Entscheidungsstichwort (Thema)
Vereinfachtes Berufungsverfahren. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Gerichtsbescheid. Stattgabe der Berufung zu Lasten des in erster Instanz durch Gerichtsbescheid obsiegenden Klägers
Leitsatz (amtlich)
Eine Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung im sog. vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO zu Lasten des Klägers ist unzulässig, wenn der Klage in erster Instanz durch Gerichtsbescheid stattgegeben wurde.
Normenkette
EMRK Art. 6 Abs. 1; VwGO § 130a
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OVG (Beschluss vom 29.05.2001; Aktenzeichen 4 L 4/95) |
VG Schleswig-Holstein (Entscheidung vom 13.12.1994; Aktenzeichen 5 A 733/93) |
Tenor
Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 29. Mai 2001 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste im August 1992 nach Deutschland ein und beantragte Asyl mit der Begründung, er befürchte, im Falle der Rückkehr in die Türkei wieder wie schon in den Jahren 1988 und 1989 wegen Unterstützung der PKK verhaftet und gefoltert zu werden. Er sei zwar nicht Mitglied der PKK und habe sich niemals an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt, sehe es aber als seine Pflicht an, als Kurde die PKK zu unterstützen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte die Gewährung von Asyl und Abschiebungsschutz nach §§ 51, 53 AuslG ab und drohte dem Kläger die Abschiebung in die Türkei an.
Der dagegen gerichteten Klage hat das Verwaltungsgericht durch Gerichtsbescheid vom 13. Dezember 1994 stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.
Im Verfahren über die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) hat der Berichterstatter die Beteiligten auf inzwischen ergangene rechtskräftige Grundsatzentscheidungen des Berufungsgerichts hingewiesen, nach denen der Senat die – vom Verwaltungsgericht noch bejahte – Frage, ob kurdische Volkszugehörige in der Türkei einer Gruppenverfolgung ohne inländische Fluchtalternative ausgesetzt seien, zwischenzeitlich verneint habe. Der Senat beabsichtige deshalb, der Berufung ohne mündliche Verhandlung im vereinfachten Verfahren nach § 130 a Satz 1 VwGO stattzugeben. Nach ergänzendem Vortrag des Klägers zu einer individuellen politischen Verfolgung hat der Berichterstatter die Beteiligten erneut angehört und darauf hingewiesen, dass der Senat an seiner Absicht festhalte, im Beschlussverfahren nach § 130 a VwGO zu entscheiden. Mit Beschluss vom 29. Mai 2001 hat das Berufungsgericht den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht die Revision zugelassen, weil der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel vorliege.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, die Berufungsentscheidung verletze sein Recht auf Gehör, weil ihm nicht Gelegenheit gegeben worden sei, sich wenigstens einmal im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor Gericht zu äußern.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Die Berufungsentscheidung verletzt Bundesrecht, weil das Oberverwaltungsgericht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss im sog. vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130 a Satz 1 VwGO entschieden hat, obwohl in erster Instanz keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat und der Kläger auch nicht auf mündliche Verhandlung verzichtet hatte. Die fehlerhafte Anwendung des Verfahrensrechts, die zugleich den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Nach § 130 a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Anwendung dieses vereinfachten Berufungsverfahrens verstößt zwar nicht bereits dann ohne weiteres gegen den Anspruch auf die Gewährung rechtlichen Gehörs nach § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG, wenn im Ausgangsverfahren keine mündliche Verhandlung vor Gericht stattgefunden hat. Entgegen der Auffassung der Revision verleiht das Grundrecht auf rechtliches Gehör keinen originären Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers, inwieweit er in einem bestimmten Verfahren einen Anspruch auf mündliche Verhandlung einräumt (vgl. Beschluss vom 22. Dezember 1998 – BVerwG 9 B 347.98 – Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 31 unter Berufung auf BVerfGE 5, 9, ≪11≫; 60, 175, ≪210 f.≫ und BVerwGE 57, 272 m.w.N.). Auch aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergibt sich hier kein Anspruch auf mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK in asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren der vorliegenden Art keine Anwendung findet (vgl. Beschluss vom 16. Juni 1999 – BVerwG 9 B 1084.98 – Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 40; Urteil vom 21. März 2000 – BVerwG 9 C 39.99 – BVerwGE 111, 69 ≪74≫ jeweils m.w.N.; vgl. jetzt auch EGMR, Große Kammer, Urteil vom 5. Oktober 2000 – Nr. 39652/98 – EZAR 939 Nr. 1 = InfAuslR 2001, 109 (LS), Fall Maaouia).
