Entscheidungsstichwort (Thema)
Besteuerung von privaten Spekulationsgeschäften bei Wertpapieren in den Vz 1997 und 1998 verfassungswidrig
Leitsatz (amtlich)
1. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verlangt für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Wird die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt, kann dies die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nach sich ziehen (Anschluss an BVerfGE 84, 239).
2. Verfassungsrechtlich verboten ist der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung angelegten Erhebungsregel. Zur Gleichheitswidrigkeit führt nicht ohne weiteres die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, wohl aber das normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts.
Normenkette
BVerfGG §§ 35, 80 Abs. 1, 2 S. 1; EStG 1997 § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 100 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
§ 23 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b des Einkommensteuergesetzes in der für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 geltenden Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16. April 1997 (Bundesgesetzblatt I Seite 821) ist mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, soweit er Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft.
Tatbestand
A.
Die Vorlage betrifft die Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung von privaten Spekulationsgeschäften bei Wertpapieren im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b Einkommensteuergesetz in der Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16. April 1997 (BGBl I S. 821). Die zur Prüfung gestellte Steuernorm galt im Streitjahr des Ausgangsverfahrens (1997) und in dessen Folgejahr.
I.
1. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 7 Einkommensteuergesetz (EStG) unterliegen der Einkommensteuer auch sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG. § 22 Nr. 2 EStG zählt Geschäfte im Sinne des § 23 EStG – in dieser Vorschrift bis einschließlich Veranlagungszeitraum 1998 als „Spekulationsgeschäfte”, danach als „private Veräußerungsgeschäfte” bezeichnet – zu den sonstigen Einkünften. § 23 EStG hat in seiner für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 maßgeblichen Fassung auszugsweise den folgenden Wortlaut:
§ 23
Spekulationsgeschäfte
(1) Spekulationsgeschäfte (§ 22 Nr. 2) sind
Veräußerungsgeschäfte, bei denen der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung beträgt:
- bei Grundstücken und Rechten, die den Vorschriften des bürgerlichen Rechts über Grundstücke unterliegen (z.B. Erbbaurecht, Mineralgewinnungsrecht), nicht mehr als zwei Jahre,
- bei anderen Wirtschaftsgütern, insbesondere bei Wertpapieren, nicht mehr als sechs Monate;
- (…)
(…)
(2) Spekulationsgeschäfte liegen nicht vor, wenn Wirtschaftsgüter veräußert werden, deren Wert bei Einkünften im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 6 anzusetzen ist. § 17 ist nicht anzuwenden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b vorliegen. Bei der Veräußerung von Anteilscheinen an Geldmarkt-, Wertpapier-, Beteiligungs- und Grundstücks-Sonderver-mögen sowie von ausländischen Investmentanteilen gilt Satz 1 nur, soweit im Veräußerungspreis ein Zwischengewinn enthalten ist.
(3) Gewinn oder Verlust aus Spekulationsgeschäften ist der Unterschied zwischen dem Veräußerungspreis einerseits und den Anschaffungs- oder Herstellungskosten und den Werbungskosten andererseits. (…) Gewinne aus Spekulationsgeschäften bleiben steuerfrei, wenn der aus Spekulationsgeschäften erzielte Gesamtgewinn im Kalenderjahr weniger als 1000 Deutsche Mark betragen hat. Verluste aus Spekulationsgeschäften dürfen nur bis zur Höhe des Spekulationsgewinns, den der Steuerpflichtige im gleichen Kalenderjahr erzielt hat, ausgeglichen werden; sie dürfen nicht nach § 10d abgezogen werden.
Durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I S. 402) hat § 23 EStG unter anderem folgende terminologische und inhaltliche Änderungen für Veranlagungszeiträume ab 1999 erfahren: Um zum Ausdruck zu bringen, dass nicht nur Geschäfte mit Spekulationsabsicht der Besteuerung unterliegen (vgl. BTDrucks 14/443, S. 28), wird wie in § 22 Nr. 2 EStG auch in § 23 EStG auf den Begriff „Spekulationsgeschäft” verzichtet. Für die anstatt durch § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG nunmehr von § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG erfassten privaten Veräußerungsgeschäfte insbesondere bei Wertpapieren hat sich die Haltefrist von sechs Monaten auf ein Jahr erhöht. Durften zuvor Verluste aus Spekulationsgeschäften nur bis zur Höhe des im gleichen Kalenderjahr erzielten Spekulationsgewinns ausgeglichen werden, mindern seitdem die Verluste auch nach § 10d EStG die Einkünfte, die der Steuerpflichtige in dem unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraum oder in den folgenden Veranlagungszeiträumen aus privaten Veräußerungsgeschäften erzielt hat oder erzielt (§ 23 Abs. 3 Satz 9 EStG).
2. Die historische Grundlage für die derzeitige Form der einkommensteuerlichen Erfassung von privaten Veräußerungsgewinnen findet sich im Einkommensteuergesetz vom 10. August 1925 (RGBl I S. 189): § 6 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1925 unterwarf mit den „sonstigen Leistungsgewinnen, nach Maßgabe der §§ 41, 42” auch Einkünfte aus Veräußerungsgeschäften (§ 41 Abs. 1 Nr. 1 EStG 1925) der Besteuerung, wenn sie als Spekulationsgeschäfte anzusehen waren (§ 42 Abs. 1 Satz 1 EStG 1925). Obwohl Veräußerungsgeschäfte erfasst werden sollten, welche die Veräußerung eines bereits mit der Absicht gewinnbringender Wiederveräußerung erworbenen Objekts zum Gegenstand hatten, wurde der Steuertatbestand bereits damals durch Fristen objektiviert (§ 42 Abs. 1 Nr. 1 EStG 1925; vgl. dazu auch die Begründung zum Entwurf eines Einkommensteuergesetzes in: Verhandlungen des Reichstags, III. Wahlperiode 1924, Band 400, Anlage zu den Stenographischen Berichten Nr. 795 ≪zugleich Reichstag III. 1924/25, Drucks. Nr. 795 vom 27. April 1925≫, S. 19 ≪25 und 60≫). Auch in den bis einschließlich Veranlagungszeitraum 1998 geltenden Fassungen der § 22 Nr. 2, § 23 EStG wurde die Bezeichnung „Spekulationsgeschäfte” beibehalten. Der Begriff kann deshalb als eine in der Tradition des § 42 EStG 1925 überkommene technische Bezeichnung angesehen werden, der eine eigene Bedeutung für die Auslegung des § 23 Abs. 1 EStG nicht zugekommen ist (vgl. auch BVerfGE 26, 302 ≪308≫).
3. Die § 22 Nr. 2, § 23 EStG bewirken eine Ausnahme von dem bislang geltenden Grundsatz des deutschen Einkommensteuerrechts, dass Wirtschaftsgüter des Privatvermögens auch im Falle von Wertsteigerungen ohne steuerliche Belastung veräußert werden dürfen, selbst wenn sie nicht allein der privaten Lebensführung dienen, sondern zur Erzielung von Einkünften eingesetzt werden. Dem Einkommensteuergesetz 1925 lag die Vorstellung zu Grunde, soweit es sich um Erträge handele, die ohne Arbeit oder nur auf Grund einer begrenzten Verwaltungstätigkeit aus Vermögen bezogen würden, komme es nicht auf die Veränderung der Vermögensgegenstände an, sondern lediglich auf die von ihnen abgeworfenen Erträge (vgl. Begründung zum Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, a.a.O., S. 41). Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten nicht alle „außerhalb einer Erwerbs- oder Berufstätigkeit” anfallenden Veräußerungsgewinne besteuert werden (vgl. Begründung zum Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, a.a.O., S. 60).
Der Bundesfinanzhof hat Sinn und Zweck des § 23 EStG damit beschrieben, dass (nur) Wertmehrungen aus verhältnismäßig kurzfristigen Wertdurchgängen eines Wirtschaftsguts im Privatvermögen des Steuerpflichtigen der Einkommensteuer unterworfen werden sollten (vgl. Urteile vom 30. November 1976 – VIII R 202/72 –, BFHE 120, 522, BStBl II 1977, 384, unter II b, und vom 29. März 1989 – X R 4/84 –, BFHE 156, 465, BStBl II 1989, 652, unter a). Die Begründung des Steuertatbestands lässt sich aber auch an Hand der Grenzen der privaten Vermögensverwaltung verdeutlichen, wie sie der Bundesfinanzhof in seiner Rechtsprechung zum gewerblichen Grundstückshandel gezogen hat: Danach wird die Grenze von den nicht steuerbaren zu den steuerbaren privaten Veräußerungsgeschäften nach derzeitiger einfachrechtlicher Lage regelmäßig dann überschritten, wenn nach dem Gesamtbild der Betätigung und unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung die Ausnutzung substantieller Vermögenswerte durch Umschichtung gegenüber der Nutzung von Grundbesitz im Sinne der Fruchtziehung aus zu erhaltenden Substanzwerten entscheidend in den Vordergrund tritt (vgl. BFH Großer Senat, Beschluss vom 10. Dezember 2001 – GrS 1/98, BFHE 197, 240, BStBl II 2002, 291, unter C III 1).
4. Soweit die § 22 Nr. 2, § 23 EStG die Besteuerung von Spekulations- oder privaten Veräußerungsgeschäften bei Wertpapieren betreffen, wurde in der Vergangenheit wiederholt Kritik am tatsächlichen Vollzug des Steuertatbestands laut. Dabei kamen Hinweise auf Vollzugsmängel insbesondere aus der Finanzverwaltung selbst sowie von Rechnungshöfen:
a) Im Jahr 1994 führte eine vom Landesfinanzministerium Nordrhein-Westfalen zur Überprüfung der Möglichkeiten zur vollständigen Ausschöpfung der Steuerquellen eingesetzte Arbeitsgruppe „Steuerausfälle” in ihrem Abschlussbericht (Der Steuerberater ≪StB≫ 1994, S. 399 und S. 446 ≪449 f.≫) aus, Spekulationsgewinne nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG würden weitgehend nicht erklärt, das Volumen sei unbekannt. Lediglich bei buchführungspflichtigen Steuerpflichtigen sehe das Gesetz eine Verpflichtung zur Aufbewahrung von Kontoauszügen bei Geschäftskonten vor (§ 147 Abs. 1 Nr. 5 Abgabenordnung 1977 ≪AO≫). Diese Unterlagen würden jedoch nur bei Außenprüfungen vorgelegt. Geldbewegungen auf privaten Konten hingegen blieben dem Finanzamt regelmäßig verborgen und seien nur nach Beschlagnahme der entsprechenden Unterlagen überprüfbar. Spekulationsgewinne könnten nur durch intensive Prüfung vorgelegter, bekannter oder aufgespürter Konten während einer Außenprüfung oder auf der Grundlage von Einzelauskunftsersuchen bei Überprüfung der eingereichten Steuererklärungen gelegentlich entdeckt werden.
Unter „Verbesserungsvorschläge” (a.a.O., S. 450) nannte der Bericht die Aufhebung des § 30a Abs. 3 AO und die Schaffung einer Rechtsgrundlage für Sonderprüfungen bei Banken mit dem Ziel der Überprüfung von Kundenkonten. Nach § 30a Abs. 3 AO dürfen bislang Guthabenkonten oder Depots, bei deren Errichtung eine Legitimationsprüfung nach § 154 Abs. 2 AO vorgenommen worden ist, das Kreditinstitut sich also Gewissheit über die Person und die Anschrift des Verfügungsberechtigten verschafft hat, anlässlich der Außenprüfung bei einem Kreditinstitut nicht zwecks Nachprüfung der ordnungsgemäßen Versteuerung festgestellt oder abgeschrieben werden; die Ausschreibung von Kontrollmitteilungen soll insoweit unterbleiben (zur Vorgeschichte des durch das Steuerreformgesetz 1990 vom 25. Juli 1988 ≪BGBl I S. 1093≫ in die Abgabenordnung 1977 eingefügten § 30a AO, insbesondere zu dem der Vorschrift vorangegangenen Bankenerlass ≪BStBl I 1979, 590≫ BVerfGE 84, 239 ≪245 ff.≫).
b) Auch in der öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags zum Entwurf des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (BTDrucks 14/23) am 19. Januar 1999 wurde die Besteuerungsrealität bei Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften von den Sachverständigen Ondracek, Seip und Herzig kritisch gewürdigt (vgl. im Einzelnen Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 7. Ausschuss, Protokoll Nr. 10, S. 9 und 13 f.).
c) In der Zeitschrift „Die Wirtschaftswoche” Nr. 6 vom 4. Februar 1999 (S. 104 ≪Bericht von Hüsgen≫; S. 114 ≪Interview von Hüsgen/Stepp≫) wurden zur Besteuerungswirklichkeit bei insbesondere am so genannten „Neuen Markt” erzielten Spekulationsgewinnen Beamte des höheren Dienstes der nordrhein-westfäli-schen Finanzverwaltung zitiert: Zwar würden am „Neuen Markt” in kürzester Zeit hohe Gewinne erzielt, in den Steuererklärungen finde man davon jedoch nichts wieder; Aktiengewinne innerhalb der Spekulationsfrist würden nur ganz vereinzelt angegeben. In dem Zeitschriftenbericht wurde darauf hingewiesen, dass diese Aussagen auch durch Informationen aus dem hessischen Finanzministerium bestätigt worden seien.
d) Nachdem bereits der vom Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen herausgegebene „FinanzReport” Mai 2000 (S. 3) in einem Beitrag „Deutschland im Aktienfieber” die Feststellung enthalten hatte, dass die Versteuerung der Kursgewinne bei vielen Privatanlegern unter den Tisch falle, antwortete die Landesregierung Nordrhein-Westfalen am 18. September 2000 (Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucks 13/248) auf eine Kleine Anfrage von Abgeordneten des Landtages Nordrhein-Westfalen (Drucks 13/125): Der Landesregierung seien die Mutmaßungen bekannt, die in der Öffentlichkeit über die unzureichende Besteuerung der privaten Veräußerungsgewinne aus Wertpapiergeschäften angestellt würden. Verschärft stelle sich dieses Thema auch angesichts des Aktienbooms der letzten Jahre sowie der damit einhergehenden Popularisierung des Aktienhandels bei den so genannten Kleinanlegern. Die Finanzämter seien bei der Besteuerung zunächst auf die vollständige Erklärung dieser Gewinne durch die Steuerpflichtigen angewiesen. Bei Kleinanlegern sei eine Außenprüfung nicht das geeignete Instrument, um die Versteuerung der privaten Veräußerungsgeschäfte aufzuklären; bei dieser Personengruppe handele es sich überwiegend um Privatanleger, die in der Regel keinen Betrieb unterhielten, bei dem gemäß § 193 Abs. 1 AO eine Außenprüfung ohne weitere Voraussetzungen zulässig sei.
