Entscheidungsstichwort (Thema)
Glaubhaftmachung im Asylverfahren
Beteiligte
Rechtsanwälte Bernd Waldmann-Stocker und Koll. |
Verfahrensgang
VG Hannover (Urteil vom 08.11.1996; Aktenzeichen 1 A 7757/93) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die durch die Verfassungsbeschwerde und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht mehr vor. Weder kommt ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt.
1. Der Beschwerdeführer rügt unter anderem eine Verletzung von Art. 16a Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG, weil die Klageabweisung als „offensichtlich unbegründet” nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen genüge. Er habe sein Asylbegehren auf drei Verfolgungsgründe gestützt, aber nur die zur behaupteten Individualverfolgung vorgelegten Unterlagen seien vom Gericht als gefälscht bewertet worden. Ausführungen dazu, warum die weiter geltend gemachten Asylgründe (unter anderem drohende Sippenhaft) offensichtlich nicht gegeben seien, fehlten.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt eine Abweisung der Asylklage als offensichtlich unbegründet – mit der Folge des Ausschlusses weiterer gerichtlicher Nachprüfung (vgl. § 78 Abs. 1 AsylVfG) – voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre) die Abweisung der Klage sich dem Verwaltungsgericht geradezu aufdrängt. Aus den Entscheidungsgründen muss sich klar ergeben, weshalb das Gericht zu einem Urteil nach § 78 Abs. 1 AsylVfG kommt, warum somit die Klage nicht nur als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 76 ≪95 f.≫; 71, 276 ≪293 f.≫).
Erweist sich das Vorbringen eines Asylsuchenden hinsichtlich der von ihm geltend gemachten individuellen Vorfluchtgründe als insgesamt unglaubhaft und rechtfertigt dies insoweit die Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet, so steht damit noch nicht ohne weiteres fest, dass Gleiches auch für die übrigen – selbstständig zu beurteilenden – Verfolgungsgründe, etwa für eine geltend gemachte kollektive Verfolgungssituation oder – wie hier – für eine geltend gemachte Verfolgung aufgrund eines sippenhaftartigen Zugriffs auf nahe Angehörige eines politisch Verfolgten, und damit für die Asylklage insgesamt gilt. Enthält das Urteil des Verwaltungsgerichts hierzu keine eigenständige Darlegung, so müssen die Entscheidungsgründe jedenfalls erkennen lassen, ob und aus welchen Gründen die zum offensichtlichen Nichtbestehen von individuellen Vorfluchtgründen angestellten Erwägungen auch für die übrigen Gründe gelten sollen (vgl. 1. Kammer des Zweiten Senats, Beschlüsse vom 9. August 1994 – 2 BvR 2831/93 –, DVBl 1994, S. 1405 ≪1406≫ und vom 3. September 1996 – 2 BvR 2353/95 –, NVwZ-Beilage Nr. 2/1997, S. 9 ≪10≫ und – 2 BvR 1230/94 –, NVwZ-Beilage Nr. 4/1997, S. 26).
b) Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die unbegründete Klage sei gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abzuweisen, weil der Beschwerdeführer den Vortrag zu seinen individuellen Verfolgungsgründen auf ein gefälschtes Beweismittel im Sinne dieser Vorschrift gestützt habe. Es könne offen bleiben, ob er außerdem im Sinne von § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG teilweise über seine Identität getäuscht habe, weil er bei dem Einreiseversuch im Oktober 1992 sein Geburtsdatum mit 1. Januar 1977 angegeben und bei der Einreise am 1. Juni 1993 einen Pass mit dem Geburtsdatum 20. Februar 1979 vorgelegt habe.
