Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindungswirkung eines Kammerbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Zugehörigkeit zu einer jüdischen Kultusgemeinde bei Bekenntniserklärung „mosaisch” im meldebehördlichen Anmeldeformular
Leitsatz (amtlich)
1. Hebt das Bundesverfassungsgericht eine fachgerichtliche Entscheidung wegen eines Grundgesetzverstoßes auf und verweist die Sache an das Fachgericht zurück, ist dieses bei seiner erneuten Entscheidung an die Feststellung des Grundrechtsverstoßes gebunden. Es darf die aufgehobene Entscheidung nicht für grundgesetzkonform erklären. Dies gilt unabhängig davon, auf welche Gründe das Bundesverfassungsgericht den Grundrechtsverstoß gestützt hat.
2. Die Bindungswirkung der Feststellung des Grundrechtsverstoßes durch das Bundesverfassungsgericht hindert das Fachgericht auch daran, unter Berufung auf die EMRK (juris: MRK) zu einem davon abweichenden Ergebnis zu kommen. Die EMRK kann dann nicht als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite des Grundrechtes herangezogen werden.
Leitsatz (redaktionell)
Umfangreiche Ausführungen zur Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft mit Wirkung für das staatliche Recht mit Betrachtung der negativen Bekenntnisfreiheit, der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft und objektiven Betrachtung der Mitgliedschaft unter Einbeziehung der EMRK als Entscheidungsmaßstab für nationale Gerichte mit Vorrang des Grundgesetzes bei unauflöslicher Kollisionslage mit der EMRK und der Frage der Anwendbarkeit der Europäischen Grundrechte-Charta.
Normenkette
GG Art. 4 Abs. 1-2, Art. 140; WRV Art. 137 Abs. 3, 6; MRK Art. 9; EUGrdRCh Art. 51 Abs. 1-2; GG Art. 4; WRV Art. 137 Abs. 3 S. 1; MeldeG HE § 3 Abs. 1 Nr. 11; EMRK Art. 9; EUGrdRCh Art. 51; BVerfGG § 31
Verfahrensgang
Hessischer VGH (Urteil vom 19.05.2009; Aktenzeichen 10 A 2079/07) |
VG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 20.09.2005; Aktenzeichen 11 E 1452/04(1)) |
Nachgehend
Tatbestand
Rz. 1
Die Kläger wollen festgestellt wissen, dass sie in der Zeit vom 8. November 2002 bis zum 31. Oktober 2003 nicht mit Wirkung für das staatliche Recht Mitglieder der Beklagten geworden sind.
Rz. 2
Die beklagte jüdische Gemeinde ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts berechtigt, von ihren Mitgliedern Steuern zu erheben. Sie versteht sich als Einheitsgemeinde für ihr Gemeindegebiet mit dem Anspruch, alle religiösen Strömungen des Judentums zu vertreten. Die seit 1969 verheirateten Kläger sind französische Staatsangehörige. Sie geben an, der liberalen Glaubensrichtung des Judentums verbunden zu sein. Die Klägerin zu 2 war bis zu ihrem Wegzug nach Frankreich in den 1960er Jahren ebenso wie ihre Eltern Mitglied der Beklagten. Nachdem die Kläger am 8. November 2002 aus Frankreich in den örtlichen Bereich der Beklagten umgezogen waren, trugen sie im meldebehördlichen Anmeldeformular unter der Rubrik "Religion" übereinstimmend "mosaisch" ein. Aufgrund dessen begrüßte sie die Beklagte ungefähr ein halbes Jahr später schriftlich als neue Mitglieder; zugleich übersandte sie ein Exemplar der nicht veröffentlichten Gemeindesatzung. Die Kläger protestierten; sie seien sich nicht darüber im Klaren gewesen, dass die Bezeichnung "mosaisch" bei der Anmeldung ihres neuen Wohnsitzes gegenüber der Meldebehörde als Erklärung der Mitgliedschaft bei der Beklagten gewertet werde. Sie seien Mitglieder ihrer französischen Gemeinde geblieben und wollten nicht der Beklagten angehören, die durch die orthodoxe Glaubensrichtung geprägt sei. Bei rechtzeitiger Mitteilung über die Folgen ihrer Angaben hätten sie von der in der Satzung der Beklagten eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Mitgliedschaft innerhalb von drei Monaten nach dem Zuzug abzulehnen. Die Beklagte gab an, nach ihrer Praxis sei eine Wiedereinsetzung in diese Frist nicht möglich. Schließlich traten die Kläger mit Wirkung zum 31. Oktober 2003 aus der Beklagten aus. Diese macht Steuerforderungen gegen die Kläger für die Zeit vom 8. November 2002 bis zum 31. Oktober 2003 geltend.