e) Der Bundesrechnungshof hat seinen Bericht nach § 99 Bundeshaushaltsordnung vom 24. April 2002 (BTDrucks 14/8863) der Besteuerung der Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften mit Wertpapieren gewidmet, u.a. weil etwa ab dem Jahr 1994 bis zum Ende des Jahres 1999 die Kurse der meisten Aktien – teilweise erheblich – gestiegen seien und deshalb die Privatanleger in diesem Zeitraum in weit größerem Umfang als in den Vorjahren Gewinne aus den Umsätzen mit Wertpapieren erzielt hätten (vgl. BTDrucks 14/8863, S. 4 unter 1). Der Bundesrechnungshof untersuchte die Frage, ob Einkünfte aus Wertpapierverkäufen privater Anleger steuerlich vollständig erklärt und erfasst sowie zutreffend von den Finanzämtern besteuert werden. Nach den Berichtsangaben (a.a.O., S. 5 unter 1) hat der Bundesrechnungshof dazu bei vier Finanzämtern in vier Ländern rd. 400 Steuerfälle mit veranlagten Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften – überwiegend Veranlagungen der Jahre 1997 und 1998 – untersucht sowie Erkenntnisse verwertet, die der Niedersächsische Landesrechnungshof aus einer vergleichbaren Prüfung bei vier niedersächsischen Finanzämtern schwerpunktmäßig für die Veranlagungszeiträume 1997 bis 1999 gewonnen hatte. Die vom Bundesrechnungshof geprüften Fälle betrafen zu einem erheblichen Teil so genannte Einkommensmillionäre. Der Bundesrechnungshof ist zu den Feststellungen gelangt (im Einzelnen vgl. BTDrucks 14/8863, S. 6 ff.), dass
- insgesamt das Erklärungsverhalten überwiegend unbefriedigend gewesen sei,
- die Finanzämter in der Regel den Angaben der Steuerpflichtigen in deren Steuererklärungen ohne erkennbare Prüfung gefolgt seien, und zwar unabhängig vom Umfang der gemachten Angaben und von der Höhe der Einkünfte,
- Kontrollen der Finanzämter, ob die Steuerpflichtigen Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften nicht nur vollständig, sondern überhaupt erklärten, weitgehend nicht stattgefunden hätten und
- dabei die unzureichende Kontrolltätigkeit der Finanzämter weniger auf Nachlässigkeit als vielmehr auf tatsächlichen und rechtlichen Hemmnissen beruht habe: Der Finanzverwaltung stehe bei der Besteuerung von privaten Veräußerungsgeschäften bei Wertpapieren derzeit kein angemessenes Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts zur Verfügung; die Finanzverwaltung bleibe in dem untersuchten Bereich weit mehr als bei anderen Einkünften davon abhängig, dass die Steuerpflichtigen vollständige und richtige Auskünfte erteilten. Die Erhebungsmängel könne nur der Gesetzgeber abstellen.
Die Einlassungen des Bundesministeriums der Finanzen zu diesen Prüfungsfeststellungen (BTDrucks 14/8863, S. 10 f. unter 5) haben den Bundesrechnungshof nicht überzeugt (vgl. BTDrucks 14/8863, S. 11 unter 6).
f) In seinem Jahresbericht 2002 hat sich der Niedersächsische Landesrechnungshof u.a. mit der Besteuerung von privaten Wertpapiergeschäften beschäftigt (Niedersächsischer Landtag, Drucks 14/3420, S. 59 ff.). Der Landesrechnungshof ist ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften Vollzugsdefizite bestünden; diese könnten durch sorgfältigere Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen und insbesondere durch Einführung einer Abzugssteuer beseitigt werden. Die Untersuchung des Landesrechnungshofs bezieht sich überwiegend auf „Intensivprüffälle”, die nur knapp 10 v.H. der zu veranlagenden Einkommensteuerfälle ausmachten.
5. Soweit ein tatsächliches Erhebungsdefizit bei der Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften festgestellt worden ist (A I 4), liegen allerdings zuverlässige Angaben zu dessen Größenordnung nicht vor. So hat etwa der Bundesrechnungshof in seinem Bericht vom 24. April 2002 ausgeführt, es ließen sich keine Erkenntnisse über die Höhe der zu erklärenden privaten Veräußerungsgewinne bei Wertpapieren gewinnen (vgl. BTDrucks 14/8863, S. 9 unter 3.6).
II.
1. Der Kläger und Revisionskläger des Ausgangsverfahrens – ein emeritierter Universitätsprofessor – war viele Jahre Direktor des Instituts für Steuerrecht der Universität zu Köln.
In der Anlage KSO zu seiner Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 1997, das Streitjahr des Ausgangsverfahrens, erklärte der Kläger sonstige Einkünfte aus „Spekulationsgeschäften” im Sinne der § 22 Nr. 2, § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in Höhe von insgesamt 1.752 DM, die das zuständige Finanzamt in seinem Einkommensteuerbescheid für 1997 berücksichtigte. Hiergegen erhob der Kläger mit Zustimmung des Finanzamts Sprungklage zum Schleswig-Holsteinischen Finanzgericht und machte geltend, die steuerliche Erfassung seines Spekulationsgewinns sei verfassungswidrig; es bestehe insoweit ein Vollzugsdefizit, das eine Ungleichheit im Belastungserfolg bewirke.
2. Mit Urteil vom 23. September 1999 – V 7/99 – (EFG 2000, S. 178) wies das Finanzgericht die Klage als unbegründet ab, ließ jedoch die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zu: Der Senat halte die Bestimmung des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG für verfassungsgemäß. Er teile nicht die vom Kläger erhobene Rüge der mangelnden Durchsetzbarkeit der Norm. Zwar könne nicht verkannt werden, dass ein Erhebungsdefizit bei der Erfassung von Spekulationsgeschäften verbleiben könne; dies halte der Senat jedoch nicht für gravierend, denn es sei nicht in erster Linie ein strukturelles Defizit, das sich der Gesetzgeber zurechnen lassen müsse.
3. Zu dem anschließenden Revisionsverfahren hat das Bundesministerium der Finanzen nach Aufforderung des IX. Senats des Bundesfinanzhofs (Beschluss vom 19. März 2002 – IX R 62/99 –, BFHE 197, 562, BStBl II 2002, 296) seinen Beitritt erklärt. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 16. Juli 2002 hat der IX. Senat den Bericht des Bundesrechnungshofs vom 24. April 2002 in das Verfahren eingeführt.
Mit Beschluss vom 16. Juli 2002 – IX R 62/99 – (BFHE 199, 451, BStBl II 2003, 74) hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in der für den Veranlagungszeitraum 1997 maßgeblichen Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16. April 1997 (BGBl I S. 821) mit dem Grundgesetz insoweit unvereinbar sei, als die Durchsetzung des Steueranspruchs wegen struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt werde.
a) Dies sei entscheidungserheblich. Die vom Kläger erklärten Einkünfte aus Spekulationsgeschäften seien auf Grund der zur Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht gestellten materiellen Steuerrechtsnorm der Besteuerung zu unterwerfen, wenn diese nicht auf Grund eines strukturellen Erhebungsdefizits mit der Verfassung unvereinbar sei. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG 1997 könne die festzustellende Verfassungswidrigkeit nicht beseitigen. Der mögliche Wortsinn der Vorschrift – als Grenze der Auslegung – sei unmissverständlich. Ebenso könne die vom VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (Urteil vom 18. Februar 1997 – VIII R 33/95 –, BFHE 183, 45, BStBl II 1997, 499) vorgenommene verfassungskonforme Auslegung des § 30a AO nicht weiterhelfen.
b) Die Darlegungen des IX. Senats des Bundesfinanzhofs zum Prüfungsmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG knüpfen an das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89 – (BVerfGE 84, 239) an: Materielle Steuergesetze müssten in ein normatives Umfeld eingebettet sein, welches die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolges prinzipiell gewährleiste.
c) Seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 1997 hat der IX. Senat im Wesentlichen auf folgende Gesichtspunkte gegründet:
- Die Form der Steuererhebung sei unzureichend ausgestaltet, denn das der Finanzverwaltung zur Verfügung stehende Überprüfungsinstrumentarium sei bei der Verifikation von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften entweder schon nicht einschlägig oder genüge nicht verfassungsrechtlichen Anforderungen.
- Auf Grund der Erhebungssituation werde ein gleichmäßiger Belastungserfolg bei den Einkünften aus Spekulationsgeschäften im Sinne der zur Überprüfung gestellten Norm prinzipiell verfehlt.
- Die Ungleichheit der steuerlichen Belastung werde auch dadurch verdeutlicht, dass die vorgelegte materielle Steuernorm durch die Finanzämter tatsächlich nicht vollzogen werde.
- Die gleichheitswidrige Belastung der Steuerehrlichen müsse sich der Gesetzgeber zurechnen lassen.
Zur näheren Begründung hat sich der Bundesfinanzhof u.a. auf die Feststellungen des Bundesrechnungshofs in dessen Bericht vom 24. April 2002 gestützt, die verschiedenen Instrumentarien abgehandelt, die den Finanzbehörden nach derzeitiger verfahrensrechtlicher Lage für eine Überprüfung von steuerrechtlich relevanten Sachverhalten zur Verfügung stehen, sowie die historische Entwicklung und die verfahrensrechtlichen Auswirkungen der – nach Ansicht des IX. Senats „strukturell gegenläufigen” – Vorschrift des § 30a AO dargelegt. Die Verantwortlichkeit des Gesetzgebers für die kritisierte Ungleichheit im Belastungserfolg hat der Bundesfinanzhof u.a. damit begründet, dass der Gesetzgeber die in BVerfGE 84, 239 (278 f.) als strukturelles Vollzugshindernis bezeichneten, als § 30a in die Abgabenordnung 1977 übernommenen Regelungen des Bankenerlasses weder aufgehoben noch geändert habe.
III.
Zu der Vorlage hat für die Bundesregierung das dem Ausgangsverfahren beigetretene Bundesministerium der Finanzen Stellung genommen. Auf Anfrage des Bundesverfassungsgerichts haben Bund und Länder umfangreiche Informationen über den Stand der Ermittlung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften vorgelegt. Als sachkundige Dritte haben sich der Bundesrechnungshof, der Bundesverband Deutscher Banken e.V., der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken e.V., der Bundesverband öffentlicher Banken Deutschlands e.V., der Deutsche Sparkassen- und Giroverband e.V. und das Deutsche Aktieninstitut e.V. geäußert. Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren deren Ausführungen sowie der Vortrag des Klägers des Ausgangsverfahrens; außerdem haben Mitarbeiter der Finanzverwaltung des Landes Hessen als sachkundige Auskunftspersonen über die jüngere Praxis der Ermittlung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften im Innen- und Außendienst hessischer Finanzämter berichtet.
1. Das Bundesministerium der Finanzen hält die Auffassung des IX. Senats des Bundesfinanzhofs, die fehlende Kontrollmöglichkeit bei der Besteuerung von Spekulationsgewinnen begründe ein strukturelles Erhebungsdefizit, für faktisch und normativ nicht zutreffend.
a) Bereits in tatsächlicher Hinsicht könnten die vom Bundesfinanzhof unter Berufung auf den Bericht des Bundesrechnungshofs vom 24. April 2002 zu Grunde gelegten Annahmen nicht geteilt werden: Zwar seien die im Bericht des Bundesrechnungshofs aufgeführten Bearbeitungsmängel bei der den Landesfinanzbehörden obliegenden Steuerfestsetzung nicht vertretbar, sie ließen jedoch nicht den Schluss auf ein strukturelles Erhebungsdefizit zu. Immerhin habe sich die Zahl der von der Finanzverwaltung ermittelten und tatsächlich erfassten Fälle von Einkünften aus Spekulationsgeschäften – Grundstücksgeschäfte eingeschlossen – von 1995 (15.973 Fälle mit Einkünften i.H.v. 223,3 Mio. EUR) bis 1998 (73.538 Fälle mit Einkünften i.H.v. 731,8 Mio. EUR) mehr als vervierfacht. Auch dürfte ein nicht unerheblicher Teil der Steuerpflichtigen den Ablauf der gesetzlichen Spekulationsfristen abgewartet haben; der überwiegende Teil der Wertpapierveräußerungsfälle entfalle ohnehin auf den nicht privaten Bereich.
b) Die Annahmen des Bundesfinanzhofs seien auch in rechtlicher Hinsicht nicht haltbar. Bei Anwendung der in BVerfGE 84, 239 aufgestellten Grundsätze sei die vom vorlegenden Gericht behauptete Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG 1997 nicht erkennbar: Der IX. Senat des Bundesfinanzhofs berücksichtige nicht ausreichend, dass Belastungsungleichheit dann noch kein verfassungsrechtlich erhebliches strukturelles Defizit begründe, wenn sie durch Vollzugsmängel bei der Steuererhebung hervorgerufen werde, wie sie immer wieder vorkommen könnten und sich auch tatsächlich ereigneten. Der IX. Senat lasse die neuere Entwicklung in der Rechtsprechung des VII. und VIII. Senats des Bundesfinanzhofs sowie die grundlegend geänderte Überprüfungspraxis der Finanzverwaltung nach dem Zinsurteil des Bundesverfassungsgerichts außer Betracht.