Dies vermag ohne nähere Darlegung die Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet lediglich hinsichtlich der geltend gemachten individuellen Verfolgungsgründe zu tragen. Aus den Entscheidungsgründen wird nicht nachvollziehbar deutlich, ob und aus welchen Gründen die Vorlage des gefälschten Beweismittels auch das offensichtliche Nichtbestehen der weiteren geltend gemachten selbständigen Verfolgungsgründe, unter anderem einer Verfolgung aufgrund sippenhaftartigen Zugriffs des türkischen Staates auf nahe Angehörige eines politisch Verfolgten (hier des Vaters des Beschwerdeführers) rechtfertigen sollte. Das Urteil des Verwaltungsgerichts lässt auch darüber hinaus nicht erkennen, dass für diesen geltend gemachten selbständigen Verfolgungsgrund aus anderen Gründen die besonderen Voraussetzungen für die Abweisung einer Klage als offensichtlich unbegründet vorgelegen haben könnten.
2. Ungeachtet der damit gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil dem Beschwerdeführer durch die Abweisung seiner Klage als – sogar offensichtlich – unbegründet kein besonders schwerer Nachteil mehr entsteht.
a) Im Falle der Geltendmachung einer kollektiven Verfolgungssituation setzt die Abweisung der Asylklage als offensichtlich unbegründet in aller Regel voraus, dass eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung vorliegt. Dies schließt nicht aus, dass auch bei Sachverhalten, bei denen von einer „anerkannten Rechtsauffassung” nicht gesprochen werden kann, die Unbegründetheit der Asylklage offensichtlich sein kann; dazu wird es aber einer eindeutigen und widerspruchsfreien Auskunftslage sachverständiger Stellen bedürfen (vgl. BVerfGE 65, 76 ≪97≫). Vergleichbare Anforderungen gelten, wenn – außerhalb einer kollektiven Verfolgungssituation – Sachverhalte zu beurteilen sind, die – wie etwa die Frage des Bestehens von Sippenhaft – die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland oder sonst eine Vielzahl ähnlicher oder vergleichbarer Sachverhalte betreffen (vgl. 1. Kammer des Zweiten Senats, Beschlüsse vom 9. August 1994 – 2 BvR 2831/93 –, a.a.O., S. 1405, vom 12. Oktober 1994 – 2 BvR 18/94 –, NVwZ-Beilage 3/1995, S. 18 und vom 3. September 1996 – 2 BvR 2353/95 –, a.a.O., S. 10 und 2 BvR 1230/94, a.a.O., S. 26).
b) Das Verwaltungsgericht hat zum Gesichtspunkt der Sippenhaft ausgeführt, dass es sie in der Türkei im Gegensatz zu anderen Ländern nicht gebe. Zu der gleichen Feststellung komme amnesty international in seiner Stellungnahme vom Juli 1996. Allerdings könnten in Einzelfällen zurückkehrende Asylbewerber von asylerheblichen Maßnahmen türkischer Sicherheitsbehörden insbesondere dann betroffen sein, wenn z.B. nahe Angehörige wegen des Verdachts, der PKK angehört oder sie unterstützt zu haben, mit Haftbefehl gesucht würden. Dies kann weder als Darlegung einer eindeutigen und widerspruchsfreien Auskunftslage sachverständiger Stellen angesehen werden noch als Darlegung einer gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung. Zudem schließt die vom Verwaltungsgericht in Bezug genommene Auskunft von amnesty international ebenso wie die beiden genannten Urteile des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts nur Sippenhaft in Form strafrechtlicher Verfolgung aus. Es ist aber nunmehr deutlich absehbar, dass der Beschwerdeführer bei einer Aufhebung und Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Hinblick auf die inzwischen in der Rechtsprechung des zuständigen Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zur Frage der „Sippenhaft” erfolgte weitere Klärung im Ergebnis gleichwohl keinen Erfolg haben würde (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪26≫).