Rz. 3
Die Vorinstanzen haben die Feststellungsklagen abgewiesen; das Bundesverwaltungsgericht hat ihnen durch Revisionsurteil vom 23. September 2010 - 7 C 22.09 - (Buchholz 11 Art. 140 GG Nr. 79) stattgegeben. Auf die Verfassungsbeschwerde der Beklagten hat das Bundesverfassungsgericht durch Kammerbeschluss vom 17. Dezember 2014 - 2 BvR 278/11 - (NVwZ 2015, 517) festgestellt, dass dieses Urteil die Beklagte in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung verletze. Das Bundesverfassungsgericht hat das Revisionsurteil aufgehoben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen. In den Gründen des Kammerbeschlusses heißt es, die Kläger hätten ihren Willen, der Beklagten anzugehören, aus der Sicht eines unbeteiligten Dritten hinreichend manifestiert. Durch die Angaben "mosaisch" im Meldeformular hätten sie ein vorbehaltloses Bekenntnis zur jüdischen Religion abgelegt. Die Bezeichnung "mosaisch" sei ein Synonym für "jüdisch". Die Verbundenheit mit einer bestimmten Glaubensrichtung lasse die Religionszugehörigkeit unberührt. Aufgrund der jüdischen Glaubenspraxis begründe das religiöse Bekenntnis zum Judentum die widerlegliche Vermutung, Mitglied der örtlichen jüdischen Gemeinde zu sein. Es gebe im Judentum keine überörtlichen religiösen Autoritäten. Das Bekenntnis zum Judentum werde in der Gemeinde gelebt; diese sei zentraler Ort des religiösen und des sozialen Lebens. Auch habe die Klägerin zu 2 aus Anlass ihres Wegzugs nach Frankreich nicht zu erkennen gegeben, ihre Mitgliedschaft bei der Beklagten beenden zu wollen.
Rz. 4
Die Kläger verfolgen die Revisionen weiter. Sie machen nunmehr vor allem geltend, die staatliche Anerkennung der Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft, die ausschließlich auf der objektiven Manifestation eines tatsächlich nicht vorhandenen Mitgliedschaftswillens beruhe, lasse sich nicht mit den Gewährleistungen der Religionsfreiheit in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art. 10 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union (EUGRCh) vereinbaren. Das staatliche Recht dürfe eine Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft nicht anerkennen, wenn sie nicht vom Willen des Betroffenen getragen sei.
Rz. 5
Nach Auffassung der Beklagten trägt der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts ihrem grundgesetzlich garantierten Selbstbestimmungsrecht Rechnung. Die Religionsfreiheit der Kläger sei durch die Austrittsmöglichkeit gewahrt. Das Schutzniveau der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK entspreche demjenigen des Grundgesetzes. Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union sei nicht anwendbar, weil der Sachverhalt keine unionsrechtlichen Bezüge aufweise.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die zulässigen Revisionen der Kläger sind nicht begründet. Das Berufungsurteil, nach dem die Kläger vom 8. November 2002 bis zum 31. Oktober 2003 mit Wirkung für das staatliche Recht Mitglieder der Beklagten waren, beruht nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1, § 144 Abs. 2 VwGO).
Rz. 7
Für das weitere Revisionsverfahren ist davon auszugehen, dass die staatliche Anerkennung dieser Mitgliedschaft bei der Beklagten die Kläger nicht in ihrem Grundrecht auf Freiheit des religiösen Bekenntnisses nach Art. 4 Abs. 1 GG verletzt. Insoweit entfaltet der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2014 - 2 BvR 278/11 - (NVwZ 2015, 517) Bindungswirkung (unter 1.). Die Frage, ob diese Mitgliedschaft mit der Gewährleistung der Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar ist, war nicht Gegenstand der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts (unter 2.). Der Senat hält diese Vereinbarkeit für fraglich (unter 3.). Dies braucht letztlich nicht vertieft zu werden, weil der Senat aufgrund der Bindungswirkung des Kammerbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts für die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes gehindert wäre, einer Konventionsverletzung Rechnung zu tragen (unter 4.). Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar (unter 5.)