Die Finanzverwaltung sei mit Unterstützung des VII. und VIII. Senats des Bundesfinanzhofs sowie infolge des Beschlusses der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 1994 – 2 BvR 396/94 – (BB 1994, S. 850, HFR 1995, S. 36) immer mutiger vorgegangen. § 30a AO sei nicht mehr – wie zur Zeit des Zinsurteils von 1991 – als ein Vollzugshindernis zu interpretieren. Soweit Kontrollmaterial im Rahmen einer Außenprüfung bei Kreditinstituten nach § 30a Abs. 3 Satz 1 AO, der sich im Übrigen auf legitimationsgeprüfte Konten beschränke, nicht „ins Blaue hinein” gefertigt werden dürfe, würden derartige Ermittlungen im Zinsurteil nicht verlangt. Zudem lege der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (Beschluss vom 18. Februar 1997 – VIII R 33/95 –, a.a.O.) § 30a AO verfassungskonform dahin aus, dass Abs. 3 der Vorschrift nicht die Fertigung und Auswertung von Kontrollmitteilungen anlässlich einer Außenprüfung bei Kreditinstituten hindere, wenn hierfür ein hinreichend begründeter Anlass bestehe. Nach der Rechtsprechung des VII. Senats (Beschluss vom 21. März 2002 – VII B 152/01 –, BFHE 198, 42, BStBl II 2002, 495) scheide bei einem hinreichenden Anlass für Ermittlungsmaßnahmen der Steuerfahndung bei Kreditinstituten die Annahme einer unzulässigen Rasterfahndung selbst dann aus, wenn gegen eine große Zahl von Personen ermittelt werde. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die zuständigen Finanzbehörden der Länder – abgesehen von nicht auszuschließenden Bearbeitungsmängeln im Einzelfall – nicht nach diesen Entscheidungen des VII. und VIII. Senats des Bundesfinanzhofs verfahren würden.
2. Die überwiegende Zahl der Länder hat – zumeist von ihren Finanzministerien oder Oberfinanzdirektionen verfasste – Stellungnahmen übermittelt und dabei verwaltungsinterne Unterlagen vorgelegt, die im Wesentlichen aus den Jahren 2000 ff. stammen und tatsächliche, geplante oder angeregte Aktivitäten der Finanzverwaltung zur Verifikation von Spekulationsgewinnen in den Jahren 2001 ff. betreffen. Die Länder haben dabei überwiegend eingeräumt, dass die Veranlagungsstellen – obwohl insoweit auch von verstärkter „Prüffeldarbeit” und von Schulungen der Mitarbeiter berichtet worden ist – nur über unzureichende Möglichkeiten zur Ermittlung von Gewinnen aus privaten Veräußerungsgeschäften bei Wertpapieren verfügten. In Bezug auf – zum Teil als „zeitintensiv” gekennzeichnete – Bankenprüfungen haben die Länder zumeist unter Hinweis auf § 30a AO mitgeteilt, die Feststellung von Besteuerungsgrundlagen Dritter anlässlich der Prüfung von Kreditinstituten gestalte sich schwierig. Hinsichtlich der (nicht in allen Ländern erteilten) Weisung, Kontrollmitteilungen zur Erfassung von Spekulationsgeschäften mit Wertpapieren zu fertigen, habe es in der Praxis erhebliche Umsetzungsprobleme tatsächlicher und rechtlicher Art gegeben; Banken verweigerten jegliche Unterstützung der Betriebsprüfung und leisteten Widerstand, wenn Betriebsprüfer die Vorlage legitimationsgeprüfter Konten zur Erstellung von Kontrollmitteilungen verlangten. Das Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat auch von Schwierigkeiten berichtet, die Steuerfahndung für die Verifikation von Spekulationsgewinnen einzusetzen: Regelmäßig sei weder ein strafrechtlicher Anfangsverdacht zu begründen noch ein hinreichender Anlass für Ermittlungen bei einem konkreten Bankinstitut. Erkenntnisse darüber, was Steuerfahndungsmaßnahmen bislang zur Verifikation von Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften bei Wertpapieren insbesondere in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 beigetragen haben, liegen nicht vor. Überhaupt sind Daten, auf Grund derer sich die Effizienz der vorgetragenen Verifikationsmaßnahmen in ihrer Summe quantifizieren ließe, nicht übermittelt worden.
3. Die sachkundigen Dritten haben sich im Wesentlichen wie folgt geäußert:
a) Der Bundesrechnungshof hat nochmals die Aussagen und Feststellungen seines Berichts vom 24. April 2002 zusammengefasst und den Gesamteindruck geäußert, die unzureichende Kontrolltätigkeit der Finanzämter beruhe weniger auf Nachlässigkeit als vielmehr auf tatsächlichen und rechtlichen Hemmnissen. Eine Schätzung des Umfangs der nicht oder nicht vollständig erklärten Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften bei Wertpapieren und der dadurch eingetretenen Steuerausfälle sei allerdings nicht möglich; Bund und Länder verfügten über kein Instrumentarium, um die Höhe der zu erklärenden privaten Veräußerungsgeschäfte auch nur näherungsweise zu bestimmen.
b) Die Kreditwirtschaftsverbände haben angegeben, dass ihnen keine empirischen Daten vorlägen, aus denen sich die Größenordnung und die zeitliche Zuordnung von Veräußerungserfolgen aus Wertpapiergeschäften von Privatpersonen unmittelbar oder mittelbar ergäben. Auch zum Anlageverhalten von Privatpersonen lägen ihnen keine empirischen Untersuchungen oder öffentlich zugängliche Statistiken vor. Die Annahme des Bundesrechnungshofs, dass auch Privatanleger im Zusammenhang mit dem Geschehen am „Neuen Markt” durch kurzfristige Geschäfte erhebliche Wertsteigerungen realisiert hätten, dürfte – obwohl teilweise auch erhebliche Verluste bei Privatanlegern eingetreten seien – in ihrer Allgemeinheit tendenziell zutreffen. Ob die Feststellungen des Bundesrechnungshofs für die Annahme eines strukturellen Erhebungsdefizits ausreichten, sei schon im Hinblick auf die den Banken gegenüber den Finanzbehörden auferlegten Melde-, Auskunfts- und Mitteilungspflichten zweifelhaft; § 30a AO stehe den vorhandenen Kontrollmöglichkeiten nicht entgegen.
c) Auch das Deutsche Aktieninstitut e.V. hat eingeräumt, es gebe keine verlässliche Quelle und Methode, um die Höhe privater Spekulationsgewinne und das daraus resultierende Steueraufkommen zuverlässig zu bestimmen. Die auch vom Bundesrechnungshof zitierten Angaben der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, die Steuerausfälle bei der Besteuerung von privaten Veräußerungsgeschäften bei Wertpapieren beliefen sich auf jährlich 1,5 Mrd. EUR (vgl. BTDrucks 14/8863, S. 9 unter 3.6; Finanzministerium Nordrhein-Westfalen, FinanzReport Mai 2000, S. 3), hat das Deutsche Aktieninstitut e.V. allerdings kritisch gewürdigt und ausgeführt, zu einem solchen Wert komme man nur unter der sehr realitätsfernen Annahme, dass die privaten Haushalte in den Jahren 1992 bis 2002 die gesamte jährliche Wertveränderung ihrer Aktienbestände innerhalb der Spekulationsfrist realisiert hätten. Treffe man die großzügige Annahme, dass 50 v.H. der buchmäßigen Veränderungen am Aktienmarkt von den Anlegern realisiert worden seien und davon wiederum 20 v.H. innerhalb der Spekulationsfrist, hätte das rechnerische Steueraufkommen bei 140 bis 150 Mio. EUR pro Jahr gelegen; dies liege daran, dass den erheblichen Kurssteigerungen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in den Jahren 2000 bis 2002 insbesondere am „Neuen Markt” nahezu gleich hohe Verluste gegenübergestanden hätten, die seit 1999 hätten steuerlich verrechnet werden können.
d) Mitarbeiter der hessischen Finanzverwaltung haben in der mündlichen Verhandlung über Erfahrungen aus dem Innendienst des Finanzamts Frankfurt am Main I und aus der Außenprüfung des Finanzamts Darmstadt berichtet. Deren Angaben sind durch einen vom Bundesministerium der Finanzen vorgelegten Bericht des Finanzamts Frankfurt am Main I vom 30. Juli 2002 über die dort bei der Ermittlung von Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften insbesondere bei Wertpapieren gewonnenen Erkenntnisse ergänzt worden.
aa) In der ersten Jahreshälfte 2002 seien vom Finanzamt Frankfurt am Main I etwa 60 Steuerfälle geprüft worden, bei denen die geltend gemachten Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen auf eine Vermögensverwaltung hindeuteten. Habe ein Vermögensverwaltervertrag vorgelegen, seien auch Unterlagen über die privaten Veräußerungsgeschäfte vorhanden gewesen; diese würden dem Finanzamt nur nicht vorgelegt. Der Bericht des Finanzamts Frankfurt am Main I habe überwiegend die Veranlagungszeiträume 1999 und 2000 betroffen. Ab dem Jahr 2000 seien Verluste erzielt worden, was die Erklärungsbereitschaft gesteigert habe; das Finanzamt habe dann auch Anfragen für die Vorjahre gestellt. Beim Finanzamt Frankfurt am Main I hätten die Prüfungen in 26 Fällen zu zusätzlichen Einkünften im Sinne des § 23 EStG i.H.v. etwa 1,02 Mio. DM geführt. Das Pilotprojekt beim Finanzamt Frankfurt am Main I sei schließlich auf ganz Hessen ausgedehnt worden; von den aufgegriffenen 515 Fällen hätten 73 zu 5 Mio. DM Mehreinnahmen geführt, es seien aber auch 1,1 Mio. DM Verluste erklärt worden.
bb) Die Außenprüfung des Finanzamts Darmstadt habe in den Jahren 2000 bis 2002 die Umsatzsteuer bei Banken geprüft, wobei der Prüfungszeitraum die Jahre 1995 ff. (mit Schwerpunkt in 1998) umfasst habe. Dabei seien erhebliche Umsätze mit Wertpapieren innerhalb kurzer Zeit festgestellt worden, wobei jedoch weder die Namen der entsprechenden Anleger noch deren Anschriften ersichtlich gewesen seien. Bei zwei Banken hätten 40 bis 60 Kontrollmitteilungen gefertigt werden sollen; die Banken hätten jedoch eine Adressangabe ihrer Kunden verweigert.
Entscheidungsgründe
B.
I.
Die Vorlage ist zulässig.
1. Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Der IX. Senat des Bundesfinanzhofs hat nachvollziehbar und deshalb für das Bundesverfassungsgericht bindend dargelegt, dass er bei Gültigkeit oder Ungültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen kommen müsse.
2. Auch seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm hat der Bundesfinanzhof dargelegt. Er hat seine Auffassung, dass im Veranlagungszeitraum 1997 die Durchsetzung dieser Norm wegen struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt werde, durch Anknüpfung an die Feststellungen des Bundesrechnungshofs und die fundierte Analyse des der Finanzverwaltung zur Verfügung stehenden Überprüfungsinstrumentariums ausreichend deutlich begründet und auch seine Schlussfolgerung, der Gesetzgeber müsse sich die angenommene gleichheitswidrige Belastung des Steuerehrlichen zurechnen lassen, hinreichend verdeutlicht.
II.
Das vorlegende Gericht hat § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in der für den Veranlagungszeitraum 1997 maßgeblichen Fassung des Einkommensteuergesetzes insoweit zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellt, als die Durchsetzung des Steueranspruchs wegen struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt wird. Die Begründung der Vorlagefrage zeigt jedoch, dass das Gericht seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit nur auf die Veräußerung von Wertpapieren bezieht, nicht auch auf die Veräußerung anderer Wirtschaftsgüter, die ebenfalls in den Anwendungsbereich der Norm fallen. Die Vorlage ist dementsprechend einzuschränken (vgl. BVerfGE 99, 280 ≪289≫ m.w.N.).
C.
§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in der für die Veranlagungszeiträume 1997 und (letztmals) 1998 geltenden Fassung ist mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig, soweit er Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft. Zwar ist die gesetzlich begründete materielle Steuerpflicht verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die dem Gesetzgeber zuzurechnende mangelhafte Durchsetzung dieser materiellen Pflicht verstößt jedoch gegen das verfassungsrechtliche Gebot tatsächlich gleicher Steuerbelastung durch gleichen Gesetzesvollzug mit der Folge, dass die materielle Steuernorm selbst verfassungswidrig wird.
I.
Abgesehen von der Frage ihres gleichheitsgerechten Vollzugs begegnet die zur Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht gestellte materielle Steuernorm selbst keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat bereits in seinem Beschluss vom 9. Juli 1969 – 2 BvL 20/65 – (BVerfGE 26, 302 ≪312≫) einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG verneint, soweit Gewinne aus Veräußerungsgeschäften im Sinne des § 23 Abs. 1 EStG den sonstigen Einkünften nach § 22 EStG zuzurechnen und zu besteuern sind. Dabei hat das Gericht betont, dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht gehindert wäre, Gewinne aus jeder Veräußerung von Gegenständen des Privatvermögens zu besteuern.
An diesen Aussagen ist auch unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht für das Einkommensteuerrecht zwischenzeitlich weiter präzisierten und fortentwickelten gleichheitsrechtlichen Maßstäbe (vgl. z.B. BVerfGE 99, 280 ≪289 f.≫; 105, 73 ≪110 f.≫; 107, 27 ≪45 ff.≫, jeweils m.w.N.) festzuhalten.
II.
1. Wie der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil zur Zinsbesteuerung vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89 – (BVerfGE 84, 239 ≪268 ff.≫; vgl. auch BVerfGE 96, 1 ≪6 ff.≫) dargelegt hat, verlangt der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Wird die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt, kann dies die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nach sich ziehen.