Der Beschwerdeführer hat nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde ein Asylfolgeverfahren durchgeführt. In dessen Rahmen hat das Verwaltungsgericht die geltend gemachte Verfolgung aufgrund sippenhaftartigen Zugriffs des türkischen Staates auf nahe Angehörige eines politisch Verfolgten einer erneuten, uneingeschränkten und umfassenden Prüfung unterzogen und die Asyl(folge)klage mit Urteil vom 8. Dezember 1999 – 1 A 2804/97 – (als einfach unbegründet) abgewiesen (Ausführungen zur Sippenhaft im Urteilsabdruck – 1 A 2804/97 – auf S. 10 bis 19). Mit Beschluss vom 21. Februar 2000 – 11 L 529/00 – hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die gegen dieses Urteil beantragte Berufungszulassung abgelehnt und zur Begründung (unter Verweis auf seine Urteile vom 19. Juli 1999 – 11 L 5513/97 – und vom 28. Oktober 1999 – 11 L 3050/98 –) unter anderem ausgeführt (vgl. S. 3 und 4 im Beschlussabdruck), in der Rechtsprechung des Senats sei geklärt, wann unter Sippenhaftgesichtspunkten mit politischer Verfolgung bei einer Rückkehr in die Türkei zu rechnen sei. Danach sei eine generell bestehende ernsthafte Verfolgungsgefahr in Gestalt sippenhaftähnlicher Maßnahmen grundsätzlich für nahe Verwandte von Personen anzunehmen, die dem führenden Kreis der PKK angehörten bzw. angehört hätten oder aufgrund eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens per Haftbefehl gesucht würden, weil sie im Verdacht stünden, die politischen Ziele von militanten staatsfeindlichen Organisationen, insbesondere der PKK, aktiv zu unterstützen. Zu den nahen Angehörigen, die von sippenhaftähnlichen Maßnahmen betroffen seien, gehörten im Allgemeinen Ehegatten, Eltern, Kinder ab 14 Jahren und Geschwister des politisch Verfolgten. Ob darüber hinaus im Einzelfall ein Verfolgungsinteresse der türkischen Behörden bei einer Rückkehr anzunehmen sei, weil der Betreffende selbst oder einer seiner Angehörigen tatsächlich in herausgehobener Position politisch aktiv gewesen sei oder weil die (örtlichen) türkischen Behörden ihn oder seinen Angehörigen (fälschlicherweise) derartiger Aktivitäten verdächtigten, hänge von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Bestünden hierfür hinreichende Anhaltspunkte, sei nach der Senatsrechtsprechung die Gefahr asylrelevanter Übergriffe – schon bei der Einreise – zu bejahen. Die hier vom Verwaltungsgericht nach diesen Kriterien der Senatsrechtsprechung durchgeführte Prüfung des Einzelfalles habe jedoch nach Auswertung aller konkreten Anhaltspunkte eine Verfolgungsgefahr für den Beschwerdeführer nicht bestätigen können. Dass dem Beschwerdeführer die Rechtsprechung des Senats zur sippenhaftähnlichen Inanspruchnahme Familienangehöriger als nicht weit reichend genug erscheine, sei eine Frage der rechtlichen Bewertung, die keine grundsätzliche Bedeutung begründe.
Hiernach ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung nicht mehr zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer angesichts der vom zuständigen Oberverwaltungsgericht bestätigten Auffassung, die es nach grundsätzlicher Klärung von Tatsachen– und Rechtsfragen vertritt, im Falle der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht im Ergebnis mit einer günstigeren Entscheidung rechnen könnte (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫).
3. Durch die Entscheidung in der Hauptsache erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. BVerfGE 7, 99 ≪109≫).
4. Dem Beschwerdeführer sind die durch das Verfassungsbeschwerde-Verfahren und das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 34a Abs. 3 BVerfGG), da die erhobene Rüge zur fehlenden Begründung des Offensichtlichkeitsurteils für den auch geltend gemachten Verfolgungsgrund der Sippenhaft im Wesentlichen begründet war und die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung lediglich aus prozessualen Gründen nicht mehr veranlasst ist.
5. Von einer weiteren Begründung wird gem. § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Sommer, Broß, Osterloh
Fundstellen
Haufe-Index 565343 |
DVBl. 2000, 1122 |