Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Beschluss vom 22.04.2005; Aktenzeichen 1 VAs 10/05) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 22. April 2005 – 1 VAs 10/05 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes in Verbindung mit ihrem Anspruch auf ein faires Verfahren (Artikel 2 Absatz 1, Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Oldenburg zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellung eines fortbestehenden Rechtsschutzinteresses bei erledigten hoheitlichen Maßnahmen.
1. Der Sohn der Beschwerdeführerin war im Januar 2005 Untersuchungsgefangener in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg. Als die Beschwerdeführerin in Begleitung ihres Enkels am 18. Januar 2005 ihren Sohn besuchen wollte, wurde ihr der Zutritt zur Justizvollzugsanstalt unter Hinweis auf ein gegen sie am 17. Januar 2005 verhängtes vierwöchiges Hausverbot verwehrt. Mit Schreiben vom 19. Januar 2005 erhob die Beschwerdeführerin “Beschwerde” zum Amtsgericht Oldenburg, beantragte die sofortige Aufhebung des Hausverbots sowie die Festsetzung eines neuen Besuchstermins und bat um “sofortige Entscheidung”.
2. Ein Richter des Amtsgerichts – nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin der zuständige Haftrichter – teilte am 20. Januar 2005 telefonisch mit, die Justizvollzugsanstalt habe auf telefonische Anfrage die Aufhebung des Hausverbots abgelehnt, und verfügte am gleichen Tag die Weiterleitung des Antrags an das Oberlandesgericht “zur weiteren Veranlassung gemäß §§ 23 ff. EGGVG”.
Nach Rücksprache mit dem Vorsitzenden Richter des zuständigen Strafsenats am Oberlandesgericht vermerkte am 20. Januar 2005 die Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg, die Eingabe der Beschwerdeführerin sei als Dienstaufsichtsbeschwerde zu behandeln, da eine Antragsberechtigung der Beschwerdeführerin nach § 23 EGGVG zweifelhaft sei, und verfügte die Weiterleitung an die Justizvollzugsanstalt Oldenburg. Von diesem Vorgehen wurde die Beschwerdeführerin nicht unterrichtet. Auf eine Sachstandsanfrage vom 11. Februar 2005 beim Präsidenten des Oberlandesgerichts erhielt sie zunächst keine Antwort.
Am 23. Februar 2005 – nach Verstreichen des vierwöchigen Hausverbots – wies die Justizvollzugsanstalt die Dienstaufsichtsbeschwerde zurück, weil ein dienstliches Fehlverhalten der Justizbediensteten nicht ersichtlich sei. Nachdem die Beschwerdeführerin auf diese Weise erstmals von der Behandlung ihrer Eingabe Kenntnis erlangt hatte, erklärte sie mit Schreiben an den Präsidenten des Oberlandesgerichts vom 21. März 2005, sie halte ihre Beschwerde vom 19. Januar 2005 aufrecht. Mit weiterem Schreiben vom 22. März 2005 beantragte sie, festzustellen, dass das gegen sie verhängte Hausverbot und sein Vollzug rechtswidrig gewesen seien.
Die Generalstaatsanwaltschaft nahm mit Schreiben vom 30. März 2005 zu dem Antrag dahingehend Stellung, dass es sich bei dem gegenüber der Beschwerdeführerin ausgesprochenen Hausverbot nicht um eine der gerichtlichen Kontrolle nach den §§ 23 ff. EGGVG unterfallende Maßnahme handele; gegen eine solche hauspolizeiliche Anordnung könne nur mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde vorgegangen werden.
Durch Beschluss vom 22. April 2005 wies das Oberlandesgericht den Antrag als unzulässig zurück, weil das Hausverbot sich erledigt und die Beschwerdeführerin an der Feststellung der Rechtswidrigkeit kein berechtigtes Interesse im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 4 EGGVG habe.
Entscheidungsgründe
II.
1. Mit ihrer fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG. Das Oberlandesgericht habe bei der Anwendung von § 28 Abs. 1 Satz 4 EGGVG zu Unrecht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse verneint. Ihr könne nicht entgegengehalten werden, die Angelegenheit liege bereits längere Zeit zurück. Die Verzögerung habe ausschließlich justizinterne Gründe gehabt.
2. Das Niedersächsische Justizministerium hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es hat von einer Äußerung abgesehen.
III.
1. Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung der Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (siehe unter 2.). Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit ihrem Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG).
2. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 ≪58≫; stRspr).
a) Dies schließt es nicht aus, den Zugang zu den Gerichten von bestimmten Zulässigkeitsvoraussetzungen, namentlich von einem bestehenden Rechtsschutzinteresse, abhängig zu machen und ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer hoheitlichen Maßnahme nach deren Erledigung nur unter besonderen Voraussetzungen anzuerkennen (vgl. BVerfGE 96, 27 ≪39≫; 104, 220 ≪232≫; stRspr). Der Zugang zu einer gerichtlichen Sachentscheidung darf jedoch durch die Auslegung und Anwendung des Prozessrechts nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 77, 275 ≪284≫; 110, 339 ≪342≫).
Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG fordert daher auch, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit gewährt wird (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫; 93, 1 ≪13≫). Aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes folgt das Gebot, soweit als möglich zu verhindern, dass durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme Tatsachen geschaffen werden, die auch dann, wenn sich die Maßnahme bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150 ≪153≫; 65, 1 ≪70≫). Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet zwar die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen nicht schlechthin (vgl. BVerfGE 65, 1 ≪70≫). Es muss jedoch gewährleistet sein, dass der Betroffene umgehend eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann, ob im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung oder aber das Interesse des Einzelnen an der Aussetzung der Vollziehung bis zur Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme überwiegt (vgl. BVerfGE 37, 150 ≪153≫).
b) Kommt eine gerichtliche Entscheidung aufgrund von Verzögerungen, die der Justiz anzulasten sind, nicht vor Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzbegehrens zustande, so ist zu berücksichtigen, dass das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgende Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren es den Gerichten verbietet, aus eigenen Fehlern, Unklarheiten oder Versäumnissen Nachteile für die Verfahrensbeteiligten abzuleiten (vgl. BVerfGE 78, 123 ≪126≫; 110, 339 ≪342≫). Erst recht kann es Gerichten nicht gestattet sein, Gründe für die Abweisung von Anträgen als unzulässig durch eigene verfahrensfehlerhafte Antragsbehandlung selbst herbeizuführen. Eine Rechtsordnung, die dies ermöglichte, verstieße gegen den Grundsatz, dass der Rechtsstaat rechtswidriges Vorgehen nicht begünstigen darf (vgl. Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006 – 2 BvR 669/04 –, EuGRZ 2006, S. 435 ≪442≫).
Demgemäß ist beispielsweise bei einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu berücksichtigen, ob die Gerichte durch ihr Verhalten zur Fristversäumnis beigetragen haben (vgl. BVerfGE 110, 339 ≪342≫). Die Anwendung einer Präklusionsvorschrift im Zivilprozess kann gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, wenn das Gericht die Verzögerung mitverursacht hat (vgl. BVerfGE 60, 1 ≪6≫). Kommen Behörden ihrer Verpflichtung, offensichtliche Irrläufer weiterzuleiten, nicht nach, so gebietet Art. 19 Abs. 4 GG, dies bei der Entscheidung über eine Wiedereinsetzung zu berücksichtigen (Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. September 2002– 1 BvR 476/01 –, NJW 2002, S. 3692 ≪3693≫). Aus dem Grundsatz, dass die Justiz eigene Fehler nicht dem Rechtsschutzsuchenden zum Nachteil ausschlagen lassen darf, können sich auch besondere gerichtliche Belehrungspflichten ergeben (vgl. Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. März 2005 – 2 BvR 975/03 –, NStZ-RR 2005, S. 238 f., und vom 27. September 2005 – 2 BvR 172/04 u.a. –, NJW 2005, S. 3629 f.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 2006 – 2 BvR 1147/05 –, JURIS).
Mit der Verpflichtung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und den Anforderungen eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) ist es daher auch unvereinbar, wenn Gerichte dem Betroffenen eine Entscheidung zur Sache wegen Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzbegehrens versagen, nachdem sie selbst durch verfahrensfehlerhafte Behandlung des zugrundeliegenden Antrags verhindert haben, dass eine gerichtliche Entscheidung vor Erledigung zustandekam. Dies gilt auch dann, wenn es bei sachgerechter Verfahrensgestaltung vor Eintritt der Erledigung möglicherweise nicht zu einer Entscheidung in der Hauptsache, sondern lediglich zu einer rechtzeitigen Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gekommen wäre.
3. Den daraus sich ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts nicht gerecht. Das Gericht – nunmehr offenbar, ohne dass die getroffene Entscheidung eine diesbezügliche Prüfung und Gründe für den eingetretenen Sinneswandel erkennen ließe, von eigener Zuständigkeit zur Entscheidung über den Antrag ausgehend – hat bei der Prüfung des Feststellungsinteresses den Umstand nicht berücksichtigt, dass es den Antrag der Beschwerdeführerin vom 19. Januar 2005 in der Zeit bis zur Erledigung nicht sachgemäß behandelt und dadurch eine Entscheidung vor Eintritt der Erledigung verhindert hat.
