Verfahrensgang
AG München (Beschluss vom 25.01.2007; Aktenzeichen 233 C 27517/06) |
AG München (Urteil vom 17.11.2006; Aktenzeichen 233 C 27517/06) |
Tenor
1. Das Urteil des Amtsgerichts München vom 17. November 2006 – 233 C 27517/06 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Das Urteil wird aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Beschluss des Amtsgerichts München vom 25. Januar 2007 – 233 C 27517/06 – ist damit gegenstandslos.
2. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die vorliegende Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Ablehnung der Verlängerung einer Klageerwiderungsfrist in einem Zivilprozess und den Erlass eines kontradiktorischen Urteils noch vor Ablauf dieser Frist.
1. Die Beschwerdeführerin betreibt eine Gemeinschaftspraxis für Anästhesie. Im Ausgangsverfahren wurde sie vor dem Amtsgericht auf Rückerstattung vereinnahmten Arzthonorars in Höhe von 445,45 € verklagt. Der Kläger des Ausgangsverfahrens machte geltend, dass eine von ihm vollständig beglichene Rechnung der Beschwerdeführerin nicht den Maßgaben der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) entspreche und er daher den eingeklagten Teil des Honorars wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurückfordern könne.
Mit Beschluss vom 30. Oktober 2006 setzte das Amtsgericht der Beschwerdeführerin eine Klageerwiderungsfrist von zwei Wochen. Die Parteien wurden darauf hingewiesen, dass das Gericht sein Verfahren gemäß § 495a der Zivilprozessordnung (ZPO) nach billigem Ermessen bestimmen könne und sich vorbehalte, durch Endurteil unter Berücksichtigung des Akteninhalts zu entscheiden, wenn die beklagte Partei innerhalb der gesetzten Frist auf das Klagevorbringen nicht erwidere. Diese Verfügung wurde der Beschwerdeführerin am 3. November 2006 zugestellt. Dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin wurde das Mandat erst mit am 16. November 2006 eingegangenem Schreiben erteilt. Mit Schriftsatz vom selben Tage, der um 17.13 Uhr vorab per Telefax an das Amtsgericht übermittelt wurde, bat der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin um Verlängerung der Klageerwiderungsfrist bis zum 7. Dezember 2006, weil er erst heute mandatiert worden und arbeitsbedingt überlastet sei.
Mit Beschluss vom 17. November 2006 wies das Amtsgericht den Antrag auf Fristverlängerung zurück, weil kein triftiger Grund hierfür vorgetragen worden sei. Warum die Beklagte erst 13 Tage nach Zugang des Beschlusses einen Prozessvertreter mandatiert habe, werde nicht erklärt. Ebenfalls am 17. November 2006 erließ das Amtsgericht ein Endurteil gemäß § 495a ZPO, mit dem der Klage in vollem Umfang stattgegeben wurde.
Die Beschwerdeführerin erhob daraufhin Gehörsrüge nach § 321a ZPO und beantragte hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die Klageerwiderungsfrist. Das Amtsgericht wies die Gehörsrüge und den Wiedereinsetzungsantrag in einem Beschluss zurück.
2. Gegen diesen Beschluss und das Endurteil richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Die Beschwerdeführerin rügt Art. 103 Abs. 1 GG als verletzt. Indem das Amtsgericht die Fristverlängerung sowie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt habe, habe es ihr den Zugang zu dem Gericht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Außerdem hätte das Amtsgericht vor Ablauf der Klageerwiderungsfrist keine Entscheidung in der Sache treffen dürfen. Eine weitere Verletzung des Gehörsrechts liege darin, dass das Amtsgericht ein kontradiktorisches Endurteil erlassen habe, obwohl die Beschwerdeführerin keinen Sachantrag gestellt habe und damit säumig gewesen sei.
3. Dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und dem Kläger des Ausgangsverfahrens wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt.
1. Das Urteil des Amtsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verbürgten Recht auf faire Verfahrensgestaltung.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf der Zugang zum Gericht sowie zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 41, 23 ≪25 f.≫; 67, 208 ≪212 f.≫; 69, 381 ≪385≫; 85, 337 ≪345≫; 88, 118 ≪123 ff.≫). Eine derartige Erschwerung liegt vor, wenn bei der Entscheidung über Verlängerungsanträge und über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein Verhalten als schuldhaft angesehen wird, das nach der Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts eindeutig nicht zu beanstanden ist. Grundsätzlich sind die Instanzgerichte zwar nicht gehindert, auch insoweit abweichende Auffassungen zu der Rechtsprechung übergeordneter Gerichte, insbesondere der obersten Bundesgerichte, zu vertreten. Sie sind allerdings aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit gehindert, solche Meinungsunterschiede zu Lasten des Bürgers auszutragen und es ihm zum Verschulden gereichen zu lassen, wenn er auf eine eindeutige Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts vertraut hat. Nur wenn dem rechtsuchenden Bürger bekannt sein muss, dass eine strengere Handhabung von Verfahrensvorschriften zu erwarten ist, kann eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 79, 372 ≪376 f.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. Januar 2000 – 1 BvR 1621/99 –, NJW 2000, S. 1634; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. September 2000 – 1 BvR 464/00 –, NJW 2001, S. 812 ≪813≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 4. Dezember 2000 – 1 BvR 1797/00 –, NJW-RR 2001, S. 1076 ≪1077≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Januar 2002 – 1 BvR 1859/01 –, NJW-RR 2002, S. 1007).
b) Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben wird das nach Versagung der Fristverlängerung ergangene Urteil nicht gerecht. Gemessen an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat das Amtsgericht die von der Beschwerdeführerin einzuhaltenden Sorgfaltsanforderungen und die zu erfüllende Darlegungslast überspannt. Der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin musste nicht damit rechnen, dass seinem Fristverlängerungsantrag nicht stattgegeben wird und noch innerhalb der laufenden Klageerwiderungsfrist ein kontradiktorisches Endurteil ergeht. Er durfte vielmehr auf die Stattgabe seines Fristverlängerungsantrags vertrauen.
aa) Ob ein Prozessbevollmächtigter darauf vertrauen darf, dass seinem Verlängerungsantrag stattgegeben wird, beurteilt sich nach der Auslegung und Anwendung des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO (§ 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO a.F.) durch die Rechtsprechung, insbesondere der obersten Bundesgerichte. Die für die Verlängerung richterlicher Fristen nach § 224 Abs. 2 ZPO erforderlichen “erheblichen Gründe” sind ebenso zu verstehen wie in § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO (vgl. Roth, in: Stein/Jonas, Zivilprozessordnung, 22. Aufl. 2005, § 224 Rn. 8; Stöber, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 26. Aufl. 2007, § 224 Rn. 6).
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein Prozessbevollmächtigter mit großer Wahrscheinlichkeit dann mit der Bewilligung einer erstmals beantragten Fristverlängerung rechnen darf, wenn erhebliche Gründe dargelegt sind. Hierzu gehört die – hier geltend gemachte – Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten. Der bloße Hinweis auf eine solche Arbeitsüberlastung reicht zur Feststellung eines erheblichen Grundes im Sinne von § 224 Abs. 2 und § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf (vgl. BGH, VersR 1993, S. 771 ≪772≫ m.w.N.; vgl. auch BVerfGE 79, 372 ≪377≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. September 2000 – 1 BvR 464/00 –, NJW 2001, S. 812 ≪813≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Januar 2002 – 1 BvR 1859/01 –, NJW-RR 2002, S. 1007 ≪1008≫ m.w.N.).
bb) Vor dem Hintergrund dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung konnte der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin erwarten, dass das Amtsgericht seinem Antrag auf Fristverlängerung entsprechen würde.
Die Einschätzung des Amtsgerichts, es sei von der Beschwerdeführerin “kein triftiger Grund für die beantragte Fristverlängerung vorgetragen worden”, weicht von der dargestellten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erheblich ab. Auch die in dem Beschluss über die Fristverlängerung zu Tage tretende Ansicht des Amtsgerichts, die Beschwerdeführerin hätte erklären müssen, warum sie erst einen Tag vor Fristablauf einen Prozessvertreter mandatiert habe, steht mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht in Einklang.
Eine von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichende strengere Praxis des Amtsgerichts, aufgrund derer die Beschwerdeführerin vorliegend auf eine Fristverlängerung nicht hätte vertrauen dürfen, ergibt sich nicht. Das Amtsgericht hat in seinem Beschluss vom 25. Januar 2007 über den Wiedereinsetzungsantrag der Beschwerdeführerin vielmehr selbst festgestellt, dass “mit der Arbeitsüberlastung des Anwalts begründete Fristverlängerungsanträge sonst im allgemeinen großzügig verbeschieden (würden)”.
Das Amtsgericht hat vorliegend der Beschwerdeführerin den Zugang zum Gericht nicht nur erschwert, sondern ihr die Möglichkeit jeglichen Sachvortrags in unvorhersehbarer und damit in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise gänzlich abgeschnitten und sie damit in ihrem Grundrecht auf rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt. Am 17. November 2006 wurde nicht nur die Verlängerung der Klageerwiderungsfrist abgelehnt, sondern an demselben Tage (und somit innerhalb der noch laufenden Klageerwiderungsfrist) ein Endurteil erlassen. Dieses Vorgehen wiegt umso schwerer, als das von dem Amtsgericht im Verfahren nach § 495a ZPO erlassene kontradiktorische Urteil mit keinem Rechtsmittel mehr angreifbar ist.
2. Bei der gegebenen Sachlage kann dahinstehen, ob das Urteil des Amtsgerichts München zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG darstellt, da die angegriffene Entscheidung bereits aus den oben dargelegten Gründen aufzuheben ist.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Papier, Steiner, Gaier
Fundstellen
Haufe-Index 1785942 |
NJW 2007, 3342 |
FamRZ 2008, 131 |
BRAK-Mitt. 2008, 59 |