Verfahrensgang
LG Bonn (Beschluss vom 31.10.2005; Aktenzeichen 32 U 3/05) |
LG Bonn (Beschluss vom 20.09.2005; Aktenzeichen 32 U 3/05) |
Tenor
- Der Beschluss des Landgerichts Bonn vom 31. Oktober 2005 – 32 U 3/05 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird insoweit an eine andere Kammer des Landgerichts Bonn zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Beachtung der Unschuldsvermutung bei einer Auslagenentscheidung nach endgültiger Einstellung des Strafverfahrens gemäß § 153a Abs. 2 StPO.
A.
I.
1. Das Amtsgericht und im Berufungsverfahren das Landgericht verurteilten den Beschwerdeführer jeweils wegen sexuellen Missbrauchs. Auf die Revision des Beschwerdeführers hob das Oberlandesgericht das Urteil des Berufungsgerichts auf, weil die Beweiswürdigung unvollständig sei. Das Revisionsgericht könne mangels näherer Mitteilung im Urteil nicht prüfen, ob die für die Beweisführung ausschlaggebenden Lichtbildvorlagen ordnungsgemäß erfolgt seien.
2. Nach Zurückverweisung stellte das Landgericht das Verfahren gemäß § 153a StPO vorläufig und – nachdem der Beschwerdeführer die ihm erteilten Auflagen erfüllt hatte – mit Beschluss vom 20. September 2005 endgültig ein. Zur Begründung der Auslagenentscheidung führte das Landgericht aus:
“Seine Auslagen trägt der Angeklagte insgesamt selbst, § 467 Abs. 4 StPO. Dies erscheint bereits deshalb angemessen, weil in zwei Tatsacheninstanzen ein Schuldnachweis geführt wurde.”
3. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer am 19. Oktober 2005 Gegenvorstellung, welche das Landgericht mit Beschluss vom 31. Oktober 2005 mit folgender Begründung zurückwies:
“Die Ausführungen in der Gegenvorstellung geben keine Veranlassung zu einer von der getroffenen Entscheidung abweichenden Kostenregelung. Unzutreffend ist bereits, dass die Unschuldsvermutung im Rahmen einer Entscheidung nach § 153a StPO regelmäßig eine Kostenregelung zum Nachteil der Staatskasse erfordere. In diesem Fall hätte es einer Vorschrift im Sinne des § 467 Abs. 4 StPO gar nicht erst bedurft.
Auch die Einwendungen des Angeklagten gegen die Ausübung des richterlichen Ermessens gehen fehl. Entgegen seinen Ausführungen war die Feststellung der Schuld durch das erstinstanzliche- und durch das Berufungsgericht nicht prozessordnungswidrig. Das Oberlandesgericht Köln hat ‘nur’ einen Darstellungsmangel hinsichtlich des Berufungsurteils angenommen. Dass auch das Oberlandesgericht von einer inhaltlich zutreffenden Schuldfeststellung durch die Vorinstanzen ausgegangen ist, belegt bereits der Umstand, dass die Beschwerde des Verurteilten gegen den DNA-Beschluss vom 13. Oktober 2004 zurückgewiesen wurde. Dies setzte jedoch hinreichenden Tatverdacht und eine entsprechende Negativprognose voraus.”
II.
Mit der gegen die beiden Beschlüsse des Landgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung der Unschuldsvermutung, weil ihm das Landgericht jeweils strafrechtliche Schuld zugewiesen habe, ohne dass diese zuvor prozessordnungsgemäß festgestellt worden sei.
B.
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
C.
Soweit der Beschwerdeführer den Beschluss vom 31. Oktober 2005 angreift, wird die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer ergebenden Weise offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, soweit sie unzulässig ist.
I.
Soweit sich die am 1. Dezember 2005 eingegangene Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts vom 20. September 2005 richtet, hat der Beschwerdeführer die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG nicht gewahrt. Die zwischenzeitlich erhobene Gegenvorstellung hinderte den Fristbeginn nicht. Die Einlegung eines gesetzlich nicht vorgesehenen Rechtsmittels kann den Fristlauf des § 93 Abs. 1 BVerfGG nicht beeinflussen.
II.
Die gegen den Beschluss des Landgerichts vom 31. Oktober 2005 gerichtete Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist sie rechtzeitig eingelegt. Wegen der in seinen Gründen enthaltenen Zuweisung strafrechtlicher Schuld entfaltet dieser Beschluss auch eine selbständige Beschwer.
III.
Soweit zulässig erhoben, ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. Die in den Gründen der angegriffenen Entscheidung enthaltene Schuldfeststellung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
1. a) Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Zwar verwehrt sie es den Strafverfolgungsorganen nicht, schon vor Abschluss der Hauptverhandlung verfahrensbezogen den Grad des Verdachts einer strafbaren Handlung eines Beschuldigten zu beurteilen; Feststellungen zur Schuld des Angeklagten zu treffen und Schuld auszusprechen, ist den Strafgerichten aber erst erlaubt, wenn die Schuld des Angeklagten in dem mit rechtsstaatlichen Verteidigungsgarantien ausgestatteten, bis zum prozessordnungsgemäßen Abschluss durchgeführten Strafverfahren nachgewiesen ist (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪372≫; 82, 106 ≪114 ff.≫). Wird ein Strafverfahren eingestellt, bevor die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden ist, so fehlt es an einer prozessordnungsgemäßen Grundlage für das Schulderkenntnis.
