Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtmäßiger Aufenthalt. Ausweisung. Duldung. Flüchtling. Genfer Flüchtlingskonvention. Konventionspass. Konventions-Reiseausweis. öffentliche Ordnung. ordre public-Vorbehalt. PKK. Reiseausweis. Sperrwirkung. öffentliche Sicherheit. Terrorismus
Leitsatz (amtlich)
Die Ausländerbehörde kann einem anerkannten Flüchtling auch dann nach ihrem Ermessen einen Reiseausweis nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK ausstellen, wenn sein Aufenthalt nach bestandskräftiger Ausweisung nur geduldet wird. § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG steht dem nicht entgegen.
Normenkette
Genfer Flüchtlingskonvention - GFK § 13; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1, § 25 Abs. 5, § 37 Abs. 3 Nr. 1; AuslG § 8 Abs. 2
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 27.10.2004; Aktenzeichen 13 S 865/02) |
VG Stuttgart (Entscheidung vom 25.01.2002; Aktenzeichen 16 K 3720/01) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 27. Oktober 2004 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der Kläger erstrebt die Ausstellung eines Reiseausweises nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK).
Der 1966 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste 1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte die Anerkennung als Asylberechtigter. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge – jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – stellte im September 1997 fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für den Kläger in Bezug auf die Türkei vorliegen, nachdem es durch rechtskräftiges Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart hierzu verpflichtet worden war. Mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 19. September 1997 wurde der Kläger wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Zuwiderhandlung gegen ein Betätigungsverbot nach dem Vereinsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Kläger versucht hatte, in einem Fall mit Gewalt Spendenzahlungen für die verbotene PKK/ERNK einzutreiben. Der Kläger befand sich deswegen ab März 1997 drei Jahre lang in Haft. Das Regierungspräsidium Stuttgart nahm die Verurteilung zum Anlass, den Kläger im April 1999 auszuweisen. Seine hiergegen sowie gegen die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis und der Ausstellung eines Reiseausweises durch die Stadt Heilbronn erhobene Klage nahm der Kläger im Anschluss an eine außergerichtliche Einigung zurück. In dem Vergleich verpflichtete sich das Land Baden-Württemberg, im Juli 2007 bei der zuständigen Ausländerbehörde auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger unter der Voraussetzung hinzuwirken, dass dieser bis dahin keine neuen Straftaten begangen hat, die zu einer Verurteilung geführt haben. Seit März 2000 ist der Kläger im Besitz von Duldungen mit der Auflage, dass sein Aufenthalt auf den Bereich des Landes Baden-Württemberg beschränkt ist. Nach seinem Umzug nach Stuttgart beantragte er im September 2000, ihm ein Reisedokument mit Rückkehrbefugnis auszustellen. Zur Begründung machte er u.a. geltend, er müsse die Möglichkeit haben, während seines Urlaubs auch Reisen zu unternehmen. Im Dezember 2000 verzog der Kläger in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten und stellte im März 2001 erneut einen Antrag auf Ausstellung eines Reisedokuments. Mit Verfügung vom 29. Juni 2001 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart mit Widerspruchsbescheid vom 4. September 2001 zurück.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die erwähnten Bescheide aufgehoben und die Beklagte zur Neubescheidung verpflichtet. Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Kläger stehe kein Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK zu. Er könne jedoch eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Ausstellung eines Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK beanspruchen. Die Beklagte habe in ihren Erwägungen unzutreffende Gesichtspunkte zugrunde gelegt und wesentliche für die Ausstellung des Reiseausweises sprechende Umstände nicht berücksichtigt.
