Verfahrensgang
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 21. Dezember 2010 – 7 U 4103/10 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Gegenstand des Ausgangsverfahrens war eine Streitigkeit aus dem Handelsvertreterrecht.
1. Die Beschwerdeführerin stellt Brillen her und vertreibt diese. Mit dem Vertrieb sind etwa 50 Handelsvertreter betraut, die in den ihnen zugewiesenen Gebieten bestimmte Kollektionen der Beschwerdeführerin an die dortigen Optiker vertreiben. In den jeweiligen Gebieten sind dabei stets mehrere Handelsvertreter für die Beschwerdeführerin tätig, die jeweils mit dem Vertrieb unterschiedlicher Kollektionen betraut sind. Im September 2008 schloss die Beschwerdeführerin mit der Klägerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Klägerin) einen Handelsvertretervertrag ab. Nach Maßgabe des Vertrages war die Klägerin mit dem Vertrieb der neu in das Sortiment der Beschwerdeführerin aufgenommenen Brillenkollektionen C. und F. in dem ihr zugewiesenen Gebiet betraut. Die Klägerin erhielt von der Beschwerdeführerin eine Liste ausgehändigt, in der sämtliche bisherigen Kunden der Beschwerdeführerin verzeichnet waren. Bis zum Ende der Vertragsbeziehung im Juni 2009 vermittelte die Klägerin der Beschwerdeführerin unter anderem Kaufverträge mit 34 Optikern, die bereits auf der Liste aufgeführt waren. Nach Beendigung des Handelsvertretervertrages machte die Klägerin Ausgleichsansprüche geltend. Ihre Forderung begründete sie unter anderem damit, dass es sich auch bei den 34 bereits auf der Kundenliste verzeichneten Optikern um Neukunden im Sinne des § 89b Abs. 1 Satz 1 HGB gehandelt habe, da diese vorher keine Brillen aus den Kollektionen C. und F. bezogen hätten.
Das Landgericht gab der Klage mit Teil- und Grundurteil vom 29. Juni 2010 dem Grunde nach statt. Es seien alle von der Klägerin geworbenen Kunden als Neukunden anzusehen. Die Grenzziehung zwischen Alt- und Neukunden orientiere sich an der Frage, „ob hier ein gänzlich neues Produkt beziehungsweise ein Artikel aus einer neuen Branche und damit eine neue werthaltige Geschäftsbeziehung vom Handelsvertreter geknüpft wurde”. Da es hier der Klägerin verwehrt gewesen sei, Brillen aus anderen Kollektionen der Beschwerdeführerin anzubieten, und sie damit in Konkurrenz zu den anderen Vertretern der Beschwerdeführerin getreten sei, sei jeder der von ihr geworbenen Optiker als neuer Kunde anzusehen, auch wenn er bereits Brillen aus anderen Kollektionen der Beschwerdeführerin bezogen habe.
Hiergegen legte die Beschwerdeführerin Berufung ein. Nach vorangegangenem Hinweis wies das Oberlandesgericht die Berufung mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Zur Begründung führte es aus, dass es hier aufgrund der besonderen Vertragskonstruktion, die die Beschwerdeführerin für den Vertrieb ihrer Produkte verwende, gerechtfertigt sei, bei der Abgrenzung zwischen Alt- und Neukunden keine branchenbezogene Betrachtung anzustellen und sämtliche Kunden der Klägerin als Neukunden zu werten. Dem stünden die von der Beklagten zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 28. April 1999 – VIII ZR 354/97 –, MDR 1999, S. 1076) sowie der Oberlandesgerichte Düsseldorf (Urteil vom 17. Dezember 1999 – 16 U 250/97 –, juris) und Stuttgart (Urteil vom 15. Juli 2008 – 10 U 16/08 –, juris) nicht entgegen, da diesen andere Vertragskonstellationen zugrunde gelegen hätten. Die Rechtsfrage habe entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin keine grundsätzliche Bedeutung, da es lediglich um die konkrete Vertragsgestaltung der Beschwerdeführerin mit ihren Handelsvertretern ginge. Anderes gelte auch dann nicht, wenn die von ihr gewählte Art des Vertriebs branchenüblich sein sollte.
2. Gegen die genannten Entscheidungen wendet sich die Beschwerdeführerin mit der vorliegenden Verfassungsbeschwerde. Sie rügt eine Verletzung ihres Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
3. Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie der Klägerin zugestellt. Von der eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme wurde kein Gebrauch gemacht. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen der Kammer vor.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.
1. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes, das für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten ist (vgl. BVerfGE 54, 277 ≪291≫; 80, 103 ≪107≫; 85, 337 ≪345≫; 97, 169 ≪185≫; stRspr), beeinflusst die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind. Hat der Gesetzgeber sich für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 ≪385≫; 74, 228 ≪234≫; 77, 275 ≪284≫). Dementsprechend beanstandet das Bundesverfassungsgericht eine den Zugang zum Rechtsmittel erschwerende Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilprozessualen Vorschriften dann, wenn sie aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen und damit schlechterdings unvertretbar sind, sich somit als objektiv willkürlich erweisen und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränken (vgl. BVerfGE 74, 228 ≪234≫; BVerfGK 11, 235 ≪238 f.≫; 12, 341 ≪343 f.≫; 14, 238 ≪242 f.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. April 2010 – 1 BvR 1991/09 –, GRUR 2010, S. 1033). Dieser verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab gilt insbesondere auch für die Auslegung und Anwendung des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO (vgl. BVerfGK 11, 235 ≪238≫; 12, 341 ≪343 f.≫; 14, 238 ≪242 f.≫). Bei Zugrundelegung dieses Maßstabs verletzt die hier durch das Oberlandesgericht vorgenommene Auslegung und Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO das Gebot effektiven Rechtsschutzes.