Nach dem Gebot tatsächlich gleicher Steuerbelastung durch gleichen Gesetzesvollzug begründet die in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers fallende strukturell gegenläufige Erhebungsregel im Zusammenwirken mit der zu vollziehenden materiellen Steuernorm deren Verfassungswidrigkeit. Strukturell gegenläufig wirken sich Erhebungsregelungen gegenüber einem Besteuerungstatbestand aus, wenn sie dazu führen, dass der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann. Die Frage, ob der Gesetzgeber von ihm erstrebte Ziele – im Steuerrecht die Erzielung von Einnahmen, ggf. auch Lenkung – faktisch erreicht, ist rechtsstaatlich allein noch nicht entscheidend. Vollzugsmängel, wie sie immer wieder vorkommen können und sich tatsächlich ereignen, führen allein noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm (BVerfGE 84, 239 ≪272≫). Verfassungsrechtlich verboten ist jedoch der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung dieses Befehls angelegten Erhebungsregel. Zur Gleichheitswidrigkeit führt nicht ohne weiteres die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, wohl aber das normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts (vgl. Bryde, Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem, 1993, S. 20 f.; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, Die Verantwortung des Gesetzgebers für einen gleichmäßigen Vollzug des Einkommensteuerrechts, 1999, S. 527 ff.).
Daraus folgt eine nicht durch gesamtwirtschaftliche Erwägungen relativierbare Pflicht des Gesetzgebers, zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit des materiellen Steuergesetzes dieses in ein normatives Umfeld einzubetten, das die tatsächliche Lastengleichheit der Steuerpflichtigen gewährleistet – mit dem Instrument des Quellenabzugs oder im Veranlagungsverfahren mit der Ergänzung des Deklarationsprinzips durch das Verifikationsprinzip (BVerfGE 84, 239 ≪271, 273 f.≫). Dabei bildet die gesetzliche Ausgestaltung des Steuergeheimnisses gemäß § 30 AO grundsätzlich das verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Gegenstück zu weiter gehenden Offenbarungspflichten im Besteuerungsverfahren (im Einzelnen BVerfGE 84, 239 ≪279 ff.≫). Für den Fall, dass ein gleichheitsgerechter Vollzug einer materiellen Steuernorm nicht ohne übermäßige, insbesondere unzumutbare Mitwirkungsbeiträge der Steuerpflichtigen zur Sachverhaltsaufklärung möglich wäre, müsste der Gesetzgeber zur Vermeidung einer durch entsprechende Ermittlungsbeschränkungen bedingten prinzipiellen Belastungsungleichheit auf die Erhebungsart der Quellensteuer ausweichen (vgl. BVerfGE 84, 239 ≪281≫).
2. Diesem Prüfungsmaßstab entsprechen die folgenden Gesichtspunkte, die bei der Feststellung eines strukturellen Vollzugshindernisses zu berücksichtigen sind:
a) Für die Prüfung, ob normative Defizite einen gleichmäßigen Belastungserfolg verhindern, ist maßgeblich auf den Regelfall des Besteuerungsverfahrens abzustellen (vgl. auch BVerfGE 84, 239 ≪275≫).
Unabhängig von der Möglichkeit, Deklarationsmängel, nicht erfasste steuerbare Einkünfte oder auch hinterzogene Steuern dem Umfang nach zu quantifizieren, hängt die Feststellung eines strukturellen Vollzugsdefizits im verfassungsrechtlichen Sinn ganz wesentlich davon ab, wieweit beim Vollzug einer bestimmten materiellen Steuernorm die Erhebungsform oder – ohne eine Besteuerung bereits an der Quelle – die Besteuerungspraxis im Rahmen gewöhnlicher Verwaltungsabläufe im Massenverfahren der Finanzämter im Großen und Ganzen auf Gleichheit im Belastungserfolg angelegt ist und wieweit insbesondere auch unzulängliche Erklärungen der Steuerpflichtigen mit einem angemessenen Entdeckungsrisiko verbunden sind. Dabei ist zu berücksichtigen, ob besondere Verifikationsinstrumente wie etwa die Außenprüfung hinsichtlich der betreffenden Einkünfte regelmäßig zur Anwendung kommen oder eher die seltene Ausnahme darstellen. Lässt sich der Regelfall auf Grund einer Analyse der verfahrensrechtlichen Strukturen des Besteuerungsverfahrens und auf Grund von empirischen Erkenntnissen über die Veranlagungspraxis ausreichend zuverlässig so beschreiben, dass bestimmte Einkünfte materiell-rechtlich zutreffend nur bei einer qualifizierten Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen erfasst werden und ein Fehlverhalten bei der Erklärung ohne ein praktisch bedeutsames Entdeckungsrisiko möglich bleibt, dann liefert bereits dies hinreichende Grundlagen für die Feststellung einer im Gesetz strukturell angelegten Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung.
b) Auf den Regelfall des Besteuerungsverfahrens abzustellen, ist auch im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz, wonach Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit des Mitwirkungsbeitrags des Steuerpflichtigen durch hinreichende „greifbare”) Anhaltspunkte begründet sein müssen (vgl. Anwendungserlass zur Abgabenordnung ≪AEAO≫ zu § 88 i.d.F. der Bekanntmachung vom 24. September 1987, BStBl I 1987, 664, insoweit unverändert auch i.d.F. der Bekanntmachung vom 15. Juli 1998, BStBl I 1998, 630), Ermittlungen „ins Blaue hinein” dagegen unzulässig sind. Unbeschadet umstrittener Einzelfragen bei dessen Konkretisierung erfüllt dieser Grundsatz zur Beschränkung der Sachverhaltsermittlung im Steuerrecht nicht nur wichtige Schutz- und Sicherungsfunktionen zu Gunsten der Steuerpflichtigen, sondern entspricht auch einer realitätsgerechten Ausgestaltung des einkommensteuerlichen Veranlagungsverfahrens, das als Massenverfahren durch sachgerechte Konzentration behördlicher Ermittlungsmaßnahmen praktikabel bleiben muss. Deshalb darf der Gesetzgeber die Verwirklichung des Steueranspruchs verfahrensrechtlich erleichtern und dabei die Grenzen der dem Staat verfügbaren personellen und finanziellen Mittel berücksichtigen (vgl. z.B. BVerfGE 96, 1 ≪7≫ m.w.N.).
Zusammen mit dem materiellen Recht steht das Verfahrensrecht im Dienst der gleichmäßigen Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen. Auch das Verfahrensrecht muss deshalb so ausgestaltet sein, dass es die gleichmäßige Umsetzung der durch eine materielle Steuernorm bestimmten Belastung in der regulären Besteuerungspraxis gewährleistet. Die Form der Steuererhebung und – in Ergänzung des Deklarationsprinzips – das behördliche Kontrollinstrumentarium haben somit der materiellen Steuernorm regelmäßig so zu entsprechen, dass deren gleichheitsgerechter Vollzug im Massenverfahren der Veranlagung möglich ist, ohne unverhältnismäßige Mitwirkungsbeiträge der Steuerpflichtigen oder übermäßigen Ermittlungsaufwand der Finanzbehörden zu fordern.
Ein strukturelles Vollzugsdefizit kann daher auch dann indiziert sein, wenn nach der Feststellung eines tatsächlichen Erhebungsdefizits an die Ermittlungstätigkeit der Finanzämter überzogene Anforderungen gestellt werden, um den Vollzug der entsprechenden Steuernorm zu erzwingen. Wenn die Finanzverwaltung wegen einer bestimmten materiellen Norm generell verschärft prüfen muss, um überhaupt einen annähernd gleichmäßigen Belastungserfolg erreichen zu können, kann dies Indiz für das Bestehen defizitärer Erhebungsstrukturen sein. Dem steht nicht entgegen, dass die Finanzverwaltung den Einsatz ihres Verifikationsinstrumentariums je nach Wahrscheinlichkeit der Erzielung bestimmter Einkünfte (bei privaten Wertpapiergeschäften z.B. bei steigenden Börsenkursen) modifizieren und Prüffelder bilden kann.
c) Für ein strukturelles Erhebungsdefizit kann auch sprechen, wenn die Besteuerung bestimmter Einkünfte im Vergleich mit anderen Einkünften Erhebungsmängel aufweist, wie sie bei den anderen Einkünften regelmäßig in solchem Ausmaß nicht vorkommen.
d) Bei der Feststellung eines strukturellen Erhebungsmangels sind auch Nachbesserungsversuche zu würdigen, welche die Finanzverwaltung nach dem Erkennen eines tatsächlichen Vollzugsdefizits ergriffen hat. Art, Ausmaß und Erfolg der Abweichung von der bisherigen Veranlagungspraxis können Hinweise dazu liefern, ob das für den Regelfall der Veranlagung zur Verfügung stehende Instrumentarium bislang nur unzureichend angewendet worden ist oder ob es sich bei den „Nachbesserungen” um Maßnahmen handelt, auf welche der normale Vollzug nicht angelegt ist und nicht angelegt sein kann.
III.
Nach diesen Maßstäben (C II) entspricht die Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 nicht den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG. Eine gleichheitsgerechte Durchsetzung des Steueranspruchs scheitert an strukturellen Erhebungsmängeln.
1. Ein gleichheitswidriges Erhebungsdefizit in den genannten Veranlagungszeiträumen kann festgestellt werden, obwohl gesicherte Kenntnisse über das tatsächliche Ausmaß steuerlich nicht erfasster Spekulationsgewinne und korrespondierender Steuerausfälle fehlen.
a) Nach den schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen der Beteiligten des Ausgangsverfahrens, der Äußerungsberechtigten und der sachkundigen Dritten sind dem Senat konkrete Feststellungen zur Höhe der nicht erklärten steuerbaren Veräußerungsgewinne aus privaten Wertpapiergeschäften und der dadurch bedingten Steuerausfälle nicht möglich; repräsentative Zahlen zur Effizienz von Verifikationsmaßnahmen der Finanzverwaltung waren nicht zu ermitteln. Eine quantitative Beschreibung der Vollzugspraxis bei der Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften stößt nicht nur auf eine ähnlich schwer zugängliche Tatsachenlage wie bei der Besteuerung privater Kapitaleinkünfte (vgl. BVerfGE 84, 239 ≪276 ff.≫). Selbst für die Bezifferung des Steuerausfalls auf Grund tatsächlicher Erhebungsdefizite im Schätzungswege fehlen zuverlässige Grundlagen. Die von Bundesrechnungshof (BTDrucks 14/8863, S. 9 unter 3.6) und Bundesfinanzhof (Vorlagebeschluss vom 16. Juli 2002 – IX R 62/99 –, a.a.O., unter B III 4 b) übereinstimmend getroffene Feststellung, es seien keine Erkenntnisse über die Höhe der zu erklärenden privaten Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren und die insoweit zu verzeichnenden Steuerausfälle zu gewinnen, ist durch die von Bund und Ländern vorgelegten Unterlagen nicht widerlegt worden. Vor allem die vom Bundesministerium der Finanzen genannten Zahlen zum Anstieg der steuerlich erfassten Spekulationsgeschäfte in den Jahren 1995 bis 1998 (vgl. oben A III 1 a) enthalten zum einen keine aussagekräftigen Informationen speziell zu den hier interessierenden Wertpapiergeschäften, da sie nicht unterscheidbar auch Grundstücksgeschäfte einbeziehen; zum anderen fehlt jede Bezugsgröße, die einen Vergleich mit den Zahlen tatsächlich ausgeführter Spekulationsgeschäfte mit Wertpapieren ermöglichen könnte.
b) Der Mangel an „greifbaren” Zahlen vermutlicher Steuerausfälle auf Grund defizitären Gesetzesvollzugs schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, tatsächlich schwer wiegende und im verfassungsrechtlichen Sinn strukturelle Vollzugsmängel festzustellen. Zum einen liefern Diagnosen der Verwaltungswirklichkeit in Verbindung mit Analysen des Verfahrensrechts tragfähige Grundlagen für die Feststellung wesentlicher tatsächlicher Erhebungsdefizite (aa); zum anderen gilt es, eklatante verfahrensrechtliche Mängel im Hinblick auf die Anforderungen an einen gleichmäßigen Gesetzesvollzug im Steuerrecht angemessen zu gewichten (bb).
aa) Erkenntnisse zur Veranlagungswirklichkeit können auch ohne Quantifizierung der verschwiegenen Einkünfte und Steuerausfälle eine tragfähige Grundlage für die Überzeugung vom Bestehen tatsächlicher Erhebungsdefizite bilden, weil und soweit der Verwaltungsvollzug wesentliche Indizien insbesondere für defizitäres Erklärungsverhalten der Steuerpflichtigen mangels tatsächlich aktivierter oder zu befürchtender behördlicher Kontrollmaßnahmen liefert (oben C II 2).
Die Analyse des Verfahrensrechts unter Berücksichtigung der Eigenart des konkreten Lebensbereichs (private Wertpapiergeschäfte) und des hier in Rede stehenden Steuertatbestands ist geeignet, das strukturelle Vollzugsdefizit zu belegen. Insoweit sind die beiden Fragen, ob ein tatsächliches Erhebungsdefizit besteht und ob dieses seine wesentliche Ursache in einem strukturellen Vollzugsdefizit hat, eng miteinander verschränkt. Die verfahrensrechtliche Analyse dient nicht nur der verfassungsrechtlichen Würdigung, ob sich Erhebungsregelungen strukturell gegenläufig auswirken, sondern kann auch Grundlage der Überzeugung vom Bestehen eines tatsächlichen Vollzugsdefizits sein: Eine im Rahmen einer verfahrensrechtlichen Analyse festgestellte „strukturelle Gegenläufigkeit” von Erhebungsregelungen begründet die Vermutung, dass auch tatsächlich ein Erhebungsdefizit hinsichtlich der materiellen Steuernorm besteht.
bb) Eine Analyse der Erhebungsregeln anhand der dargestellten Maßstäbe vermag auch deshalb eine tragfähige Grundlage der Überzeugungsbildung zu liefern, weil für die Feststellung eines strukturellen Vollzugsmangels das Gewicht normativer Defizite von entscheidender Bedeutung ist (vgl. oben C II 1). Auch ohne die Quantifizierung von Steuerausfällen lässt sich für das Einkommensteuerrecht regelmäßig mit hinreichender Sicherheit feststellen, inwieweit Erhebungsregeln auf die Durchsetzung des normativen Befehls einer bestimmten materiellen Steuernorm angelegt sind.