Auf die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg das erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Zur Begründung hat er ausgeführt, dem Kläger stehe kein Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK zu. Es könne auch nicht beanstandet werden, dass die Ausländerbehörde von der Ermächtigung des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK im Falle des Klägers keinen Gebrauch gemacht und die Erteilung eines Reiseausweises abgelehnt habe. Der Entscheidungsspielraum der Beklagten sei im Hinblick darauf, dass der Kläger bestandskräftig ausgewiesen worden sei, dahingehend verengt, dass die Ausstellung eines Flüchtlingsausweises im Ermessenswege nicht in Betracht komme. Der Konventions-Reiseausweis habe den primären Zweck, dem Flüchtling grenzüberschreitende Reisen mit anschließender Rückkehr in das Land zu ermöglichen, das den Flüchtlingsausweis ausgestellt habe. Zur Einräumung eines derartigen Rückkehrrechts sei die Beklagte nach innerstaatlichem Ausländerrecht im Falle des Klägers jedoch nicht ermächtigt. Dem stehe § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG entgegen, der eine gesetzliche Einreisesperre und damit zwangsläufig auch eine Aufenthaltssperre für Ausländer vorsehe, die – wie der Kläger – ausgewiesen worden seien. Ausnahmen hiervon könnten nur aufgrund spezialgesetzlicher Vorschriften zugelassen werden. Eine derartige innerstaatliche Regelung existiere nicht für die Gruppe derjenigen Ausländer, die wie der Kläger den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention innehätten, deren Aufenthalt im Bundesgebiet aufgrund des mit der Sperrwirkung einer Ausweisung verbundenen Aufenthaltsverbots bei Fortbestehen der Ausreisepflicht jedoch lediglich geduldet werde. Hiernach sei der Beklagten in Bezug auf den Kläger – anders als in den Fällen der nur geduldeten, nicht aber auch ausgewiesenen Ausländer mit Flüchtlingsstatus – von Gesetzes wegen die Einräumung der mit der Ausstellung eines Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 GFK unabdingbar verbundenen Rückkehrberechtigung untersagt. Dies verwehre der Beklagten folgerichtig die Ausstellung des vom Kläger begehrten Reiseausweises nach der Ermessensvorschrift des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, zu deren Begründung er u.a. ausführt: Der Verwaltungsgerichtshof habe zu Unrecht angenommen, dass die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG der Ausstellung eines Reisesausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK entgegenstehe. Die behauptete Sperrwirkung existiere in der vorliegenden Fallkonstellation nicht. Die Verpflichtung aus § 13 des Anhangs zur GFK, dem Flüchtling die Rückkehr zu ermöglichen, werde durch § 8 Abs. 2 AuslG nicht aufgehoben. Vielmehr stehe im Verhältnis der beiden genannten Bestimmungen zueinander § 13 des Anhangs zur GFK die Sonderregelung dar. Im Übrigen ergebe sich die Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK eindeutig aus § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG, nach dem abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bestehe. Dabei komme es nicht auf deren tatsächliche Erteilung an.
Die Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses treten der Revision entgegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht. Der Senat kann auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichtshofs nicht abschließend selbst entscheiden, ob der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist. Die Sache ist deshalb an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein die Frage, ob der Kläger – wie das Verwaltungsgericht im erstinstanzlichen Urteil entschieden hat – beanspruchen kann, dass die Beklagte seinen Antrag auf Ausstellung eines Reiseausweises nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl 1953 II S. 560/BGBl 1954 II S. 619) neu bescheidet. Hingegen ist nicht darüber zu entscheiden, ob der Kläger einen unmittelbaren Anspruch gegen die Beklagte auf Ausstellung eines Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK hat. Danach stellen die vertragschließenden Staaten Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, Reiseausweise aus, die ihnen Reisen außerhalb dieses Gebietes gestatten, es sei denn, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen. Soweit das Verwaltungsgericht einen solchen Anspruch mangels eines rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet verneint und die Klage in diesem Punkt abgewiesen hat, ist das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig geworden. Der Kläger hat insoweit nämlich weder die Zulassung der Berufung beantragt (§ 124a Abs. 4 VwGO) noch sich der Berufung der Beklagten angeschlossen (§ 127 VwGO).