a) Nach § 522 Abs. 2 ZPO a.F. ist Voraussetzung für die Zurückweisung der Berufung durch einstimmigen Beschluss unter anderem, dass nicht die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordern (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO). Diese Voraussetzung steht einer Verwerfung der Berufung durch einstimmigen Beschluss unter anderem dann entgegen, wenn die beabsichtigte Berufungsentscheidung von einem tragenden Rechtssatz eines höher- oder gleichrangigen Gerichts abweicht und die beabsichtigte Entscheidung auf dieser Abweichung beruht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. März 2012 – 1 BvR 2365/11 –, GRUR 2012, S. 601 zu den entsprechenden Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO).
b) Das Oberlandesgericht verkennt diese Voraussetzungen. Seine Annahme, die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordere hier keine Entscheidung durch Urteil unter Zulassung der Revision, kann sachlich nicht gerechtfertigt werden und ist schlechterdings unvertretbar.
aa) Der Bundesgerichtshof hat es in der zitierten Entscheidung vom 28. April 1999 als rechtsfehlerfrei angesehen, den Begriff des Neukunden branchenbezogen zu definieren und davon auszugehen, dass ein Kunde, der schon bisher mit dem Unternehmer in Geschäftsbeziehungen gestanden habe, auch dann als Neukunde betrachtet werden müsse, wenn er für einen anderen Geschäftszweig neu gewonnen werde (a.a.O., S. 1078). Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat in seinem Urteil vom 17. Dezember 1999 ebenfalls anhand einer branchenbezogenen Sichtweise beurteilt, ob Bestandskunden, die Waren für einen anderen Einsatzzweck bestellen, deshalb als „neue Kunden” im Sinne des § 89b Abs. 1 Satz 1 HGB zu betrachten sind (a.a.O., Rz. 96, 114). Auch das Oberlandesgericht Stuttgart hat in seiner Entscheidung vom 15. Juli 2008 einen branchenbezogenen Neukundenbegriff zugrunde gelegt; ob die neu angebotene Ware noch in die gleiche Branche falle, hänge davon ab, inwieweit ein Zusammenhang mit den bisherigen Erzeugnissen des Unternehmers bestehe. Jedenfalls genüge es nicht, wenn lediglich das Sortiment erweitert und der Kunde auch für Artikel des erweiterten Sortiments gewonnen werde (a.a.O., Rz. 86 ff. ≪98≫).
bb) Zwar liegt hier keine Abweichung von der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vor. Denn dieser hat lediglich die Erweiterung des Neukundenbegriffs aufgrund einer branchenbezogenen Sichtweise als frei von Rechtsfehlern angesehen, ohne damit aber Erweiterungen aufgrund anderer Erwägungen zwingend auszuschließen. Anders liegt es jedoch im Hinblick auf die Entscheidungen der Oberlandesgerichte Düsseldorf und Stuttgart. Denn in beiden zitierten Entscheidungen wurde davon ausgegangen, dass es sich bei einem Bestandskunden, der Waren für einen anderen Einsatzzweck beziehungsweise aus einer anderen Produktlinie bezieht, nicht um einen Neukunden im Sinne des § 89b Abs. 1 Satz 1 HGB handele, wenn die Waren derselben Branche wie die bisher bezogenen Waren zuzurechnen sind (OLG Düsseldorf, a.a.O., Rz. 96, 114; OLG Stuttgart, a.a.O., Rz. 98). Dieser Rechtssatz trägt die genannten Entscheidungen. Indem das Oberlandesgericht im vorliegenden Verfahren angenommen hat, dass auch jene Kunden als Neukunden anzusehen seien, die bereits andere Brillen der Beschwerdeführerin bezogen hatten, ist es von diesem Rechtssatz abgewichen.
Warum das Oberlandesgericht trotz der ausdrücklichen und entscheidungserheblichen Abweichung dennoch davon ausgegangen ist, dass die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung durch Urteil erfordere, ist nicht nachvollziehbar. Die Begründung des Oberlandesgerichts, die von der Beklagten zitierten Entscheidungen stünden seiner Rechtsauffassung nicht entgegen, da diesen andere Vertragskonstruktionen zugrunde gelegen hätten, ist offensichtlich unvertretbar. Denn für die Frage der Divergenz kommt es nur darauf an, dass das Oberlandesgericht bei der Beantwortung der abstrakten Rechtsfrage, unter welchen Umständen ein Kunde, mit dem bereits eine Geschäftsbeziehung besteht, dennoch als „neuer” Kunde im Sinne des § 89b Abs. 1 Satz 1 HGB angesehen werden kann, von dem genannten abstrakten Rechtssatz abgewichen ist. Diese Abweichung wird durch die Besonderheiten der vorliegenden Vertragskonstruktion nicht berührt.
2. Ob auch insoweit von einer willkürlichen Auslegung und Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO a.F. auszugehen ist, weil eine Entscheidung im Beschlusswege auch deswegen hätte offensichtlich unterbleiben müssen, weil der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt, kann offen bleiben.
III.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts ist hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben; die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Der nach § 37 Abs. 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt 8.000 EUR (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪367 ff.≫).
Unterschriften
Gaier, Paulus, Britz
Fundstellen