Rz. 8
1. Nach § 31 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 - BVerfGG - (BGBl. I S. 1473) binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Zu diesen Entscheidungen gehören auch Beschlüsse einer Kammer des Bundesverfassungsgerichts, durch die einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben wird, weil ein solcher Beschluss nach § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG einer Entscheidung des Senats gleichsteht. Die Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG soll eine verbindliche einheitliche Auslegung des Grundgesetzes sicherstellen. Daher beansprucht sie über den entschiedenen Fall hinaus Geltung in allen künftigen Fällen. Sie umfasst den Tenor der Entscheidung, d.h. die nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zu treffende Feststellung, welche Vorschrift des Grundgesetzes durch welche Handlung oder Unterlassung verletzt wurde. Darüber hinaus erstreckt sich die Bindungswirkung auf die den Feststellungsausspruch tragenden Gründe, soweit diese Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes betreffen. Rechtssätze dieses Inhalts geben auch Maßstäbe und Grenzen für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts vor (stRspr; vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10. Juni 1975 - 2 BvR 1018/74 - BVerfGE 40, 88 ≪93 f.≫ und vom 16. März 2005 - 2 BvL 7/00 - BVerfGE 112, 268 ___LT_e˘_GT___).
Rz. 9
Die Bindung an den Feststellungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bewirkt im Fall der Zurückverweisung der Sache an das Fachgericht nach § 95 Abs. 2 BVerfGG, dass dieses die festgestellte Verletzung des Grundgesetzes seiner erneuten Entscheidung jedenfalls bei unveränderter Sach- und Rechtslage im Ergebnis zugrunde legen muss. Es darf dem Feststellungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts im Ergebnis nicht widersprechen. Daraus folgt zwangsläufig, dass das Fachgericht die vom Bundesverfassungsgericht nach § 95 Abs. 2 BVerfGG als grundgesetzwidrig aufgehobene Entscheidung nicht für grundgesetzkonform erklären darf. Diese Bindung an den Tenor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts besteht unabhängig von dem Inhalt der ihn tragenden Gründe. Sie hindert das Fachgericht daran, den Einwendungen des beim Bundesverfassungsgericht unterlegenen Beteiligten gegen das Vorliegen der festgestellten Grundrechtsverletzung Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Juni 2006 - 2 BvR 537/05 - NJW 2006, 3199; OLG München, Urteil vom 7. Oktober 1998 - 21 U 3506/98 - NJW-RR 1999, 964; Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Mitarbeiterkommentar, 2. Auflage, § 95 Rn. 76).
Rz. 10
Das bedeutet für die erneute Entscheidung über die Revisionen der Kläger: Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Tenor des Kammerbeschlusses vom 17. Dezember 2014 - 2 BvR 278/11 - (NVwZ 2015, 517) festgestellt, dass das Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. September 2010 - 7 C 22.09 - (Buchholz 11 Art. 140 GG Nr. 79) die Beklagte in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV verletzt. Damit hat das Bundesverfassungsgericht die Feststellung in dem Tenor des Revisionsurteils, die Kläger seien vom 8. November 2002 bis zum 31. Oktober 2003 nicht mit Wirkung für das staatliche Recht Mitglieder der Beklagten geworden, für grundgesetzwidrig erklärt. Da dieser Ausspruch nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindet, darf der Senat die gegensätzliche Feststellung des ersten Revisionsurteils nicht wiederholen. Vielmehr muss er für die erneute Entscheidung über die Revisionen der Kläger davon ausgehen, dass nur deren Mitgliedschaft bei der Beklagten während des fraglichen Zeitraums dem Grundgesetz entspricht.