Soweit zur Beurteilung des Klagebegehrens ausländerrechtliche Bestimmungen zu berücksichtigen sind, ist mangels einer einschlägigen Übergangsregelung auf das seit 1. Januar 2005 geltende neue Aufenthaltsgesetz – AufenthG – abzustellen (vgl. Urteil vom 8. Februar 2005 – BVerwG 1 C 29.03 – BVerwGE 122, 376).
2. Der Senat kann nicht abschließend selbst entscheiden, ob die Voraussetzungen des – für den in Rede stehenden Anspruch des Klägers auf Neubescheidung allein in Betracht kommenden – Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK vorliegen. Danach können die vertragschließenden Staaten jedem anderen Flüchtling (als den in Satz 1 genannten), der sich in ihrem Gebiet befindet, einen Konventions-Reiseausweis ausstellen. Diese Bestimmung setzt nicht voraus, dass der Aufenthalt des Flüchtlings im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates rechtmäßig ist. Sie begründet keinen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises, sondern stellt die Entscheidung in das Ermessen der zuständigen Behörde (vgl. Urteil vom 16. Oktober 1990 – BVerwG 1 C 15.88 – BVerwGE 87, 11 ≪23≫ zu der Parallelvorschrift des Art. 28 Satz 2 StlÜbk).
a) Der Kläger, dessen Aufenthalt im Bundesgebiet nach bestandskräftiger Ausweisung geduldet wird, ist aufgrund der unanfechtbaren Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen (vgl. §§ 3, 4 AsylVfG), Flüchtling im Sinne dieser Bestimmung. Diese Rechtsstellung hat der Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung durch den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. August 2005 wegen der gemäß § 75 AsylVfG aufschiebenden Wirkung der vom Kläger hiergegen erhobenen Klage noch nicht beseitigt.
Der Kläger kann sich für den von ihm geltend gemachten Anspruch auch unmittelbar auf Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention berufen, der die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG durch Bundesgesetz zugestimmt hat. Nach der Rechtsprechung des Senats führt die Transformation eines völkerrechtlichen Vertrages durch ein Zustimmungsgesetz zur unmittelbaren Anwendbarkeit einer Vertragsnorm, wenn sie nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, dafür also keiner weiteren normativen Ausfüllung bedarf. Diese Voraussetzungen liegen bei Art. 28 GFK vor (vgl. Urteil vom 17. März 2004 – BVerwG 1 C 1.03 – BVerwGE 120, 206 ≪208 f.≫ m.w.N.).
Bei der Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention ist Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl 1985 II S. 926/1987 II S. 757) – WVRK – zwar nicht unmittelbar, aber als Ausdruck allgemeiner Regeln des Völkerrechts anwendbar (vgl. Art. 4 WVRK). Nach Art. 31 Abs. 1 WVRK ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zwecks auszulegen.
b) Die Vorschrift des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG steht weder der Anwendung des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK auf einen nach bestandskräftiger Ausweisung geduldeten Flüchtling von vornherein entgegen noch verengt sie – entgegen der vom Verwaltungsgerichtshof vertretenen Auffassung – das behördliche Ermessen dahingehend, dass die Ausstellung eines Flüchtlingsausweises ausscheidet (vgl. im Ergebnis auch das noch die Rechtslage nach dem AuslG 1965 betreffende Urteil vom 16. Oktober 1990 – BVerwG 1 C 51.88 – Buchholz 402.27 Art. 28 StlÜbk Nr. 2 = InfAuslR 1991, 76 zu Art. 28 Satz 2 StlÜbk).
Primärer Zweck des Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 GFK ist es, wie der Verwaltungsgerichtsgerichtshof zutreffend ausgeführt hat, dem Flüchtling grenzüberschreitende Reisen mit anschließender Rückkehr in das Land zu ermöglichen, das den Flüchtlingsausweis ausgestellt hat (vgl. Urteil vom 17. März 2004 – BVerwG 1 C 1.03 – a.a.O S. 212). Dementsprechend sieht § 13 Abs. 1 des Anhangs zur Genfer Flüchtlingskonvention auch die Verpflichtung jedes der vertragschließenden Staaten vor, dem Inhaber eines von ihm ausgestellten derartigen Reiseausweises die Rückkehr in sein Gebiet zu einem beliebigen Zeitpunkt während der Geltungsdauer des Ausweises zu gestatten. Der Einräumung eines derartigen mit der Ausstellung eines Konventions-Reiseausweises unabdingbar verknüpften Rückkehrrechts steht § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht entgegen.
Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Nach Satz 2 wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Für ausgewiesene Ausländer gilt daher ein – nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auf Antrag in der Regel zu befristendes – Verbot, in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zurückzukehren und sich dort aufzuhalten. Ausnahmen von diesen Sperrwirkungen bestehen nur aufgrund spezialgesetzlicher Vorschriften (vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: August 2005, § 11 AufenthG, Rn. 10). So kann dem betroffenen Ausländer nach Maßgabe von § 11 Abs. 2 AufenthG ausnahmsweise ein kurzfristiger Aufenthalt im Bundesgebiet erlaubt werden (sog. Betretenserlaubnis). Außerdem kann einem ausreisepflichtigen Ausländer unter den in § 25 Abs. 5 AufenthG genannten Voraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG erteilt werden. Ferner eröffnet § 37 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG in Wiederkehrerfällen ein Versagungsermessen hinsichtlich der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis u.a. für ausgewiesene Ausländer, schließt also eine Aufenthaltserlaubnis nicht aus. Das Ausländergesetz sah vergleichbare Ausnahmen von der nach § 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 bestehenden Sperrwirkung in § 9 Abs. 3, § 30 Abs. 4 (damals noch Aufenthaltsbefugnis) und § 16 Abs. 3 Nr. 1 vor.
Zu Unrecht meint der Verwaltungsgerichtshof, eine derartige spezialgesetzliche Regelung existiere nicht für die Gruppe der ausgewiesenen anerkannten Flüchtlinge, deren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich geduldet werde (vgl. UA S. 11). Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK stellt vielmehr eine derartige Sonderregelung für diesen Personenkreis dar. Die Ermächtigung zu einer Ermessensentscheidung über die Ausstellung oder Versagung eines Reiseausweises für die betroffenen Flüchtlinge umfasst zugleich die Befugnis der Ausländerbehörde, den Ausweis nach einer pflichtgemäßen Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen auch dann zu erteilen, wenn für den Ausländer an sich ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG besteht. Das gilt unbeschadet des weiter reichenden Verbots nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, einem ausgewiesenen Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, das die Ausweisausstellung nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK nicht hindert.
Diese Auslegung des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK folgt aus dessen Wortlaut und Zweck. Nach dem Wortlaut der Bestimmung können die vertragschließenden Staaten jedem anderen Flüchtling, der sich in ihrem Gebiet befindet, einen Reiseausweis ausstellen. “Anderer” Flüchtling im Sinne dieser Bestimmung ist derjenige, der keinen Anspruch auf Ausstellung eines Konventionsausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK hat. Der Wortlaut von Satz 2 lässt nicht erkennen, dass die Bestimmung generell nicht auf ausgewiesene Flüchtlinge anwendbar ist, die Abschiebungsschutz genießen und deshalb geduldet werden. Dagegen spricht auch der Zweck der Vorschrift (vgl. zur Berücksichtigung des Vertragszwecks Urteil vom 17. März 2004 – BVerwG 1 C 1.03 – a.a.O. S. 211 ff.), Konventionsflüchtlingen, die sich nicht rechtmäßig im Vertragsstaat aufhalten, grenzüberschreitende Reisen nach behördlichem Ermessen durch die Ausstellung eines Reiseausweises zu ermöglichen. Hierbei ist auch der typischerweise nicht nur kurzfristige Aufenthalt dieser Flüchtlinge zu berücksichtigen. Schließlich ergeben sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung keine Anhaltspunkte für eine andere Auslegung.