Ein Verfahrensmangel folgt aber daraus, dass das Berufungsgericht – wie es in seiner Abhilfeentscheidung selbst erkannt hat – § 130 a Satz 1 VwGO fehlerhaft ausgelegt und angewandt hat. Der Gesetzgeber hat nämlich – wie sich aus dem Zusammenhang mit § 84 Abs. 2 VwGO erschließt – das vereinfachte Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO nur unter der Voraussetzung zugelassen, dass in erster Instanz eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat oder dem Berufungskläger jedenfalls eröffnet war (ebenso: Bader in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 1999, § 130 a Rn. 6; Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 130 a Rn. 42; Happ in: Eyermann, VwGO, 11. Auflage 2000, § 130 a Rn. 6; Roth, EuGRZ 1998, 495 ≪507≫; zur Zulässigkeit einer Entscheidung nach § 130 a VwGO nach Verzicht auf mündliche Verhandlung in erster Instanz vgl. Urteil vom 22. Januar 1998 – BVerwG 2 C 4.97 – Buchholz 310 § 161 VwGO Nr. 113 = NVWZ 1999, 404; Beschluss vom 9. Juni 1999 – BVerwG 9 B 257.99 – ≪juris≫). Eine Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach § 130 a VwGO zu Lasten des Klägers ist danach unzulässig, wenn der Klage – wie hier – in erster Instanz durch Gerichtsbescheid stattgegeben wurde.
In § 130 a Satz 1 VwGO a.F. (bis Ende 1996 geltende alte Fassung des Vierten Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung – 4. VwGOÄndG – vom 7. Dezember 1990, BGBl I S. 2809) war ausdrücklich bestimmt, dass das Oberverwaltungsgericht „außer in den Fällen des § 84 Abs. 2 Nr. 1” VwGO a.F. im vereinfachten Berufungsverfahren entscheiden und die Berufung – wie damals nur vorgesehen – durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückweisen durfte. War dagegen im Sinne von § 84 Abs. 2 Nr. 1 VwGO a.F. ein Gerichtsbescheid ergangen und dagegen Berufung eingelegt worden, sollte die Ermächtigung zur Zurückweisung der Berufung nach § 130 a VwGO a.F. nicht gelten. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber das damals neu in Dauerrecht übernommene vereinfachte Berufungsverfahren stets ausgeschlossen, wenn sich die Berufung gegen einen Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts richtete (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs eines 4. VwGOÄndG zu § 130 a, BRDrucks 135/90 S. 96). Dadurch war zugleich sichergestellt, dass die Beteiligten jedenfalls in einer Instanz eine mündliche Verhandlung erzwingen konnten.
Diese Zielsetzung liegt unverändert auch dem erweiterten § 130 a VwGO (in der seit 1. Januar 1997 geltenden Fassung des Sechsten Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze – 6. VwGOÄndG – vom 1. November 1996, BGBl I S. 1626) zugrunde. Zwar enthält § 130 a Satz 1 VwGO keinen ausdrücklichen Ausnahmevorbehalt mehr für den Fall einer erstinstanzlichen Entscheidung durch Gerichtsbescheid. Diese Änderung steht jedoch in Zusammenhang mit der Einführung der Zulassungsberufung und der gleichzeitig vorgenommenen Neuordnung der Rechtsbehelfe gegen Gerichtsbescheide in § 84 Abs. 2 VwGO (vgl. Beschluss vom 15. Dezember 1999 – BVerwG 5 B 38.99 – ≪juris≫). Danach können die Beteiligten nunmehr gegen einen Gerichtsbescheid entweder Zulassung der Berufung oder mündliche Verhandlung beantragen. Die alte Fassung trug dem Anliegen, dass zumindest in einer Instanz über das Rechtsschutzbegehren mündlich verhandelt wird, dadurch Rechnung, dass ein vereinfachtes Berufungsverfahren bei Ergehen eines Gerichtsbescheids ausgeschlossen und demnach in diesen Fällen im Berufungsverfahren mündlich zu verhandeln war. Die neue Fassung verlagert die Gewährleistung mindestens einer mündlichen Verhandlung in das erstinstanzliche Verfahren (vgl. § 84 Abs. 2 VwGO). Ist eine Berufung (wie hier gem. § 78 Abs. 2 AsylVfG) nicht ausgeschlossen, so können die Beteiligten nunmehr innerhalb eines Monats – in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz innerhalb von zwei Wochen (§ 78 Abs. 7 AsylVfG) – nach Zustellung des Gerichtsbescheids die Zulassung der Berufung oder mündliche Verhandlung beantragen; wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt (§ 84 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Nach der Begründung des Regierungsentwurfs sollte künftig auf diese Weise das Verfahrensprinzip der öffentlichen (mündlichen) Verhandlung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK allgemein und ohne Rücksicht auf seine Anwendbarkeit im Einzelfall gewahrt werden (vgl. BTDrucks 13/3993 S. 12 zu § 84 VwGO und Beschluss vom 15. Dezember 1999 a.a.O.). Nur dem trägt die Streichung des früheren Ausnahmevorbehalts in § 130 a Satz 1 VwGO Rechnung (vgl. Beschluss vom 7. Mai 1998 – BVerwG 3 B 208.97 – Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 25).