Die Behandlung des Schreibens der Beschwerdeführerin als Dienstaufsichtsbeschwerde war unsachgemäß und mit dem Anspruch der Beschwerdeführerin aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar. Das Schreiben der Beschwerdeführerin war unschwer als Antrag auf eine gerichtliche Entscheidung zu erkennen. Es war zwar als “Beschwerde” überschrieben, was unter anderen Umständen auf eine Dienstaufsichtsbeschwerde hätte hindeuten können. Adressiert war es aber an das Amtsgericht, das nicht die Dienstaufsicht über die Justizvollzugsanstalt ausübt. Weiter enthielt das Schreiben förmliche Anträge in der Sache und ein Beweisangebot. Optisch hervorgehoben verlangte die Beschwerdeführerin eine sofortige Entscheidung. Nach alledem durfte das Oberlandesgericht, dem das Amtsgericht den Antrag – aufgrund zutreffender Auslegung als Antrag auf gerichtlichen Rechtsschutz – in der Annahme dortiger Entscheidungszuständigkeit zugeleitet hatte, nicht davon ausgehen, es handele sich um eine Dienstaufsichtsbeschwerde. Auch Zweifel des Oberlandesgerichts an der Zulässigkeit des Antrags gemäß § 23 EGGVG (zur Frage der Anwendbarkeit des § 119 Abs. 6 StPO und daraus folgenden Zuständigkeit des Haftrichters vgl. BGHSt 29, 135 ≪137≫) rechtfertigten die Behandlung als Dienstaufsichtsbeschwerde nicht. Zweifel der Gerichte am Vorliegen bestimmter Zulässigkeitsvoraussetzungen dürfen im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht dazu führen, dass dem Rechtsbehelfsführer eine gerichtliche Entscheidung praktisch versagt wird (vgl. BVerfGE 57, 9 ≪22≫ zur Rechtswegeröffnung). Die Annahme, das Hausverbot sei für die Beschwerdeführerin nur im Wege der Dienstaufsichtsbeschwerde angreifbar, wäre angesichts der nicht auszuschließenden Möglichkeit, dass dieses Verbot Rechte der Beschwerdeführerin verletzt, mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG offensichtlich nicht vereinbar (vgl. BVerfGE 57, 9 ≪21≫). Bei Zweifeln, ob der Antrag der Beschwerdeführerin als Antrag nach § 23 EGGVG statthaft und ob die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für eine Sachentscheidung gegeben war, wie auch bei feststehender Überzeugung von der eigenen Unzuständigkeit hätte das Gericht den Antrag daher nicht als Dienstaufsichtsbeschwerde behandeln dürfen. Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführerin von der Behandlung des Antrags als Dienstaufsichtsbeschwerde, nicht in Kenntnis gesetzt und damit außerstandegesetzt wurde, ihrerseits auf eine zeitgerechte gerichtliche Entscheidung hinzuwirken. Angesichts dieser vorausgegangenen Fehlbehandlung, die zur Folge hatte, dass vor Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzbegehrens der geltend gemachte Anspruch der Beschwerdeführerin von keinem Gericht inhaltlich geprüft wurde, durfte das Oberlandesgericht nach eingetretener Erledigung ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse der Beschwerdeführerin nicht verneinen.
Ob ein Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerin noch aus weiteren Gründen – etwa im Hinblick auf eine Wiederholungsgefahr oder ein Rehabilitierungsinteresse – nicht hätte verneint werden dürfen (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪233≫; 110, 77 ≪92≫), kann wegen des bereits festgestellten Grundrechtsverstoßes offenbleiben.
4. Der angefochtene Beschluss beruht auf der dargelegten Grundrechtsverletzung. Er ist daher aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). Soweit das Oberlandesgericht nunmehr seine Unzuständigkeit feststellen sollte, wird es aus den oben genannten Gründen die Sache an das für zuständig erachtete Gericht weiterzuleiten haben, das seinerseits – in gleicher Weise wie das Oberlandesgericht selbst, sofern es seine Zuständigkeit bejahte – bei der Prüfung des Feststellungsinteresses der vorausgegangenen unsachgemäßen gerichtlichen Sachbehandlung Rechnung zu tragen haben wird.
5. Das Land Niedersachsen hat gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1683983 |
NVwZ 2007, 807 |
NStZ 2007, 413 |
ZAP 2007, 276 |
StV 2007, 589 |