Auch aus den Regelungen zur Ausweisung von Flüchtlingen in Art. 32 GFK kann nicht geschlossen werden, dass Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK nicht auf ausgewiesene Flüchtlinge, deren Aufenthalt geduldet wird, anwendbar ist (so im Ergebnis auch Grahl-Madsen, Commentary on the Refugee Convention, Genf 1997, Art. 28 Anm. 8). Ebenso wenig folgt dies aus § 14 des Anhangs zur Genfer Flüchtlingskonvention. Danach berühren zwar die Bestimmungen des Anhangs in keiner Weise die Gesetze und Vorschriften der vertragschließenden Staaten über die Voraussetzungen u.a. für die Aufnahme und den Aufenthalt. Dies gilt aber nach dem beigefügten Vorbehalt nicht für die hier maßgebliche Rückkehrgarantie nach § 13 des Anhangs.
Im Übrigen ist davon auszugehen, dass § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (bisher: § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG) als einfaches Bundesgesetz im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden ist und hierbei der Tatsache, dass die Vorschrift später erlassen worden ist als die Genfer Flüchtlingskonvention, keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Anderes würde nur dann gelten, wenn der Gesetzgeber seinen Willen zur Derogation des transformierten völkervertraglichen Rechts mit aller Deutlichkeit herausgestellt hätte (vgl. Urteile vom 18. Mai 2000 – BVerwG 5 C 29.98 – BVerwGE 111, 200 ≪211≫ und vom 16. Dezember 1999 – BVerwG 4 CN 9.98 – BVerwGE 110, 203 ≪214≫; vgl. ferner BVerfGE 74, 358 ≪370≫). Es bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Anwendung des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK auf Fälle der vorliegenden Konstellation durch die späteren Regelungen des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG und des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausschließen wollte. Eine solche Absicht lässt sich auch aus dem vom Gesetzgeber mit diesen Regelungen verfolgten Zweck, ausgewiesene Ausländer vom Bundesgebiet fernzuhalten (vgl. BTDrucks 11/6321 S. 57 zu § 8 Abs. 2 AuslG), für zwar ausgewiesene, aber gleichwohl geduldete anerkannte Flüchtlinge nicht herleiten. Mit der Versagung des Reiseausweises würde nämlich deren Fernhaltung aus dem Bundesgebiet nicht erreicht (vgl. – allerdings nicht im Sinne einer Vorwirkung – künftig auch Art. 25 Abs. 1 der bereits in Kraft getretenen, aber bisher nicht umgesetzten Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004, ABl vom 30. September 2004 L 304/12).
c) Ein Reiseausweis darf allerdings nicht erteilt werden, wenn zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen. Diese nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK vorgesehene Schranke muss erst recht im Rahmen von Satz 2 gelten. Liegen derartige zwingende Gründe vor, so fehlt es bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK.