Rz. 11
2. Die Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG gilt nicht für Fragen, die Auslegung und Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) betreffen. Diese ist Bestandteil der deutschen Rechtsordnung im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (Gesetz vom 7. August 1952, BGBl. II S. 685 in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002, BGBl. II S. 1054). Die Europäische Menschenrechtskonvention ist nicht Gegenstand der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren der Verfassungsbeschwerde; das Gericht misst die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Handlungen und Unterlassungen nicht an ihrer Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dies folgt aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG, die bestimmen, dass eine Verfassungsbeschwerde nur darauf gestützt werden kann, durch die öffentliche Gewalt in einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht des Grundgesetzes verletzt zu sein. Dem entspricht, dass der Tenor der einer Verfassungsbeschwerde stattgebenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nur die Feststellung enthält, welche Vorschrift des Grundgesetzes verletzt wurde. Auch der Normzweck des § 31 Abs. 1 BVerfGG steht einer Erstreckung der Bindungswirkung auf Aussagen zur Europäischen Menschenrechtskonvention entgegen. Wie unter 1. dargelegt, soll die Regelung gewährleisten, dass das Grundgesetz nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts einheitlich ausgelegt und angewandt wird. Demgegenüber ist maßgebender Interpret der Europäischen Menschenrechtskonvention der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR); dessen Rechtsprechung kommt eine Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zu (BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 - BVerfGE 111, 307 ≪320≫; Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. - BVerfGE 128, 326 ≪368 f.≫). Folgerichtig enthält der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2014 keine konventionsrechtlichen Ausführungen.
Rz. 12
Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Rechtsprechung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention befasst, um inhaltliche Kollisionen zwischen dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention, die durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervorgerufen worden sind, aufzulösen. Zwar steht die Europäische Menschenrechtskonvention als Bundesgesetz in der innerstaatlichen Normenhierarchie unter dem Grundgesetz. Jedoch ist die Bundesrepublik völkervertragsrechtlich verpflichtet, der Europäischen Menschenrechtskonvention innerstaatlich Geltung zu verschaffen. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und dessen Bekenntnis zu den allgemeingültigen Menschenrechten die Verpflichtung her, die Aussagen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Bedeutungsgehalt der Europäischen Menschenrechtskonvention in die Auslegung des Grundgesetzes einzupassen (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. - BVerfGE 128, 326 ≪369 ff.≫). Dabei stellt es die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht in Frage, sondern berücksichtigt sie bei der Auslegung des Grundgesetzes. Es zieht den Text der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes heran, soweit dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 - BVerfGE 111, 307 ≪320≫; Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. - BVerfGE 128, 326 ≪368 f.≫).
Rz. 13
3. Demgegenüber haben die Fachgerichte bei ihrer Rechtsanwendung die Europäische Menschenrechtskonvention als unmittelbar anwendbares Bundesrecht zu beachten. Sie sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Befugnisse die Europäische Menschenrechtskonvention bei der Auslegung des innerstaatlichen Rechts zu berücksichtigen, soweit dies methodisch vertretbar erscheint (BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 - BVerfGE 111, 307 ≪327 f.≫; BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2014 - 2 C 1.13 - BVerwGE 149, 117 Rn. 53 f.).
Rz. 14
a) Nach Art. 9 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Unterricht, Gottesdienst oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. Nach Art. 9 Abs. 2 EMRK darf die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Rz. 15
Art. 9 Abs. 1 EMRK schützt die Freiheit, einer Religion anzugehören oder nicht, sowie die Freiheit, eine Religion zu praktizieren oder nicht (EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 18. Februar 1999 - 24645/94 - NJW 1999, 2957 Rn. 34 und 39; Urteil der Großen Kammer vom 18. März 2011 - 30814/06 - NVwZ 2011, 737 Rn. 60). Dementsprechend genießt den Schutz des Art. 9 Abs. 1 EMRK auch die Freiheit, einer Religionsgemeinschaft beizutreten, fernzubleiben und sie jederzeit zu verlassen. Hierbei handelt es sich um freie Willensentscheidungen, die keiner Begründung bedürfen (vgl. Walter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Band I, Kapitel 17, Rn. 87). Aus diesen Gewährleistungen folgt zwangsläufig, dass die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft vom Willen des Betroffenen getragen sein muss. Art. 9 Abs. 1 EMRK bietet jedermann Schutz davor, ohne Rücksicht auf seinen Willen von einer Religionsgemeinschaft als Mitglied vereinnahmt zu werden. Die Konventionsstaaten dürfen eine solche, aus der Sicht des Betroffenen unfreiwillige religionsgemeinschaftliche Mitgliedschaft für ihren Rechtskreis nicht anerkennen. Dies gilt auch angesichts der von Art. 9 Abs. 1 EMRK erfassten kollektiven Religionsfreiheit der Religionsgemeinschaften, die sie berechtigt, ihre inneren Angelegenheiten unabhängig von staatlicher Einflussnahme nach ihrem religiösen Selbstverständnis zu regeln (EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 26. Oktober 2000 - 30985/96 -, wiedergegeben bei Walter, a.a.O., Rn. 110). Der Anspruch der Religionsgemeinschaften gegen die Konventionsstaaten auf Beachtung und Schutz ihrer autonomen Regelungsmacht besteht, soweit diese gegenüber Personen ausgeübt wird, die der Religionsgemeinschaft bewusst angehören. Nicht geschützt ist die Vereinnahmung von Personen als Mitglieder ohne deren Wissen und Willen, auch wenn dies nach dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft geboten sein sollte. Insoweit entspricht das Schutzniveau des Art. 9 Abs. 1 EMRK demjenigen des Art. 4 Abs. 1 GG.