2. Bereits die oben (A I 4) umrissenen Untersuchungsergebnisse liefern in ihrer Summe – zumal bei dem Befund deutlich steigender Börsenkurse Mitte bis gegen Ende der 1990er Jahre – eindeutige Hinweise auf tatsächliche Vollzugsdefizite bei der Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus der Veräußerung von Wertpapieren in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998. Soweit die vom Bundesrechnungshof geprüften Fälle insbesondere „Einkommensmillionäre” betroffen haben und der Niedersächsische Landesrechnungshof überwiegend den geringen Anteil von „Intensivprüffällen” untersucht hat, spricht für eine Verallgemeinerung der Untersuchungsergebnisse vor allem auch, dass die betroffenen Steuerpflichtigen bereits einer erhöhten Aufmerksamkeit der überprüften Veranlagungsstellen unterlagen. Dieser Umstand ist geeignet, den aus den Prüffällen gewonnenen Eindruck unzureichender Verifikation für den Normalfall des Besteuerungsverfahrens noch zu verstärken.
3. Der Vollzug der zur Prüfung gestellten Norm in ihrer für das Streitjahr 1997 und letztmals für den nachfolgenden Veranlagungszeitraum 1998 geltenden Fassung ist in so hohem Maß geprägt durch ein Zusammenspiel einerseits ermittlungsbeschränkender und andererseits fehlender ermittlungsfördernder Normen (u.a. betreffend die Sammlung und Aufbewahrung von Unterlagen durch die Steuerpflichtigen, Berichtspflichten der Kreditinstitute, Kontrollmitteilungen und Sammelauskunftsersuchen), dass von einer verfassungswidrigen, nicht auf gleichen Belastungserfolg angelegten Gesetzeslage auszugehen ist, die zu gravierenden tatsächlichen Erhebungsmängeln führt.
a) Bei einer Gesamtschau der für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 maßgeblichen Erhebungsregeln ist die einkommensteuerliche Erfassung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften nach der zur Prüfung gestellten Steuernorm im Regelfall des Veranlagungsverfahrens wesentlich durch ihre Abhängigkeit von der Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen gekennzeichnet.
aa) Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Besteuerung von Spekulationsgewinnen bei Wertpapieren ist für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 die Einkommensteuererklärung. Deren amtliche Vordrucke verlangen vom Steuerpflichtigen Angaben zu „Spekulationsgeschäften” (ohne Unterscheidung nach Art des veräußerten Wirtschaftsgutes) unter „Sonstige Einkünfte” auf Seite 2 der Anlage KSO zur Einkommensteuererklärung; die entsprechenden Einkünfte sollen als Differenz der beiden Spalten „Veräußerungspreis” und „Anschaffungs-/Herstellungskosten abzüglich Absetzungen, erhöhte Absetzungen und Sonderabschreibungen; Werbungskosten (ggf. Aufstellung beifügen)” erklärt werden.
bb) Wer für die Jahre 1997 und 1998 seine Steuererklärung in der vorgeschriebenen Form abgegeben und nicht erkennbar widersprüchliche oder unwahrscheinliche Angaben zu Spekulationsgeschäften bei Wertpapieren gemacht hat, hat bei unvollständiger oder wahrheitswidriger Erklärung daraus erzielter Gewinne regelmäßig nur ein geringes Entdeckungsrisiko getragen. Dabei gibt eine Ausgestaltung von Steuererklärungsvordrucken, die nur die Angabe stark verdichteter Zahlen fordert, für sich gesehen noch keinen Anlass für die Annahme eines strukturellen Erhebungsdefizits. Sie senkt zwar den Informationsgehalt der Steuererklärung, wird aber auch Praktikabilitätsansprüchen sowohl der Steuerpflichtigen als auch der Finanzverwaltung im Massenverfahren gerecht; sie fördert zwar nicht die Überprüfungsbereitschaft der Finanzbehörde, steht aber einer Überprüfung der Angaben auch nicht entgegen, während auch ein viele Detailangaben fordernder Steuererklärungsvordruck das völlige Verschweigen von Einkünften nicht verhindern kann.
Einer gleichheitswidrigen Vollzugssituation hinsichtlich der vorgelegten Norm förderlich ist die Ausgestaltung der Erklärungsvordrucke jedoch deshalb, weil allgemeine ermittlungsbeschränkend wirkende Verfahrensgrundsätze (cc) für die Veranlagungszeiträume 1997, 1998 nicht ausreichend durch praktikable und effiziente, auf hinreichende Verifikation im regulären Veranlagungsverfahren angelegte Erhebungsregeln ergänzt werden (dd und ee).
cc) Als einen wichtigen Grundsatz des Besteuerungsverfahrens regelt § 88 AO den Untersuchungsgrundsatz: „Die Finanzbehörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden.” Selbst wenn Informationen der Mitwirkungspflichtigen von der Finanzbehörde ohne nähere Prüfung übernommen werden, bedeutet dies nicht, dass die Behörde an die Erklärung des Steuerpflichtigen gebunden wäre. Das faktische und rechtliche Gewicht, das der Mitwirkung des Steuerpflichtigen zukommt, kann vielmehr als Konsequenz einer fairen, zumutbaren und effektiven Ausgestaltung des Verfahrens der Amtsermittlung beschrieben werden, das auf den Dialog mit den Mitwirkungspflichtigen angewiesen und deshalb dialogisch strukturiert ist. Zwischen dem Ermittlungsbeitrag des Mitwirkungspflichtigen und der Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts hat stets die „ungebundene” Entscheidung über die Aufklärungsbedürftigkeit (und Aufklärbarkeit) des Sachverhalts zu stehen. Sie ist von der Finanzbehörde in Wahrnehmung ihrer Ermittlungskompetenz zu treffen. Die Maßstäbe für diese Entscheidung bestimmt jedoch nicht der Untersuchungsgrundsatz als Kompetenznorm, sondern diese folgen u.a. aus allgemeinen Maximen eines fairen und effektiven Ermittlungsverfahrens.
Insbesondere die Effizienz des Massenverfahrens der Veranlagung im Blick haben sowohl der Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) (a.a.O., oben C II 2 b), soweit er § 88 AO betrifft, als auch die am 1. Januar 1997 in Kraft getretenen so genannten GNOFÄ 1997 (Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder „Organisation der Finanzämter und Neuordnung des Besteuerungsverfahrens; hier: Arbeitsweise in den Veranlagungsstellen” vom 19. November 1996, BStBl I 1996, S. 1391): Danach sind Steuerfälle nur ausnahmsweise intensiv zu bearbeiten, und die Finanzbehörden sind grundsätzlich gehalten, den Angaben des Steuerpflichtigen in der Steuererklärung zu folgen, soweit diese schlüssig sind und nicht greifbare Umstände für deren Fehlerhaftigkeit vorliegen.
Auch für die Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 müssen diese Grundsätze regelmäßig als verfahrensbestimmend angesehen werden. Soweit die GNOFÄ 1997 die Bildung besonderer Prüffelder vorsehen und das Bundesministerium der Finanzen im Ausgangsverfahren vorgetragen hat, dass allein in Nordrhein-Westfalen Ende des Jahres 2001 55 von insgesamt 111 Festsetzungs-Finanzämtern die Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften (mit unterschiedlichen Schwerpunkten) zum Prüffeld im Sinne der GNOFÄ erklärt hätten, sind konkrete Auswirkungen solcher Prüffelder auf die Verifikation jedenfalls für die hier maßgeblichen Veranlagungszeiträume nicht erkennbar. Als „klassisches” Prüffeld ergeben sich private Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapiergeschäften eher nicht; in der Veranlagungspraxis spricht gegen die Bildung eines solchen Prüffelds vielmehr, dass hinsichtlich der in Nr. 5 der GNOFÄ angesprochenen „Belege und sonstigen Unterlagen” keine Aufbewahrungspflichten und jedenfalls hinsichtlich nicht (mehr) vorhandener, nicht aufbewahrungspflichtiger Unterlagen auch keine Vorlagepflichten des Steuerpflichtigen bestehen (näher dazu unten C III 3 a ee).
dd) Unter Berücksichtigung dieser Verfahrensgrundsätze wird im Einzelfall das Entdeckungsrisiko bei falschen und unvollständigen Angaben zu steuerbaren Einkünften aus privaten Wertpapiergeschäften entscheidend dadurch bestimmt, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Veranlagungsstelle einen hinreichend konkreten Anlass für die Überprüfung solcher Einkünfte sehen kann und wie leicht die für eine zutreffende Besteuerung erforderlichen Tatsachen festzustellen sind. Dies hängt im Wesentlichen davon ab, wie viel verwertbares Kontrollmaterial der Finanzbehörde bereits bei den Veranlagungsarbeiten vorliegt oder wie schnell es im Rahmen der normalen Veranlagungstätigkeit zugänglich gemacht werden kann; fehlen für gewöhnlich die nötigen Daten für einen Vergleich von (vermuteten) Soll- und (erklärten) Istwerten, so ist im Regelfall des Besteuerungsverfahrens bereits die Erkenntnis von – noch weiter aufzuklärenden – Unstimmigkeiten in der Steuererklärung nicht zu gewinnen. Mangelndes Erfahrungswissen der Veranlagungsstellen oder das Fehlen besonderer Merkmale der zu veranlagenden Steuerpflichtigen vermindern das Entdeckungsrisiko, während sich dieses Risiko deutlich erhöht, wenn nicht nur in Ausnahmefällen eine spätere Überprüfung durch den Außendienst in Betracht kommt.
Hiernach ist das Entdeckungsrisiko bei mangelhafter Deklaration der in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 erzielten Spekulationsgewinne im Regelfall des Besteuerungsverfahrens sehr gering: Die für beide Veranlagungszeiträume maßgeblichen Erhebungsregeln vermitteln einer Veranlagungsstelle im regulären Besteuerungsverfahren keinen konkreten Anlass, steuerbare Einkünfte aus privaten Wertpapiergeschäften zu verifizieren; auch Nachfragen im Einzelfall wirken die bestehenden Erhebungsregeln entgegen. Eine nachträgliche Überprüfung durch den Außendienst ist bei „Privaten” im Normalfall nicht vorgesehen.
(1) Der Steuerpflichtige ist nicht verpflichtet, der zuständigen Finanzbehörde außerhalb der Steuererklärung Mitteilung über von ihm getätigte Spekulationsgeschäfte zu machen; Anzeigepflichten, wie sie in den §§ 137 bis 139 AO geregelt sind, bestehen insoweit nicht. Obwohl Kreditinstitute nach den Feststellungen des Bundesrechnungshofs (BTDrucks 14/8863, S. 3 unter 0.3 und S. 6 unter 3.1) und nach den in der mündlichen Verhandlung geschilderten Erfahrungen des Finanzamts Frankfurt am Main I ihren Kunden vielfach auch ohne rechtliche Verpflichtung Unterlagen ausstellen, in denen steuerpflichtige Spekulationsgewinne gesondert ausgewiesen und die für deren Berechnung notwendigen Daten mitgeteilt werden, ist der Steuerpflichtige nicht verpflichtet, seine Angaben durch die Beifügung von Belegen glaubhaft zu machen; es fehlt an der in § 150 Abs. 4 Satz 1 AO vorausgesetzten (einzel-) steuergesetzlichen Anordnung, solche Unterlagen der Steuererklärung beizufügen. Der Steuerpflichtige ist auch nicht verpflichtet, über seine Spekulationsgeschäfte Aufzeichnungen anzufertigen und diese aufzubewahren; die in den §§ 140 ff., § 147 AO geregelten gesetzlichen Aufzeichnungs- und (Beleg-)Aufbewahrungspflichten finden hinsichtlich solcher Geschäfte keine Anwendung. Unter solchen Umständen kann ein Bezieher von steuerbaren Einkünften aus privaten Wertpapiergeschäften im Wesentlichen nur durch zweifelhafte Angaben in seiner Steuererklärung Anlass für weitere Sachverhaltsermittlungen bieten.
(2) Dass den Veranlagungsstellen schon bei Durchführung der Veranlagungsarbeiten auf andere Weise als durch erkennbar unrichtige oder unvollständige Angaben des Steuerpflichtigen nicht nur in Ausnahmefällen die Möglichkeit zur Verifikation der hier in Rede stehenden Einkünfte eröffnet wäre, ist für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 nicht ersichtlich:
(a) Die Wahrscheinlichkeit, dass dem Veranlagungsfinanzamt Kontrollmitteilungen aus einer Außenprüfung bei Kreditinstituten vorliegen, ist äußerst gering.
Über das tatsächliche Ausmaß solcher Kontrollmitteilungen und deren Verwertung liegen (auch) für die Einkommensteuer 1997 und 1998 keine gesicherten Erkenntnisse vor; weder ist aus den erwähnten Untersuchungen der Vollzugspraxis ersichtlich noch im konkreten Normenkontroll- oder im Ausgangsverfahren vorgetragen worden, dass solche Kontrollmitteilungen im Regelfall der Veranlagungspraxis (auch) für die Veranlagungszeiträume 1997, 1998 tatsächlich vorliegen oder vorgelegen haben. Aus der Praxis der Außenprüfung von Kreditinstituten ergeben sich eher Hinweise auf die Schwierigkeit, die für die Besteuerung von privaten Wertpapiergeschäften nötigen Daten zu erlangen; so hat in der mündlichen Verhandlung ein Mitarbeiter des Finanzamts Darmstadt davon berichtet, dass das Vorhaben, einschlägige Kontrollmitteilungen auszuschreiben, gescheitert sei. Im Übrigen sprechen steuerverfahrensrechtliche Gesichtspunkte dagegen, dass im Regelfall die Angabe von Einkünften aus Spekulationsgeschäften mit Wertpapieren in der Steuererklärung auf Grund von Kontrollmitteilungen verifiziert werden konnten.