Ob dies hier der Fall ist, hat der Verwaltungsgerichtshof bisher nicht geprüft. Zur Nachholung dieser Prüfung ist die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. Dieser wird zu beachten haben, dass die Bezugnahme auf “zwingende” Gründe und die Entstehungsgeschichte des ordre public-Vorbehalts eine restriktive Auslegung nahe legen (vgl. Urteil vom 17. März 2004 – BVerwG 1 C 1.03 – a.a.O.; Grahl-Madsen, a.a.O. Art. 28 Anm. 5 m.w.N.). Er wird in dem erneuten Berufungsverfahren zu klären haben, ob von dem Kläger auch unter Berücksichtigung der von ihm begangenen Straftaten und seiner früheren Einbindung in die verbotene PKK/ENRK – namentlich bezogen auf Auslandsreisen – Gefahren für die Sicherheit oder Ordnung ausgehen, welche zwingend der Ausweiserteilung entgegenstehen. In diesem Zusammenhang wird auch zu prüfen sein, ob sich der Kläger ausdrücklich und glaubhaft von der PKK und ihren Neben- und Nachfolgeorganisationen distanziert. Da die PKK jedenfalls in der Vergangenheit innerhalb und außerhalb der Türkei ihre politischen Ziele zumindest auch mit terroristischen Mitteln verfolgt hat (vgl. Urteil vom 15. März 2005 – BVerwG 1 C 26.03 – NVwZ 2005, 1203 Rn. 42 m.w.N.), wird sich der Verwaltungsgerichtshof zur Beurteilung einer möglicherweise von dem Kläger ausgehenden Terrorismusgefahr in Gestalt der Unterstützung der PKK weiter mit der Resolution des UN-Sicherheitsrats 1373 (2001) vom 28. September 2001 (in: Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrats 1. Januar 2001 bis 31. Juli 2002, S. 291 ff. = S/RES/1373, 2001) befassen müssen, nach der alle Staaten im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus aufgefordert werden, die Reisetätigkeit von Terroristen oder terroristischen Gruppen durch wirksame Grenzkontrollen und Kontrollen bei der Ausstellung von Ausweisen und Reisedokumenten zu verhindern (vgl. auch Urteil vom 17. März 2004 – BVerwG 1 C 1.03 – a.a.O.; vgl. ferner Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, Cambridge 2005, S. 865). Darüber hinaus werden die Beschlüsse des Rates der Europäischen Union über Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus zu berücksichtigen sein, nach denen die PKK in einer Liste der an terroristischen Handlungen beteiligten Personen, Vereinigungen und Körperschaften aufgeführt ist (vgl. Anhang unter 2. Nr. 21 zu dem Gemeinsamen Standpunkt 2005/220/GASP des Rates vom 14. März 2005 zur Aktualisierung des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2004/500/GASP, ABl 2005 L 069, S. 59).
d) Ergibt diese Prüfung, dass der Ausstellung eines Konventions-Reiseausweises an den Kläger keine zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen, so wird die Beklagte ihr Ermessen erneut auszuüben haben. Die in dem angegriffenen Bescheid enthaltenen Ermessenserwägungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Diese sind maßgeblich darauf gestützt, dass an dem dauernden Verbleib des Klägers im Bundesgebiet kein besonderes deutsches Interesse bestehe. Hierauf kommt es indessen nicht an, da die Ausstellung eines Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK nicht der Aufenthaltsverfestigung dient. Vielmehr sind die durch die Ausweisausstellung berührten öffentlichen und privaten Interessen (einschließlich des vom Kläger geltend gemachten Interesses an der Ermöglichung von Urlaubsreisen) gegenüberzustellen und abzuwägen. Dabei kann sich der Kläger nicht mit Erfolg auf die Wohlwollensklausel in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz GFK berufen, nach der die Vertragsstaaten ihre Aufmerksamkeit besonders jenen Flüchtlingen zuwenden, die sich in ihrem Gebiet befinden und nicht in der Lage sind, einen Reiseausweis von dem Staat zu erhalten, in dem sie ihren rechtmäßigen Aufenthalt haben. Es fehlt nämlich an einem Staat, in dem der Kläger sich rechtmäßig aufhält. Im Rahmen der Ermessenserwägungen zu berücksichtigen ist aber der erwähnte Vergleich zwischen dem Kläger und dem Land Baden-Württemberg im Ausweisungsverfahren, nach dem das Regierungspräsidium bei der zuständigen Ausländerbehörde im Juli 2007 bei straffreier Führung des Klägers auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hinwirken wird. Die Beklagte kann ferner den – noch nicht bestandskräftigen – Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung in ihre Ermessenserwägungen einstellen.
Unterschriften
Dr. Mallmann, Hund, Richter, Beck, Prof. Dr. Dörig
Fundstellen
Haufe-Index 1497679 |
BVerwGE 2006, 1 |
DÖV 2006, 564 |
ZAR 2006, 140 |
AuAS 2006, 139 |
DVBl. 2006, 713 |
GV/RP 2007, 422 |
NordÖR 2006, 64 |
FuBW 2007, 96 |
FuHe 2007, 169 |