Das verbietet eine Auslegung und Anwendung des § 130 a VwGO, die – wie im Ausgangsverfahren – dazu führt, dass der Berufung (hier des beteiligten Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten) zu Lasten des Klägers im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung stattgegeben wird, obwohl der Kläger in erster Instanz durch Gerichtsbescheid obsiegt hat und keine Möglichkeit hatte, eine mündliche Verhandlung zu erzwingen. Denn für den Kläger war es in dieser Situation mangels einer Beschwer nicht statthaft, einen Antrag auf mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nach § 84 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu stellen; dazu wären nur die in erster Instanz unterlegene Beklagte (oder der Bundesbeauftragte als Vertreter eines öffentlichen Interesses auch ohne Beschwer) befugt gewesen. Ob eine andere Beurteilung angebracht sein könnte, wenn der in erster Instanz nur teilweise obsiegende Kläger wegen seines (Teil-)Unterliegens seinerseits die Zulassung der Berufung beantragt, anstatt einen Antrag auf mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zu stellen und deren Durchführung so für das gesamte Verfahren – auch für das Rechtsmittel der Gegenseite – zu erzwingen (vgl. § 84 Abs. 2 Nr. 1 Halbs. 2 VwGO), kann offen bleiben (ebenso Beschluss vom 2. August 2000 – BVerwG 9 B 338.00 –). Hat ein Beteiligter – wie hier der Kläger – in der ersten Instanz durch Gerichtsbescheid obsiegt, so darf ihm dieser Prozesserfolg in der Berufungsinstanz nicht durch einen Beschluss im vereinfachten Verfahren nach § 130 a VwGO genommen werden; insoweit bedarf es einer teleologisch reduzierten Auslegung und Anwendung des § 130 a Satz 1 VwGO.
Dieses Auslegungsergebnis gilt auch für Rechtsstreitigkeiten im Asyl- und Ausländerrecht. Die Gestaltung des vereinfachten Berufungsverfahrens unter Berücksichtigung der Rechtsbehelfe gegen Gerichtsbescheide nach § 130 a, § 84 Abs. 2 VwGO ist nach dem Willen des Gesetzgebers allgemein an Art. 6 Abs. 1 EMRK orientiert. Das ist bei der Handhabung des § 130 a VwGO unabhängig davon zu beachten, ob Gegenstand des konkreten Verwaltungrechtsstreits eine „zivilrechtliche” Streitigkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist oder nicht.
Der Gesetzgeber hat durch die Vorschriften über das vereinfachte Berufungsverfahren und über die Rechtsbehelfe gegen Gerichtsbescheide zugleich das rechtliche Gehör im Verwaltungsprozess ausgestaltet. Die verfahrensfehlerhafte Anwendung des Beschlussverfahrens nach § 130 a VwGO verletzt daher regelmäßig zugleich den Anspruch auf die Gewährung rechtlichen Gehörs nach § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. das Urteil vom 21. März 2000 a.a.O. BVerwGE 111, 69 ≪73, 77≫).
Das Oberverwaltungsgericht hätte danach im vorliegenden Verfahren nicht ohne mündliche Verhandlung im vereinfachten Berufungsverfahren durch Beschluss entscheiden dürfen. Da die Entscheidung auf dem Verstoß beruht (§ 138 Nr. 3 VwGO), ist die Sache ohne weitere Prüfung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Hund, Richter, Beck, Dr. Eichberger
Fundstellen
NJW 2002, 3119 |
BVerwGE, 123 |
ZAP 2002, 810 |
DÖV 2002, 664 |
AuAS 2002, 144 |
BayVBl. 2003, 218 |
DVBl. 2002, 1046 |