Rz. 16
Die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft ist freiwillig, d.h. vom Willen getragen, wenn der Betroffene (oder bei religionsunmündigen Minderjährigen die Sorgeberechtigten) den Mitgliedschaftswillen gegenüber der Religionsgemeinschaft durch einen religiösen Bekenntnisakt oder durch eine schlichte Erklärung bekundet hat. Darüber hinaus liegt Freiwilligkeit vor, wenn die nach außen erkennbare Manifestation der Mitgliedschaft von einem entsprechenden Erklärungsbewusstsein gedeckt ist. Dies ist etwa der Fall, wenn der Betroffene weiß und hinnimmt, dass ihn die Religionsgemeinschaft als ihr Mitglied ansieht. Hier liegt jeweils eine Willensentscheidung für die Mitgliedschaft vor, von der sich der Betroffene mit Wirkung für das staatliche Recht durch Austritt für die Zukunft lösen kann. Dagegen fehlt es an der erforderlichen Willensentscheidung, wenn der Betroffene gar nicht weiß, dass er aufgrund einer Würdigung seines Verhaltens aus der Sicht eines objektiven Dritten als Mitglied angesehen wird. Hier wird dem Betroffenen eine Mitgliedschaft zugerechnet, ohne dass eine darauf gerichtete Willensentscheidung vorliegt (vgl. Kuntze, ZevKR 61 ≪2016≫, 86 ≪93 f.≫). Aufgrund dessen stellt es einen Eingriff in den Schutzbereich der Bekenntnisfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 EMRK dar, wenn das staatliche Recht jemanden aufgrund der objektiven Manifestation eines tatsächlich nicht vorhandenen Mitgliedschaftswillens als Mitglied einer Religionsgemeinschaft behandelt.
Rz. 17
b) Der Senat hält es für zweifelhaft, ob der Eintrag "mosaisch" der Kläger im Meldeformular gegenüber der Stadt Frankfurt a.M. für einen objektiven Dritten bei Kenntnis der besonderen Umstände des Falles den Schluss zulässt, die Kläger hätten erklärt, Mitglieder der Beklagten zu sein oder dieser beizutreten. Zwar ist davon auszugehen, dass sich Personen typischerweise darüber im Klaren sind, welche Bedeutung der Frage nach der rechtlichen Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bei der Anmeldung des neuen Wohnsitzes zukommt. Daher kann im Regelfall die Angabe einer der im Meldeformular aufgeführten Religionsgemeinschaften als Bekenntnis gewertet werden, deren Mitglied zu sein. Fraglich ist jedoch, ob auch Personen, die wie die Kläger vor dem Umzug nach Deutschland ihr gesamtes Leben oder mehrere Jahrzehnte in einem Land mit strikter Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften verbracht haben, damit rechnen müssen, dass Angaben gegenüber der staatlichen Meldebehörde als rechtsverbindliche Erklärungen des Beitritts zu einer Religionsgemeinschaft gewertet werden.