Zwar eröffnet § 194 Abs. 3 AO den Finanzbehörden grundsätzlich die Möglichkeit, auch im Rahmen einer Außenprüfung bei Kreditinstituten Feststellungen über die Verhältnisse Dritter zu treffen und diese auszuwerten. Ohne dass dies in der Vorschrift ausdrücklich erwähnt wäre, ist grundsätzlich auch die Fertigung und Auswertung von Kontrollmitteilungen zulässig; daher weist § 9 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift für die Betriebsprüfung – Betriebsprüfungsordnung – vom 15. März 2000 (BStBl I 2000, S. 368) darauf hin, dass Feststellungen, die nach § 194 Abs. 3 AO für die Besteuerung anderer Steuerpflichtiger ausgewertet werden können, der zuständigen Finanzbehörde mitgeteilt werden sollen. Nach seinem Wortlaut macht § 194 Abs. 3 AO die Zulässigkeit der Auswertung der Feststellungen von Verhältnissen Dritter lediglich davon abhängig, dass ihre Kenntnis für die Besteuerung dieser anderen Personen von Bedeutung ist. Nach § 30a Abs. 3 Satz 1 AO dürfen jedoch anlässlich einer Außenprüfung bei einem Kreditinstitut legitimationsgeprüfte Guthabenkonten oder Depots nicht zwecks Nachprüfung der ordnungsgemäßen Versteuerung festgestellt oder abgeschrieben werden, und nach Satz 2 der Vorschrift soll auch die Ausschreibung von Kontrollmitteilungen insoweit unterbleiben (vgl. auch 4 a). Geschützt ist dabei auch der Schriftverkehr des Kreditinstituts, der sich auf bestehende Guthabenkonten und Depots bezieht (vgl. BFH-Beschluss vom 28. Oktober 1997 – VII B 40/97 –, BFH/NV 1998, 424, unter II 2 d cc, m.w.N.). Damit bleibt der Außenprüfung ein wesentlicher Teil der zur unmittelbaren Aufdeckung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften geeigneten Konten verschlossen; der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat denn auch bereits die mit § 30a Abs. 3 AO wörtlich übereinstimmende Vorgängerregelung in Nr. 3 des Bankenerlasses (zum Wortlaut vgl. BVerfGE 84, 239 ≪249≫) als ein „Verbot der Kontrollmitteilungen” bewertet (vgl. BVerfGE 84, 239 ≪278≫).
Daran ändert nur wenig, dass nach der Rechtsprechung des VII. und VIII. Senats des Bundesfinanzhofs (vgl. Beschluss vom 28. Oktober 1997 – VII B 40/97 –, BFH/NV 1998, 424, unter II 2 d cc; Urteil vom 18. Februar 1997 – VIII R 33/95 –, BFHE 183, 45, BStBl II 1997, S. 499, unter B III 4 a ee ccc) Zufallserkenntnisse, die den Verdacht einer Steuerverkürzung im Einzelfall begründen, auch hinsichtlich legitimationsgeprüfter Konten mitgeteilt werden dürfen – auf die Gewinnung von Prüfmaterial für den Regelfall der Veranlagung ist diese Einschränkung des § 30a Abs. 3 AO nicht angelegt.
Soweit der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (vgl. Urteil – VIII R 33/95 –, a.a.O., unter B III 4 a ee ddd; zu der Entscheidung z.B. Streck/Peschges, Die Fertigung von Kontrollmitteilungen bei Außenprüfungen in Banken, DStR 1997, S. 1993 ≪1994 und 1996 f.≫; Bilsdorfer, Der BFH und die Zinsbesteuerung – ein bemerkenswerter Eiertanz, NJW 1997, S. 2368 ≪2369 f.≫; Eckhoff, Verfassungsmäßigkeit der Zinsbesteuerung?, DStR 1997, S. 1071 ≪1072≫; Leist, Verfassungsrechtliche Schranken des steuerlichen Auskunfts- und Informationsverkehrs, 2000, S. 321 ff.; Tipke, in: Tipke/Kruse, Abgabenordnung Finanzgerichtsordnung § 30a AO, Rn. 17 f. und § 194 AO, Rn. 31) § 30a Abs. 3 AO dahin auslegt, dass Kontrollmitteilungen durch den Außenprüfer auch bei hinreichendem Anlass gefertigt und ausgeschrieben werden dürfen, stehen dem die kritischen Äußerungen des VII. Senats des Bundesfinanzhofs (– VII B 40/97 –, a.a.O., unter II 2 f) gegenüber, wonach – im Gegensatz zur Ansicht des VIII. Senats – § 30a Abs. 3 AO eine bewusste und zielgerichtete Einschränkung des § 194 Abs. 3 AO durch den Gesetzgeber für Prüfungen im Bankenbereich darstelle. Die Gegensätze sind auch durch weitere Stellungnahmen des VII. Senats des BFH (vgl. Beschluss vom 25. Juli 2000 – VII B 28/99 –, BFHE 192, 44, BStBl II 2000, S. 643; Beschluss vom 21. März 2002 – VII B 152/01 –, BFHE 198, 42, BStBl II 2002, S. 495) nicht ausgeräumt worden und führen in der Prüfungspraxis der Finanzämter dazu, dass im Einzelfall der Bankenprüfung Maßnahmen zur Verifikation von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften nicht sicher geplant und deren Rechtmäßigkeit nicht sicher abgeschätzt werden können. So bestehen in der Praxis erhebliche Rechtsunsicherheiten, wann anlässlich einer Bankenprüfung ein „hinreichender Anlass” für Kontrollmitteilungen gegeben ist und wann (bereits) eine unzulässige Rasterfahndung vorliegt. Die Finanzämter vermögen also in der Praxis nicht von vorneherein deutlich abzusehen, welche Befugnisse sie tatsächlich im Einzelfall der Bankenprüfung haben und wie die rechtliche Bewertung von ergriffenen Kontrollmaßnahmen durch die Finanzgerichte ausfallen wird. Fest steht lediglich, dass im Rahmen von Bankenprüfungen Kontrollmitteilungen über Spekulationsgewinne nicht stichprobenartig – d.h. ohne begründeten Anlass – gewonnen werden dürfen.
Faktisch geben die bestehenden rechtlichen Unsicherheiten geprüften Dritten auch breiten Raum, Verifikationsversuchen der Außenprüfung entgegen zu treten.
(b) Für den Regelfall der Veranlagung scheidet hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 auch aus, dass Erkenntnisse über private Wertpapiergeschäfte vorliegen, die auf Grund von Sammelauskunftsersuchen der Finanzverwaltung erlangt worden sind. Zwar hat der VII. Senat des Bundesfinanzhofs in seinem Beschluss vom 21. März 2002 – VII B 152/01 – (a.a.O.) die Voraussetzungen einer unzulässigen Rasterfahndung oder unzulässiger Ermittlungen „ins Blaue” in einem Fall verneint, in dem die Steuerfahndung gestützt auf § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO gegen eine große Zahl von Bankkunden wegen Wertpapiergeschäften am „Neuen Markt” ermittelt hatte. Als Einzelfallentscheidung, die eine spezielle Informationslage betraf, hat dieser Beschluss jedoch für die Finanzverwaltung nicht zu ausreichender Rechtssicherheit geführt. Die Voraussetzungen für Sammelauskunftsersuchen an Kreditinstitute sind zu wenig konturiert geblieben, als dass sich die Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen für die Finanzverwaltung mit ausreichender Sicherheit von vorneherein abschätzen ließe.
(c) Mitteilungen von Kreditinstituten an das Bundesamt für Finanzen nach § 45d Abs. 1 EStG eignen sich für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 nicht zur Verifikation von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften. In Abs. 2 der Vorschrift in ihrer bis einschließlich Veranlagungszeitraum 1998 gültigen Fassung ist die Verwendung der Mitteilungen ausdrücklich auf die Prüfung der rechtmäßigen Inanspruchnahme des Sparerfreibetrags und des Pauschbetrags für Werbungskosten bei Kapitalerträgen beschränkt. Selbst die ab dem Veranlagungszeitraum 1999 bestehende erweiterte Verwendungsmöglichkeit der Mitteilungen, auf die das Bundesministerium der Finanzen besonders hingewiesen hat, kann allenfalls Anlass zu aufwendigen eigenen Ermittlungen der Veranlagungsstelle geben, wozu diese jedoch im Regelfall der Vollzugspraxis kaum in der Lage sein wird.
(d) Sonstige Umstände, die einer Veranlagungsstelle losgelöst von den Angaben der Steuererklärung hinsichtlich möglicher Spekulationsgewinne aus privaten Wertpapiergeschäften konkreten Anlass zu weiterer Sachverhaltsermittlung geben könnten, sind für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 nicht erkennbar. Nach den überzeugenden Darlegungen des Bundesrechnungshofs (BTDrucks 14/8863, S. 6 unter 3.4) ist festzustellen, dass seit der Abschaffung der Vermögensteuer keine Informationen über die Entwicklung privater Wertpapieranlagen mehr vorliegen, die Veräußerung privat gehaltener Wertpapiere nicht zu den regelmäßigen Geschäften gehört und deshalb ein unregelmäßiges Erklärungsverhalten noch keinen Anlass für Aufklärungsfragen bietet, dass für private Wertpapiergeschäfte keine Profile von betroffenen Steuerpflichtigen zu erstellen sind und dass auch bei der Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen nicht zwingend auf die Erzielung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften geschlossen werden kann. Die Ursachen solcher Verifikationshindernisse liegen zwar nicht unmittelbar im Verfahrensrecht; entscheidend für die rechtliche Würdigung des daraus resultierenden äußerst geringen Entdeckungsrisikos bei falschen Angaben ist jedoch, dass die gegenwärtig normierten Erhebungsregeln solche ohne weiteres erkennbaren faktischen Hindernisse für die Verifikation von Einkünften aus privaten Wertpapiergeschäften nicht genügend ausgleichen.
(3) Eine (spätere) Verifikation im Rahmen einer Außenprüfung ist bei „Privatpersonen” für gewöhnlich nicht vorgesehen und scheidet daher aus dem regulären Verfahren der Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften aus. Die voraussetzungslose Außenprüfung nach § 193 Abs. 1 AO betrifft nur Steuerpflichtige, die Gewinneinkünfte beziehen; dass etwa bei einem Gewerbetreibenden Einkünfte aus privaten Wertpapiergeschäften mitgeprüft werden, ist jedoch nicht der praktisch bedeutsame Fall. Eine Außenprüfung bei anderen Steuerpflichtigen setzt nach § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO voraus, dass die für die Besteuerung erheblichen Verhältnisse der Aufklärung bedürfen und eine Prüfung an Amtsstelle nach Art und Umfang des zu prüfenden Sachverhalts nicht zweckmäßig ist. Dabei ist eine solche Außenprüfung zwar bereits dann zulässig, wenn Anhaltspunkte vorliegen, die es nach den Erfahrungen der Finanzverwaltung als möglich erscheinen lassen, dass ein Besteuerungstatbestand erfüllt ist oder dass der Steuerpflichtige seine Erklärung nicht, nicht vollständig oder mit unrichtigem Inhalt abgegeben hat (vgl. auch den AEAO zu § 193 unter Nr. 5, der sich auf das BFH-Urteil vom 17. November 1992 – VIII R 25/89 –, BFHE 169, 305, BStBl II 1993, S. 146, bezieht). Gleichwohl ist – wie auch der AEAO zu § 193 unter Nr. 5 andeutet – eine Prüfung bei „Privatpersonen” die Ausnahme: Schon die genannten Hindernisse für eine weitere Sachverhaltsaufklärung durch die Veranlagungsstellen hemmen deren Bereitschaft, entsprechenden Aufklärungsbedarf zu sehen; zudem muss u.a. begründet werden, weshalb die gewünschte Aufklärung durch Einzelermittlung an Amtsstelle nicht erreicht werden kann.
Das Bundesministerium der Finanzen hat mit Bezug auf BVerfGE 96, 1 ≪7≫ eingeräumt, dass – auch im Hinblick auf die verfügbaren personellen und finanziellen Mittel – der Einsatz der Außenprüfung zur Ermittlung von Wertpapier-Veräußerungsgewinnen bei einer Vielzahl von – sinngemäß „privaten” – Steuerpflichtigen nicht angemessen sei. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat schon im Herbst 2000 die Auffassung geäußert, die Außenprüfung sei – sinngemäß: außerhalb des Rahmens von § 193 Abs. 1 AO – nicht das geeignete Instrument, um die Versteuerung der privaten Veräußerungsgeschäfte aufzuklären; mit einer Zunahme von Außenprüfungen bei Kleinanlegern sei nicht zu rechnen (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen, 13. Wahlperiode, Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 56, Drucksache 13/248 vom 5. Oktober 2000).
(4) Einzelne Maßnahmen der Steuerfahndung – sowohl zur Steuerverfahrens- als auch zur Strafverfolgungsermittlung – können nicht als Bestandteil des hier maßgeblichen Regelfalls der Besteuerung angesehen werden. Insoweit kommt es auf deren mögliche Reichweite für die Feststellung eines strukturellen Erhebungsdefizits nicht an. Allenfalls bei der Würdigung von „Nachbesserungen” der Finanzverwaltung bei der Vollzugspraxis können Steuerfahndungsmaßnahmen von Bedeutung sein.
ee) Das Entdeckungsrisiko bleibt im Regelfall des Veranlagungsverfahrens aber selbst dann gering, wenn man der Ansicht folgt, dass Auskunftsverlangen der Finanzbehörden nur dann unzulässig sind, wenn jedweder Anhaltspunkt für steuererhebliche Umstände fehlt. Auch wenn danach das Auskunftsrecht der Finanzbehörden nach § 93 Abs. 1 AO grundsätzlich nicht auf diejenigen Fälle beschränkt ist, in denen bereits konkrete Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen, dass wahrscheinlich eine Steuerschuld entstanden ist und die betreffenden Steuern verkürzt worden sind (vgl. BFH-Urteil vom 18. Februar 1997 – VIII R 33/95 –, BFHE 183, 45, BStBl II 1997, S. 499, unter B III 4 a dd m.w.N.; siehe ergänzend Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. April 1989 – 1 BvR 33/87 –, HFR 1989, S. 440 ≪dort für Auskunftsverlangen der Steuerfahndung nach §§ 93 Abs. 1 Satz 1, 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO≫), kann nicht festgestellt werden, dass Auskunftsersuchen wegen Spekulationsgewinnen in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 den Regelfall des Besteuerungsverfahrens gekennzeichnet haben. Im Gegenteil sind auch insoweit faktische und rechtliche Ermittlungshemmnisse festzustellen.