b) Zwar lässt es die Unschuldsvermutung grundsätzlich zu, in einer Entscheidung nach § 467 Abs. 4 StPO einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten (vgl. BVerfGE 82, 106 ≪119≫). Dann muss aber aus der Begründung deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung handelt, sondern nur um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage. Dieser Unterschied muss auch in der Formulierung der Gründe hinreichend Ausdruck finden. Unabhängig davon ist angesichts des verfassungsrechtlichen Rangs der Unschuldsvermutung darauf Bedacht zu nehmen, nur solche Formulierungen zu verwenden, die von vornherein jeden Anschein einer unzulässigen Schuldzuweisung vermeiden (vgl. BVerfGE 82, 106 ≪117≫).
c) Für die Feststellung des verbleibenden Tatverdachts gelten dieselben Grundsätze wie für die in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommene Schuldfeststellung: In beiden Fällen dürfen keine Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen. Daneben dürfen die Feststellungen nicht mit Mängeln in der Rechtsanwendung oder im eingeschlagenen Verfahren behaftet sein, die die Annahme der tatbestandlichen Voraussetzungen unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen lassen, so dass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 1991 – 2 BvR 281/91 –, NStZ 1992, S. 238).
2. Hieran gemessen verletzt der im Verfahren über die Gegenvorstellung ergangene Beschluss des Landgerichts die Unschuldsvermutung.
a) Zwar wäre das Landgericht von Verfassungs wegen nicht gehindert gewesen, eine auf § 467 Abs. 4 StPO gestützte Entscheidung mit dem Vorliegen eines – auch nach der Aufhebung des Berufungsurteils nicht ausgeschlossenen – erheblichen Tatverdachts gegen den Beschwerdeführer zu begründen und im Rahmen der Bewertung der Verdachtslage die Urteile der Instanzgerichte im Lichte der vom Oberlandesgericht angegebenen Aufhebungsgründe heranzuziehen. Die Ausführungen in dem Beschluss vom 31. Oktober 2005 stellen aber keine Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage dar. Schon wegen der mehrfach verwendeten Bezeichnungen “Feststellung der Schuld” sowie “inhaltlich zutreffende Schuldfeststellung” handelt es sich bei objektiver Betrachtung um eine unzulässige Feststellung strafrechtlicher Schuld; dies gilt umso mehr, als auch in dem Beschluss vom 20. September 2005 von einem “Schuldnachweis” die Rede ist. Hätte das Landgericht lediglich eine Verdachtsschwere bezeichnen wollen, hätte es dieser Formulierungen nicht bedurft, vielmehr wäre eine nähere Darlegung des bisherigen Beweisergebnisses erforderlich gewesen. Dabei hätte auch eine Auseinandersetzung mit dem sich aus den Akten ergebenden Ablauf der vom Revisionsgericht beanstandeten Wahllichtbildvorlage nahe gelegen. Außerdem hätten sich die Formulierungen in dem angegriffenen Beschluss schon wegen ihrer auf der Hand liegenden Missverständlichkeit verboten.
b) Zu einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers ist es nicht gekommen. Es liegt auch keine bis zur Schuldspruchreife durchgeführte Hauptverhandlung vor. Vielmehr war dem Landgericht eine Feststellung strafrechtlicher Schuld nach der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache auch unter diesem Gesichtspunkt nicht gestattet. Die Ausführungen im Beschluss geben Grund zu der Annahme, dass das Landgericht Umfang und Folgen der aufhebenden Entscheidung des Revisionsgerichts verkannt hat.
aa) Der Beschwerdeführer weist zu Recht darauf hin, dass das Oberlandesgericht ausdrücklich einen durchgreifenden Fehler bei der Beweiswürdigung festgestellt hatte. Der Beschwerdeführer hatte die Tat bestritten. Seine Verurteilung stützte sich auf die Aussage der beiden minderjährigen Tatopfer, die ihn im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage bzw. Videosequenzgegenüberstellung identifiziert haben wollen. Aus Sicht des Revisionsgerichts war von entscheidender Bedeutung, ob die Lichtbildvorlagen prozessordnungsgemäß durchgeführt und Beeinflussungen der Zeugen nicht zu besorgen waren. Mangels Mitteilung der hierfür maßgeblichen Tatsachen in den Urteilsgründen war dem Revisionsgericht schon die Prüfung dieser Voraussetzung verwehrt. Eine Aussage zur Schwere des Tatverdachts, geschweige denn zur Richtigkeit des angegriffenen Schuldspruchs konnte das Oberlandesgericht mithin gar nicht treffen. Es ist daher verfehlt, wenn das Landgericht den Grund der Urteilsaufhebung auf einen bloßen “Darstellungsmangel” reduziert, um das wegen durchgreifender Mängel aufgehobene Urteil kurzerhand in eine “inhaltlich zutreffende Schuldfeststellung” umzudeuten.
bb) Ebenso wenig tragfähig ist es, wenn das Landgericht diese Unterstellung sodann mit einer Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts in einem DNA-Verfahren zu begründen sucht. Dass das Oberlandesgericht das Vorliegen des insoweit erforderlichen hinreichenden Tatverdachts bejaht haben mag, lässt nicht den Schluss zu, es habe die aufgehobene Berufungsentscheidung als “inhaltlich zutreffende Schuldfeststellung” gebilligt.
3. Der Beschluss des Landgerichts vom 31. Oktober 2005 verstößt gegen die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Der Beschluss ist wegen der dargelegten Mängel insgesamt aufzuheben. Die Sache ist an eine andere Kammer des Landgerichts Bonn zurückzuverweisen, welche über die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers vom 19. Oktober 2005 neu zu entscheiden haben wird.
4. Da die Verfassungsbeschwerde in der Sache Erfolg hat, hat das Land Nordrhein-Westfalen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers zu tragen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Di Fabio, Landau
Fundstellen