Rz. 18
Diese Zweifel werden hier durch fallbezogene Besonderheiten verstärkt: Aus dem von ihnen ausgefüllten Meldeformular ergibt sich, dass die Kläger entgegen der nicht nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden, weil aktenwidrigen Feststellung des Berufungsgerichts nicht, wie meldegesetzlich zwingend vorgeschrieben, nach der rechtlichen Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, sondern stattdessen nach ihrer Religion gefragt wurden (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 11 des Melderechtsrahmengesetzes a.F., § 3 Abs. 1 Nr. 11 des Hessischen Meldegesetzes; seit 1. November 2015: § 3 Abs. 1 Nr. 11 BMG). Die Fragestellung nach der Religion legt nahe, dass sich die Kläger durch ihre Antwort "mosaisch" zur jüdischen Religion als solcher bekennen, nicht aber zugleich der Beklagten als der örtlichen jüdischen Einheitsgemeinde beitreten wollten. Nach dieser Mitgliedschaft wurden die Kläger nicht gefragt. Es erscheint zweifelhaft, ob ein ohne konkretisierenden Zusatz abgegebenes Bekenntnis, einer Religion anzugehören, zugleich als Bekenntnis zu einer bestimmten Konfession, einer Glaubensrichtung oder einer örtlichen Gemeinschaft dieser Religion interpretiert werden kann. Das Bekenntnis zu der Religion bietet für sich genommen keine Handhabe, um den Erklärenden einer Gemeinschaft innerhalb dieser Religion zuzuordnen. So geht aus der Angabe "christlich" nicht hervor, welcher christlichen Konfession oder Gemeinde der Erklärende angehört. Zwar ist nach jüdischem Selbstverständnis für gläubige Juden die Gemeinde Kern und Bezugspunkt des religiösen Lebens (BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 2014 - 2 BvR 278/11 - NVwZ 2015, 517 Rn. 71). Das Bekenntnis zum Judentum lässt eine Zuordnung zu einer örtlichen Gemeinde aber dann nicht ohne weiteres zu, wenn an einem Ort außerhalb der Einheitsgemeinde weitere jüdische Religionsgemeinschaften bestehen, etwa solche, die nicht als steuererhebungsberechtigte Körperschaften des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 und 6 WRV anerkannt sind. Der Anspruch der Einheitsgemeinde, alle Juden in ihrem Gemeindegebiet zu vertreten, vermag nichts daran zu ändern, dass es diesen nach staatlichem Recht freisteht, ob sie sich der Einheitsgemeinde oder einer anderen jüdischen Gemeinschaft anschließen.
Rz. 19
Auch ist fraglich, ob Kern und Bezugspunkt des religiösen Lebens für gläubige Juden stets die Gemeinde sein muss, in deren Gebiet sich ihr Wohnsitz befindet. So kann jemand nach einem Umzug weiterhin der Gemeinde des früheren Wohnsitzes angehören wollen. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Betroffene an dem bisherigen Wohnsitz eine Nebenwohnung beibehält oder sich dort zeitweilig aufhält. So lässt die Satzung der Beklagten eine Mitgliedschaft auch nach dem Wegzug aus dem Gemeindegebiet zu, wenn der Betroffene eine entsprechende Erklärung abgibt.
Rz. 20
c) Die Religionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 EMRK steht unter Schrankenvorbehalt: Einschränkungen sind konventionsrechtlich gerechtfertigt, wenn die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 EMRK vorliegen.
Rz. 21
Eine Einschränkung ist gesetzlich vorgesehen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 EMRK, wenn sie im Recht des jeweiligen Konventionsstaates angelegt ist. Die nationale Rechtsgrundlage, auf die sie gestützt ist, muss öffentlich zugänglich und hinreichend bestimmt sein; Richterrecht stellt eine geeignete Rechtsgrundlage dar, wenn das nationale Recht dies zulässt (EGMR, Entscheidung vom 15. Februar 2001 - 42393/98 - NJW 2001, 2871). Bei der Prüfung des Art. 9 Abs. 2 EMRK nimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Auslegung und Anwendung des Rechts der Konventionsstaaten durch deren nationale Gerichte hin, sofern sie ihm nicht willkürlich oder grundlegend rechtsstaatswidrig erscheinen (EGMR, Urteil vom 17. Februar 2011 - 12884/03 - NVwZ 2011, 1503 Rn. 58).