Faktisch wird dieser Ermittlungsweg durch die schwierige Berechnung von Spekulationsgewinnen insbesondere bei Girosammelverwahrung von Wertpapieren (vgl. Bericht des Bundesrechnungshofs vom 24. April 2002, a.a.O., S. 8 unter 3.2) behindert. Wenn die zur Berechnung erforderlichen Unterlagen bei der Veranlagung fehlen, wird die zügige Fallbearbeitung im Massenverfahren gestört. Nachvollziehbar ist insoweit die Vermutung des Bundesrechnungshofs, die Bereitschaft der Veranlagungsstellen, im Massengeschäft der Einkommensteuerveranlagung ohne weiteres der Erklärung des Steuerpflichtigen zu folgen, steige, wenn die zur Berechnung von Spekulationsgeschäften bei sammelverwahrten Wertpapieren erforderlichen zahlreichen Daten nicht vorlägen.
Faktische und rechtliche Ermittlungshemmnisse ergeben sich für Auskunftsersuchen bei privaten Wertpapiergeschäften zudem daraus, dass keine auf einschlägige Unterlagen bezogene Aufzeichnungs-, Aufbewahrungs- oder Beschaffungspflicht des Steuerpflichtigen besteht. Selbst für den Fall, dass entsprechende Urkunden tatsächlich (noch) vorliegen, ist umstritten, ob sich § 97 AO, nach dem die Finanzbehörde die Vorlage von Urkunden verlangen kann, einzig auf aufbewahrungspflichtige oder auch auf solche Urkunden bezieht, bezüglich derer – wie bei privaten Veräußerungsgeschäften – nach derzeitiger Rechtslage keine Aufbewahrungspflicht besteht (vgl. zum Streit z.B. Tipke in: Tipke/Kruse, § 97 AO, Rn. 5 m.w.N., und § 200 AO, Rn. 10, jeweils mit Bezug auf Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25. April 1988 – 5 K 351/87 –, EFG 1988, S. 502). Außerdem sollen nach § 97 Abs. 2 Satz 1 AO Aufzeichnungen und Unterlagen in der Regel erst dann verlangt werden, wenn der Steuerpflichtige eine Auskunft nicht erteilt hat, wenn die Auskunft unzureichend ist oder Bedenken gegen ihre Richtigkeit bestehen. Selbst für den Fall eines an den Steuerpflichtigen gerichteten Auskunftsersuchens wird deshalb hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 regelmäßig die Abgabe einer schlüssigen Erklärung genügen, um weitere Ermittlungsmaßnahmen auszuschließen. Insoweit kommt die informatorische Inanspruchnahme von Dritten, hier insbesondere von Kreditinstituten, regelmäßig nicht in Betracht; diese dürfen nach gegenwärtiger Rechtslage nur subsidiär in Anspruch genommen werden, wenn von Seiten des Steuerpflichtigen keine hinreichenden mündlichen oder schriftlichen Informationen erlangt werden können. Nimmt man den nur geringen Informationsgehalt der Steuererklärung und die anderen bereits genannten, einer wirkungsvollen Ermittlung entgegen wirkenden Umstände hinzu, so ist hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 die Schwelle für eine Informationsbeschaffung bei Dritten für die Finanzverwaltung in der Vollzugspraxis zu hoch, als dass diese Informationsquelle als regelmäßiger Bestandteil des Besteuerungsverfahrens angesehen werden könnte.
ff) Nach alledem ist das Verfahrensrecht für die hier zu beurteilenden Veranlagungszeiträume im Regelfall des Besteuerungsverfahrens nicht auf eine wirksame Ermittlung und Kontrolle von Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften bei Wertpapieren angelegt.
b) Auch unter dem Aspekt der realitätsgerechten Ausgestaltung des Erhebungsverfahrens, der mit der Konzentration auf den Regelfall des Besteuerungsverfahrens eng zusammenhängt, muss von einem strukturellen Erhebungsdefizit in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 ausgegangen werden. Diejenigen, die über die für eine Besteuerung notwendigen Informationen verfügen, sind für diesen Zeitraum nicht verpflichtet, die einschlägigen Daten gegenüber den Finanzbehörden in einem allgemeinen, den Bedürfnissen bei der Veranlagung einer Vielzahl von Fällen entsprechenden Verfahren transparent zu machen – etwa in Gestalt einer „Jahresbescheinigung über Kapitalerträge und Veräußerungsgewinne aus Finanzanlagen”, wie sie Ende des Jahres 2002 in Art. 1 Nr. 17 des Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen (Steuervergünstigungsabbaugesetz, BRDrucks 866/02 und BTDrucks 15/119) vorgeschlagen worden ist und nunmehr in dem durch Art. 1 Nr. 9 des Zweiten Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 15. Dezember 2003 (Steueränderungsgesetz 2003 – StÄndG 2003, BGBl I S. 2645) eingefügten § 24c EStG insbesondere von Kreditinstituten und Finanzdienstleistungsinstituten u.a. für nach dem 31. Dezember 2003 abgeschlossene Veräußerungsgeschäfte im Sinne des § 23 EStG (vgl. § 52 Abs. 39a EStG in der Fassung des Art. 1 Nr. 34 Buchstabe g StÄndG 2003) verlangt wird.
In diesem Zusammenhang ist besonders hervorzuheben, dass die Fertigung von Kontrollmitteilungen im Rahmen von Bankenprüfungen für den Zeitraum der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm rechtlich und tatsächlich stark behindert ist. Unbeschadet einer – zudem umstrittenen – „verfassungskonformen Auslegung” dieser Vorschrift durch den VIII. Senat des Bundesfinanzhofs trifft das Monitum des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1991 (BVerfGE 84, 239 ≪278≫) zum früheren Bankenerlass im Wesentlichen auch dessen Nachfolgeregelung in § 30a AO: Vor allem mit dem Verbot von Kontrollmitteilungen wird der Finanzverwaltung eines der wirksamsten Mittel zur Sachverhaltsaufklärung genommen.
c) Darüber hinaus spricht für ein strukturelles Erhebungsdefizit, dass die Erhebung der Einkommensteuer auf Spekulationsgewinne bei Wertpapieren gegenüber der Steuererhebung bei anderen Einkünften – ungeachtet auch bei diesen auftretender Vollzugsmängel – in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 die Besonderheit aufweist, zu rechtswidrigem Handeln geradezu einzuladen.
aa) So eröffnet sich etwa bei Spekulationsgeschäften mit Grundstücken ein effizienter Kontrollzugang durch die zivilrechtlich notwendige Mitwirkung eines Notars, den seinerseits nach § 18 Grunderwerbsteuergesetz gesetzliche Anzeigepflichten gegenüber der Finanzverwaltung treffen. Ohnehin lassen sich steuererhebliche Vorgänge in Bezug auf den gehandelten Vermögensgegenstand nicht auf ähnliche Weise vor dem Blick der Finanzverwaltung verbergen wie bei Wertpapieren.
bb) Bei Steuerpflichtigen, die einen gewerblichen oder land- und forstwirtschaftlichen Betrieb unterhalten oder einer selbständigen freiberuflichen Tätigkeit nachgehen, ist die voraussetzungslose Außenprüfung nach § 193 Abs. 1 AO möglich, weil der Gesetzgeber die generalisierende Wertung getroffen hat, dass Schwierigkeit und wirtschaftliche Bedeutung einer zutreffenden Würdigung der steuerrelevanten „tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse” (§ 199 Abs. 1 AO) in diesen Fällen grundsätzlich sowohl eine intensivere behördliche Ermittlungstätigkeit als auch eine intensivere Inanspruchnahme der Betroffenen rechtfertigen. Einkünfte, die ein Steuerpflichtiger im Rahmen der so genannten „Schattenwirtschaft” erzielt, treffen insoweit in der Vollzugspraxis jedenfalls nicht auf ein nur marginales Entdeckungsrisiko. Die wesentliche Ursache für die Nichterfassung solcher Einkünfte liegt nicht darin, dass bereits die Struktur des Erhebungsverfahrens zum Verschweigen solcher Einkünfte einlädt.
Hinsichtlich der zu den gewerblichen Einkünften gezählten Gewinne aus der Veräußerung von (im Privatvermögen befindlichen) Anteilen an Kapitalgesellschaften, die nach § 17 EStG zu besteuern sind, kann immerhin auf § 54 EStDV verwiesen werden. Nach dieser Vorschrift haben Notare an die zuständigen Finanzämter beglaubigte Abschriften von Urkunden zu übersenden, die u.a. die Umwandlung und Auflösung von Kapitalgesellschaften oder die Verfügung über Anteile an Kapitalgesellschaften zum Gegenstand haben. Außerdem gelten für derartige private Veräußerungsgewinne die Regelungen für eine Außenprüfung gewerblicher Einkünfte.
cc) Bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung ist der zur Einkünfteerzielung eingesetzte Vermögensgegenstand ebenfalls nicht zu verheimlichen, zumal er regelmäßig auf Dauer gehalten wird. Oftmals sollen im Rahmen solcher Einkünfte auch Verluste steuerlich geltend gemacht werden, so dass schon insoweit beim Steuerpflichtigen wenig Interesse besteht, entsprechende Einkünfte zu verschweigen.
dd) Bei Einkünften aus Kapitalvermögen existieren eine Quellensteuer sowie die Kontrollmöglichkeit nach § 45d EStG. Demgegenüber hat die Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften für 1997 und 1998 selbst dann noch Ausnahmecharakter, wenn man unterstellt, dass bei den Kapitaleinkünften wegen der ins Ausland transferierten „Fluchtgelder” bis heute knapp zwei Drittel der Zinsgutschriften nicht versteuert werden (vgl. im Einzelnen Risto/Julius, Die Verfassungswidrigkeit der Zinsbesteuerung, DB, Beilage Nr. 4/2002 zu Heft Nr. 17, S. 5 m.w.N.). Selbst die wirksamste Erhebungsform, die Quellensteuer, greift im Ausland nicht. Außerdem kommt hinzu, dass – wie auch Kritiker der gegenwärtigen Zinsbesteuerung nicht bestreiten (vgl. Risto/Julius, a.a.O., S. 5) – die Finanzverwaltung insbesondere im Rahmen von Steuerfahndungsmaßnahmen nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen hat, die Besteuerung von Einkünften aus ins Ausland transferiertem Kapitalvermögen sicher zu stellen. Dass es sich insoweit um besondere Maßnahmen der Verifikation von Einkünften handelt, wiegt dabei weniger schwer, weil die Finanzverwaltung – wie auch die Vorschrift des § 90 Abs. 2 AO zeigt – bei Auslandssachverhalten generell auf eine erhöhte Mitwirkung des Steuerpflichtigen angewiesen ist und – soweit diese nicht zu erlangen ist – besondere Mittel zur Verifikation einsetzen muss.
ee) Bei Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit hat der Gesetzgeber die Erhebung der Einkommensteuer in Form einer Quellensteuer (Lohnsteuer) ausgestaltet und damit eine der effizientesten Formen der Steuererhebung gewählt. Im Regelfall der Besteuerung kommt es damit nicht allein auf die Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen an.
ff) Im Ergebnis weist daher die Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 im Vergleich zu anderen Einkünften besondere Mängel auf, welche die Annahme eines strukturellen Erhebungsdefizit stützen.
d) Die von Bundes- und Landesfinanzverwaltungen vorgetragenen „Nachbesserungen” beim Vollzug beruhen – soweit sie denn überhaupt für die hier maßgeblichen Veranlagungszeiträume zum Tragen kommen – weitgehend nicht auf dem Einsatz eines Instrumentariums, das zu den üblichen Bestandteilen des regulären Veranlagungsverfahrens zur Verifikation von Spekulationsgewinnen gehört. Insoweit deutet nichts darauf hin, dass das festzustellende tatsächliche Erhebungsdefizit nur Folge temporärer Mängel der Finanzverwaltung gewesen wäre. Die vorgetragenen Nachbesserungsmaßnahmen entfalten daher eher Indizwirkung für als gegen das Bestehen eines strukturellen Vollzugsdefizits im Streitjahr des Ausgangsverfahrens und im Folgejahr.
Zudem ist ein bemerkenswerter Erfolg der Maßnahmen, welcher eine solche Indizwirkung abschwächen oder beseitigen könnte, für die hier in Rede stehenden Veranlagungszeiträume nicht ersichtlich. Nach den vom Senat gewonnenen Erkenntnissen kann nicht davon ausgegangen werden, dass insbesondere Maßnahmen der Finanzverwaltung im Anschluss an das Ausgangsverfahren und an den Bericht des Bundesrechnungshofs vom 24. April 2002 an der Vollzugssituation für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 etwas grundlegend geändert haben. So unterliegen etwa die besonders ins Feld geführten „Einkommensmillionäre” schon ungeachtet der Frage, ob sie Spekulationsgewinne aus privaten Wertpapiergeschäften erzielt haben, der erhöhten Aufmerksamkeit der Finanzverwaltung. Auch bei dem seit dem Jahr 2002 praktizierten Ansatz des Finanzamts Frankfurt am Main I, über erklärte Werbungskosten auf Vermögensverwaltung und des Weiteren auf private Wertpapiergeschäfte zu schließen, ist dessen Effizienz hinsichtlich der Jahre 1997 und 1998 unklar, selbst wenn man davon ausgeht, dass dieser Kontrollansatz von anderen Finanzämtern übernommen worden ist. Zudem handelt es sich um einen Versuch der nachträglichen Verifikation von Spekulationsgewinnen über Umwege, auf die der Regelfall des Veranlagungsverfahrens nicht angelegt ist; fraglich bleibt, ob die berichteten Ermittlungsmaßnahmen in der Masse der Fälle durchführbar sind. Dass die erklärte Zielsetzung der Finanzverwaltung, im Rahmen von Bankenprüfungen vermehrt Kontrollmitteilungen zu schreiben, in der Praxis umgesetzt worden ist, darf im Hinblick auf die Stellungnahmen der Länderfinanzverwaltungen und die in der mündlichen Verhandlung dargelegten Erfahrungen der Außenprüfung des Finanzamts Darmstadt bezweifelt werden; mit welchem Erfolg Kontrollmitteilungen ausgewertet werden konnten, ist ebenfalls nicht belegt. Ausmaß und Wirkungen von – ohnehin nicht den Regelfall des Besteuerungsverfahrens betreffenden und daher zur Widerlegung eines strukturellen Vollzugsdefizits grundsätzlich ungeeigneten – Steuerfahndungsmaßnahmen sind unbekannt.
