nicht möglich war, seinen am 25. Februar 2000 geschriebenen Eilantrag noch an demselben oder am folgenden Tag auf den Postweg zu bringen, noch lässt sich seinem Vortrag entnehmen, dass er bei Abgabe seines Eilantrags am Montag, den 28. Februar 2000, wegen einer besonderen Dringlichkeit ausdrücklich um eine – nur in besonderen Ausnahmefällen gebotene – Übersendung per Telefax gebeten habe. Eine Vollzugsanstalt genügt im Übrigen in der Regel dem Beschleunigungsgebot, wenn sie einen als eilbedürftig gekennzeichneten Brief noch am selben Tag zur Weiterbeförderung der Post übergibt (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 30. April 1993 – 2 BvR 1605/92 –, NStZ 1993, S. 507, 508).
2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Behandlung des Eilantrags durch die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts richtet, nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie ist zur Sachentscheidung berufen, da die insoweit zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§§ 93b Satz 1, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
a) Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig. Die Disziplinarmaßnahmen, gegen die der Beschwerdeführer einstweiligen Rechtsschutz begehrt hat, sind zwar inzwischen vollstreckt, und das Landgericht hat im Eilverfahren nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG zwischenzeitlich auch eine Entscheidung getroffen. Das Bundesverfassungsgericht geht aber in Fällen besonders tief greifender und folgenschwerer Grundrechtsverstöße vom Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses für eine Verfassungsbeschwerde trotz Erledigung aus, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen kann, da der Grundrechtsschutz des Beschwerdeführers ansonsten in unzumutbarer Weise verkürzt würde (vgl. BVerfGE 34, 165 ≪180≫; 41, 29 ≪43≫; 49, 24 ≪51 f.≫; 81, 138 ≪140≫). Ein solcher Fall liegt bei einem Arrest, der nur wegen schwerer oder mehrfach wiederholter Verfehlungen verhängt werden darf (vgl. § 103 Abs. 2 StVollzG), in der Regel vor, denn die mit dieser Sanktion verbundene Freiheitsbeschränkung bedeutet einen tief greifenden und schwerwiegenden Grundrechtseingriff (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 1993 – 2 BvR 1605/92 –, NJW 1994, S. 3087).
b) Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde auch offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Durch die verzögerliche Bearbeitung des Eilantrags durch das Landgericht ist der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
aa) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur formal und theoretisch die Möglichkeit, gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt die Gerichte anzurufen, sondern gibt dem Bürger einen Anspruch auf tatsächlich wirksamen gerichtlichen Schutz. Daraus folgt, dass der gerichtliche Rechtsschutz so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeten Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150 ≪153≫; 65, 1 ≪70≫; stRspr). Zwar gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen nicht schlechthin (BVerfGE 65, 1 ≪70≫). Jedoch muss sichergestellt sein, dass der Betroffene umgehend eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann, ob im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung oder aber das Interesse des Einzelnen an der Aussetzung der Vollziehung bis zur Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme überwiegt (BVerfGE 37, 150 ≪153≫; 35, 382 ≪402≫; 67, 43 ≪58 f.≫).
Für die Gerichte ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz (vgl. BVerfGE 49, 220 ≪226≫; 77, 275 ≪284≫). Dabei darf sich der Rechtsschutz nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht führen (BVerfGE 40, 272 ≪275≫; 61, 82 ≪111≫; 67, 43 ≪58≫). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen (BVerfGE 55, 349 ≪369≫; 60, 253 ≪269 f.≫). Bei nicht mehr rückgängig zu machenden, sofort vollziehbaren Disziplinarmaßnahmen wird der Richter unverzüglich eine Entscheidung darüber zu treffen haben, ob die Maßnahme auszusetzen ist oder nicht. In besonders gelagerten Fällen der Eilbedürftigkeit wird er auch eine vorläufige Aussetzung der Disziplinarmaßnahme in Betracht zu ziehen haben, ohne eine Äußerung der Justizvollzugsanstalt erst abzuwarten, zumal er seine Entscheidung jederzeit ändern kann (§ 114 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 2 StVollzG; vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 1993 – 2 BvR 1605/92 –, NStZ 1993, S. 507, 508).
bb) Gemessen an diesem Maßstab, verletzt die Behandlung des Eilantrags durch die Strafvollstreckungskammer den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Sie ließ, obgleich seit dem 28. Februar 2000 zwei ganz erhebliche Disziplinarmaßnahmen – der Arrest und die Beschränkung des Verkehrs mit Personen außerhalb der Anstalt – gleichzeitig vollzogen wurden, den am 29. Februar 2000 eingegangenen Eilantrag eine Woche lang unbearbeitet, bis sich dessen Eilbedürftigkeit infolge Aussetzung der Disziplinarmaßnahmen zur Bewährung durch die Vollzugsanstalt von selbst erledigt hatte. Mit dieser Sachbehandlung verkennt das Gericht die Bedeutung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz.
c) Für die Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses ist kein Raum (vgl. BVerfGE 6, 386 ≪388 f.≫; 50, 234 ≪243≫); die Disziplinarmaßnahme ist bereits vollzogen, und der Beschluss des Landgerichts kann für den Beschwerdeführer keine nachteiligen Wirkungen mehr zeitigen.
V.
Weil die Verfassungsbeschwerde nur teilweise erfolgreich war, sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen nur zur Hälfte zu erstatten (§ 34 Abs. 2 BVerfGG). Insoweit erledigt sich zugleich der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (vgl. BVerfGE 62, 392 ≪397≫; 71, 122 ≪136 f.≫). Im Übrigen war er mangels hinreichender Erfolgsaussichten zurückzuweisen (§ 114 ZPO analog).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Hassemer, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 645114 |
NJW 2001, 3770 |
NPA 2002, 0 |
StV 2001, 698 |