Rz. 22
Die weitere Voraussetzung, dass die Einschränkung notwendig sein muss, um eines der in Art. 9 Abs. 2 EMRK genannten Ziele zu erreichen, ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Der Gerichtshof erkennt das Interesse an der Durchsetzung von Anforderungen, die sich aus dem nationalen Staatskirchenrecht ergeben, grundsätzlich als berechtigtes Ziel an. Dadurch trägt er dem Umstand Rechnung, dass sich die konventionsrechtliche Religionsfreiheit innerhalb des Rahmens entfaltet, den das nationale, in den Konventionsstaaten sehr unterschiedlich gestaltete Staatskirchenrecht vorgibt. So stellt es ein berechtigtes Ziel im Sinne von Art. 9 Abs. 2 EMRK dar, die in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WRV verankerte Berechtigung von Religionsgemeinschaften zu gewährleisten, im Zusammenwirken mit der staatlichen Verwaltung von ihren Mitgliedern Steuern zu erheben. Daher handelt es sich bei der im deutschen Recht vorgesehenen Pflicht, die rechtliche Zugehörigkeit zu einer steuererhebungsberechtigten Religionsgemeinschaft in der Lohnsteuerkarte offenzulegen, um einen gerechtfertigten Eingriff in die Bekenntnisfreiheit (EGMR, Urteil vom 17. Februar 2011 - 12884/03 - NVwZ 2011, 1503 Rn. 55). Entsprechendes muss für die inhaltsgleiche meldegesetzliche Offenlegungspflicht bei der Anmeldung eines Wohnsitzes gelten.
Rz. 23
Davon ausgehend ist die Verhältnismäßigkeit der Einschränkung durch eine Gesamtwürdigung der Umstände des jeweiligen Falles zu bestimmen. Die Schwere und Tragweite der Einschränkung ist in das Verhältnis zu der Bedeutung des berechtigten Ziels zu setzen (EGMR, Urteil vom 17. Februar 2011 - 12884/03 - NVwZ 2011, 1503 Rn. 58 f.; Urteil der Großen Kammer vom 18. März 2011 - 30814/06 - NVwZ 2011, 737 Rn. 70 f.).
Rz. 24
d) Sieht man den Eintrag "mosaisch" der Kläger im Meldeformular als objektive Manifestation ihrer Mitgliedschaft bei der Beklagten an, hat der Senat Zweifel, ob diese Einschränkung der Bekenntnisfreiheit der Kläger nach den besonderen Umständen des Falles noch als verhältnismäßig im Sinne von Art. 9 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt werden kann. Nach ihrem Vortrag befanden sich die Kläger dann im Irrtum über den objektiven Erklärungsgehalt des Eintrags. Sie wussten nicht, dass sie dadurch erklärten, der Beklagten beizutreten. Als französische Staatsangehörige mit langjährigem Wohnsitz in Frankreich mussten sie mit einer derartigen Zuordnung nicht rechnen, zumal sie nicht nach der rechtlichen Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, sondern nach ihrer Religion gefragt wurden. Die Annahme liegt nahe, dass die Kläger die Tragweite des Eintrags "mosaisch" als Beitritt zu der Beklagten erst erkannten, als die Beklagte sie ungefähr ein halbes Jahr nach der Anmeldung des neuen Wohnsitzes als Mitglieder begrüßte. Hinzu kommt, dass die Beklagte durch diese späte Mitteilung den Klägern die in der Gemeindesatzung vorgesehene Möglichkeit genommen hat, die Mitgliedschaft innerhalb von drei Monaten nach dem Zuzug abzulehnen. Der Klägerin zu 2 kann auch nicht entgegengehalten werden, sie habe sich aus Anlass ihres Wegzugs nach Frankreich nicht von der Beklagten distanziert, der sie damals angehört habe. Denn nach der Satzung der Beklagten erlischt die Mitgliedschaft bei einem Wegzug ohne Zutun des Betroffenen, wenn dieser nicht erklärt, Mitglied bleiben zu wollen. In Anbetracht dieser Umstände wäre den Klägern die Möglichkeit einer rückwirkenden Anfechtung der objektiv manifestierten Mitgliedschaftserklärungen einzuräumen. Von einer solchen Möglichkeit hätten die Kläger rechtswirksam Gebrauch gemacht, weil sie der Mitgliedschaft bei der Beklagten unmittelbar nach Kenntnis davon widersprochen haben.