IV.
Dem Gesetzgeber ist es zuzurechnen, dass der Vollzugsbefehl der zur Prüfung gestellten materiellen Steuernorm in der Praxis des Erhebungsverfahrens für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 nicht gleichheitsgerecht umzusetzen ist. In seine Verantwortlichkeit fällt es, dass bei der vorgesehenen Erhebungsform das maßgebliche Verfahrensrecht keine Regelungen enthält, durch die eine wirksame Kontrolle von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften gewährleistet ist, sondern die für beide Erhebungszeiträume anzuwendenden verfahrensrechtlichen Regelungen einer solchen Kontrolle sogar entgegen wirken.
Dem Gesetzgeber musste sich bereits für das Streitjahr des Ausgangsverfahrens (1997) die Erkenntnis aufdrängen, dass für die in Frage stehende Spekulationssteuer mit Blick auf die Form der Erhebung sowie die nähere Regelung des Erhebungsverfahrens das von Verfassungs wegen vorgegebene Ziel der Gleichheit im Belastungserfolg „prinzipiell” nicht zu erreichen sein würde. Sowohl die ermittlungsbeschränkende Wirkung des früheren Bankenerlasses als auch die Voraussetzungen für die Gleichheit im Belastungserfolg sind im Zinsurteil des Zweiten Senats vom 27. Juni 1991 klargestellt. Dem Gesetzgeber war demnach deutlich, welchen gleichheitsrechtlichen Anforderungen der Vollzug der materiellen Steuernorm des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG zu genügen hatte. Die Kritik am Vollzug des § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG ist nicht erst in den Jahren nach 1997 immer deutlicher artikuliert worden. Bereits in dem 1994 vorgelegten Abschlussbericht der vom Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen eingesetzten Arbeitsgruppe „Steuerausfälle” wurde unter „Einzelbeispiele zur Missbrauchsbekämpfung” ausgeführt, dass Spekulationsgewinne weitgehend nicht erklärt würden (vgl. Überprüfung der Möglichkeiten zur vollständigen Ausschöpfung der Steuerquellen ≪Teil II≫, Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Steuerausfälle”, StB 1994, S. 446 ≪449 f.≫). In besonderer Weise musste sich die Frage der Verifikation von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften für den Gesetzgeber zudem angesichts deutlich steigender Börsenkurse stellen.
Entgegen seiner Verantwortlichkeit für eine Nachbesserung hat der Gesetzgeber jedoch an der Nachfolgeregelung des Bankenerlasses (§ 30a AO) festgehalten, die Erhebungsform der Einkommensteuer auf private Veräußerungsgewinne bei Wertpapieren nicht geändert und jedenfalls für die Zeit der Gültigkeit der hier zur Prüfung gestellten Steuernorm keine Instrumente für eine wirksame Kontrolle der Besteuerung von privaten Veräußerungsgewinnen bei Wertpapieren zur Verfügung gestellt. Selbst die seit 1997 bestehenden Differenzen in der Rechtsprechung des VII. und VIII. Senats des Bundesfinanzhofs (oben C III 3 a dd 2 a) zur Zulässigkeit von Kontrollmitteilungen anlässlich einer Bankenprüfung oder den Umstand, dass der VII. Senat des Bundesfinanzhofs die Voraussetzungen von Sammelauskunftsersuchen im Ergebnis nur für einen besonderen Einzelfall formuliert hat (oben C III 3 a dd 2 b), hat der Gesetzgeber nicht zum Anlass genommen, die dadurch bewirkten Rechtsunsicherheiten zu beseitigen.
D.
Die Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG, soweit sie Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft, führt für 1997, das Streitjahr des Ausgangsverfahrens, und den nachfolgenden Veranlagungszeitraum 1998, in dem die vorgelegte Norm letztmals Gültigkeit beansprucht hat, zur Nichtigkeit dieser Steuernorm im genannten Umfang. Folge dieser Nichtigerklärung ist, dass die von der gleichheitswidrigen Norm erfassten privaten Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren, bei denen der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als sechs Monate beträgt, nicht (mehr) zu den Spekulationsgeschäften im Sinne der § 22 Nr. 2, § 23 EStG und damit auch nicht zu den sonstigen Einkünften im Sinne des § 22 EStG zählen, die gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 7 EStG der Einkommensteuer unterliegen.
I.
In seinem Zinsurteil hat der Zweite Senat die ungleiche Besteuerung von Kapitaleinkünften noch für eine Übergangszeit hingenommen (vgl. BVerfGE 84, 239 ≪283≫). Die Gründe, die in jener Entscheidung aus dem Jahr 1991 für die Einräumung einer Übergangsfrist für gesetzgeberische Nachbesserungen sprachen, liegen indes nicht mehr vor. Die verfassungsrechtliche Lage war jedenfalls für den Veranlagungszeitraum 1997 grundsätzlich geklärt. Dass in Bezug auf die zur Prüfung gestellte materielle Steuernorm zu jener Zeit noch keine dem Zinsurteil entsprechende verfassungsgerichtliche Entscheidung ergangen war, ist ohne Bedeutung.
II.
Der Verstoß einer Norm gegen das Grundgesetz kann entweder zur Nichtigerklärung nach § 78 BVerfGG oder dazu führen, dass das Bundesverfassungsgericht die (bloße) Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz feststellt (vgl. § 31 Abs. 2, § 79 Abs. 1 BVerfGG). Beruht die Verfassungswidrigkeit ausschließlich auf einem Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, so gilt inzwischen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein umgekehrtes Regel-Ausnahme-Verhältnis: Regelfolge ist die Unvereinbarkeit (z.B. BVerfGE 99, 280 ≪298≫; 105, 73 ≪133≫), während Nichtigkeit die Ausnahme darstellt (z.B. BVerfGE 88, 87 ≪101 ff.≫; 92, 91 ≪121≫; 99, 69 ≪83≫). Bei Verletzungen des allgemeinen Gleichheitssatzes hat der Gesetzgeber nämlich regelmäßig verschiedene Möglichkeiten, diesen Verfassungsverstoß zu beseitigen. Dann aber ist der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner (Gestaltungs-) Zuständigkeit grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen, und zwar, soweit nicht eine Weitergeltungsanordnung ausgesprochen worden ist, rückwirkend für den gesamten Zeitraum, auf den sich die Unvereinbarerklärung bezieht. Dabei ist es regelmäßig auch Sache des Gesetzgebers, die Relation zwischen materiellem Steuertatbestand und gegenläufigen Verfahrensnormen (hier etwa § 30a AO und Fehlen spezieller Aufzeichnungs- und Mitwirkungspflichten der Steuerpflichtigen und Dritter) verfassungsgemäß neu zu gestalten. Soweit – wie hier – neben der für die Verfassungswidrigkeit konstitutiven Relation zwischen verschiedenen Normen auch die Relation zwischen Norm und Vollzugsrealität entscheidend ist, ist der Gesetzgeber grundsätzlich auch berechtigt, neben Veränderungen des normativen auch solche des realen Umfelds einer Steuernorm (dazu auch unten D III 2) angemessen zu berücksichtigen.
Gleichwohl hat die Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm deren Nichtigkeit zur Folge. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die erheblichen Unsicherheiten, mit denen die Vollzugspraxis bei einer Unvereinbarerklärung belastet wäre, verfassungsrechtlich hinzunehmen wären oder ob nicht bereits diese Unsicherheiten den Ausnahmefall der Nichtigkeitsfolge begründen. Der Senat ist jedenfalls der Überzeugung, dass eine nachträgliche Beseitigung der Verfassungswidrigkeit durch die Umgestaltung materieller und verfahrensrechtlicher Normen sowie durch einen auf der umgestalteten Rechtslage gründenden flächendeckenden Vollzug nicht möglich ist. Gegen die Möglichkeit der zeitgerechten Herstellung eines nicht mehr defizitären Vollzugs für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 spricht bereits der Umstand, dass dieser Vollzug im Einzelfall regelmäßig noch innerhalb des Laufs einer vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) gelingen müsste; die Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm schließt die Geltung der verlängerten Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO für Fälle aus, in denen allein Spekulationsgewinne unzulänglich deklariert worden sind.
III.
1. Die Nichtigerklärung entfaltet auch für den Veranlagungszeitraum 1998 Gültigkeit. Streitjahr des Ausgangsverfahrens ist zwar nur der Veranlagungszeitraum 1997; den Prüfungsgegenstand der Vorlage bildet jedoch § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in seiner auch für den Veranlagungszeitraum 1998 maßgeblichen Fassung. Wird eine Norm gemäß den §§ 82 Abs. 1, 78 Satz 1 BVerfGG (teilweise) für nichtig erklärt, so entfaltet diese Nichtigerklärung grundsätzlich Wirkung für den gesamten Zeitraum, in dem die betroffene Norm Gültigkeit beansprucht. Jedenfalls soweit – wie hier – von gleichbleibenden Verhältnissen in den betroffenen Veranlagungszeiträumen auszugehen ist, gilt dies auch für den Fall eines verfassungswidrigen Vollzugsdefizits. Nach diesem Grundsatz wird auch der Veranlagungszeitraum 1998 von der Nichtigerklärung umfasst.
2. Die Nichtigerklärung erstreckt sich hingegen nicht auch auf Nachfolgeregelungen der zur Prüfung gestellten Norm.
Zwar kann das Bundesverfassungsgericht in Anwendung der §§ 82 Abs. 1, 78 Satz 2 BVerfGG auch Nachfolgeregelungen für nichtig erklären, die nicht Prüfungsgegenstand der zu entscheidenden Vorlage sind (vgl. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 31, Rn. 162 ff. und § 78, Rn. 25 m.w.N.). Dies ist hier jedoch nicht geboten, da die Beantwortung der Vorlagefrage nicht ohne weiteres zu einer entsprechenden Beurteilung der in den Veranlagungszeiträumen ab 1999 gültigen Nachfolgeregelungen führt.
Die für die Verfassungswidrigkeit einer Steuernorm wegen eines strukturellen Vollzugsdefizits maßgebliche Relation zwischen Norm und Vollzugsrealität kann sich im Laufe der Zeit entscheidungserheblich ändern. Schon deshalb lässt sich der Befund eines strukturellen Vollzugsdefizits nicht ohne weiteres von einem Erhebungszeitraum auch auf dessen Folgejahre übertragen. Dies ist bei dem hier für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 festgestellten gleichheitswidrigen Erhebungsdefizit schon deshalb der Fall, weil sich die einfachgesetzliche Lage mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 1999 deutlich gewandelt hat, wie der Blick auf die erweiterten Möglichkeiten des Ausgleichs von Spekulationsgewinnen durch entsprechende Spekulationsverluste zeigt (vgl. oben A I 1); hinzu tritt eine jedenfalls ab dem Frühjahr 2000 verstärkt einsetzende negative Kursentwicklung an den Kapitalmärkten (vgl. z.B. Deutsches Aktieninstitut e.V., Kurzstudie 3/2001 von August 2001, S. 1 und 3). Im Hinblick darauf kann schon losgelöst von einer verstärkten Kontrolltätigkeit der Finanzverwaltung nicht notwendig auf ein vergleichbares Vollzugsdefizit in den folgenden Veranlagungszeiträumen hinsichtlich der Einkünfte aus privaten Wertpapiergeschäften geschlossen werden. Werden bei privaten Wertpapiergeschäften erzielte steuerbare Veräußerungsgewinne durch Verlustverrechnung in zunehmendem Maße neutralisiert und ist von der entsprechenden Steuernorm auch sonst auf Grund der Marktentwicklung kein wesentlicher Ertrag mehr zu erwarten, wirken sich selbst fortbestehende normative Defizite möglicherweise nicht mehr in verfassungsrechtlich relevanter Weise aus – der von der materiellen Steuernorm erteilte Vollzugsbefehl liefe ungeachtet defizitärer Erhebungsregeln leer. Ohne dass hierzu jenseits des Prüfungsgegenstands der Vorlage weitere Feststellungen getroffen werden müssten, rechtfertigen solche Umstände keine Erstreckung der (teilweisen) Nichtigerklärung einer zur Prüfung gestellten Norm auch auf deren Folgeregelungen.
Unterschriften
Hassemer, Jentsch, Richter Broß ist an der Unterschrift verhindert., Osterloh, Richter Di Fabio ist an der Unterschrift verhindert., Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
BFH/NV Beilage 2004, 293 |
BVerfGE 2005, 94 |
DStRE 2004, 396 |
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FR 2004, 470 |
NJW 2004, 1022 |
Inf 2004, 286 |
SteuerBriefe 2004, 500 |
KFR 2004, 181 |
NWB 2004, 1659 |
NWB 2004, 2632 |
NWB 2004, 817 |
NWB 2004, 970 |
NWB 2008, 220 |
NVwZ 2004, 974 |
SteuerStud 2004, 191 |
SteuerStud 2004, 335 |
StuB 2004, 278 |
StuB 2004, 747 |
WM 2004, 571 |
WuB 2004, 465 |
ZAP 2004, 465 |
wistra 2004, 227 |
JuS 2004, 719 |
KÖSDI 2004, 14126 |
StuW 2004, 277 |
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StBW 2004, 2 |
ZBB 2004, 152 |
BBV 2004, 6 |
BFH/NV-Beilage 2004, 293 |
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JT 2004, 260 |
StB 2004, 169 |
b&b 2004, 168 |
www.judicialis.de 2004 |