Rz. 25
4. Der Senat braucht über die Vereinbarkeit der Mitgliedschaft der Kläger bei der Beklagten mit Art. 9 Abs. 1 und 2 EMRK nicht abschließend zu entscheiden, weil es darauf nicht entscheidungserheblich ankommt. Er ist gehindert, die unter 3. dargelegten Erkenntnisse zur Bekenntnisfreiheit nach Art. 9 EMRK in die Auslegung der Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV einfließen zu lassen. Wie unter 1. dargelegt, steht deren Bedeutungsgehalt für das vorliegende Revisionsverfahren aufgrund des nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden Feststellungsausspruchs des Bundesverfassungsgerichts in dem Kammerbeschluss vom 17. Dezember 2014 - 2 BvR 278/11 - (NVwZ 2015, 517) fest. Hielte man eine Mitgliedschaft der Kläger bei der Beklagten vom 8. November 2002 bis zum 31. Oktober 2003 für unvereinbar mit Art. 9 EMRK, müsste dem Grundgesetz in seiner bindenden Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht wegen seines formal höheren Rangs Vorrang vor dem inhaltlich abweichenden Konventionsrecht eingeräumt werden.
Rz. 26
5. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der Fassung vom 12. Dezember 2007 - EUGRCh - (ABl. Nr. C 303 S. 1), deren Art. 10 die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit gewährleistet, ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Ob die am 7. Dezember 2000 proklamierte Charta wegen ihres Inkrafttretens am 1. Dezember 2009, (Gesetz zum Vertrag von Lissabon vom 8. Oktober 2008, BGBl. II S. 1038; s. die Bekanntmachung vom 13. November 2009, BGBl. II S. 1223) bereits unter intertemporalen Gesichtspunkten keine Anwendung findet, kann dahinstehen. Es fehlen jedenfalls die Voraussetzungen für ihre sachliche Anwendbarkeit. Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EUGRCh gilt die Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach Art. 51 Abs. 2 EUGRCh dehnt die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union aus; sie begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Daher ist das Recht der Mitgliedstaaten nur dann an den Grundrechten der Charta zu messen, wenn es durch Unionsrecht determiniert ist. Das Unionsrecht muss inhaltliche Vorgaben für die Gestaltung des nationalen Rechts enthalten, insbesondere Umsetzungspflichten statuieren. Darüber hinaus ist die Charta anwendbar, wenn Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - vom 9. Mai 2008 (ABl. Nr. C 115 S. 47) in Rede stehen (BVerfG, Urteil vom 24. April 2013 - 1 BvR 1215/07 - BVerfGE 133, 277 Rn. 88 ff.; BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2014 - 2 C 1.13 - BVerwGE 149, 117 Rn. 71).
Rz. 27
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor: Das deutsche Staatskirchenrecht ist nicht durch unionsrechtliche Vorgaben beeinflusst; es ist gegenüber dem Unionsrecht autonom. Die unionsrechtlichen Grundfreiheiten der Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV und der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV sind im vorliegenden Fall nicht beeinträchtigt. Die meldegesetzliche Pflicht, die rechtliche Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft offenzulegen, stellt keine normative Einschränkung dieser Grundfreiheiten dar, weil sie für alle Personen, die einen Wohnsitz in Deutschland begründen, gleichermaßen gilt. Auf die Staatsangehörigkeit kommt es nicht an. Anhaltspunkte für eine tatsächliche Schlechterstellung der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegenüber deutschen Staatsangehörigen bestehen nicht. Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union schützen regelmäßig nicht davor, durch die Wohnsitznahme in einem anderen Mitgliedstaat dort mit rechtlichen Regelungen konfrontiert zu werden, die im Staat des bisherigen Wohnsitzes nicht bestehen. Dies gilt jedenfalls für solche Regelungen, die nicht durch das Unionsrecht determiniert sind (vgl. EUGH, Urteil vom 12. Mai 1998 - C-336/96 [ECLI:EU:C:1998:221], Gilly/Directeur des services fiscaux du Bas Rhin -).
Rz. 28
6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO.
Fundstellen
NZG 2016, 5 |
DÖV 2017, 163 |
JZ 2017, 194 |
VR 2017, 104 |
BayVBl. 2016, 3 |
DVBl. 2016, 3 |
DVBl. 2017, 192 |
Kirche & Recht 2016, 278 |