Entscheidungsstichwort (Thema)
Eigentumsverzicht wegen Überschuldung des Grundstücks. Gesamtverzicht auf bebaute und unbebaute Grundstücke. unlautere Machenschaft. Täuschung. Nötigung. Buchgrundstück. Tatbestandswirkung
Leitsatz (amtlich)
War der Eigentümer eines mit vermieteten Räumen bebauten Grundstücks wegen einer ökonomischen Zwangslage zum Verzicht auf sein Eigentum zu Gunsten des Staates entschlossen und wurde die Genehmigung des Verzichts davon abhängig gemacht, dass der Eigentümer auf weitere Grundstücke verzichtete, kommt eine unlautere Machenschaft nicht in Form einer Täuschung, sondern nur in Form einer Nötigung bzw. des Machtmissbrauchs in Betracht.
In den Gesamtverzichtsfällen setzt eine unlautere Machenschaft in Gestalt einer Nötigung hinsichtlich der weiteren Grundstücke voraus, dass bezüglich des bebauten Grundstücks der Schädigungstatbestand des § 1 Abs. 2 VermG vorlag (ebenso: Urteil vom 24. Oktober 2001 – BVerwG 8 C 31.00 – zur Veröffentlichung in Buchholz unter 428 § 1 Abs. 2 VermG vorgesehen).
Normenkette
VermG § 1 Abs. 2-3
Verfahrensgang
VG Magdeburg (Entscheidung vom 23.05.2000; Aktenzeichen 7 A 292/98 MD) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. Mai 2000 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Klägerinnen wenden sich gegen die Restitution von landwirtschaftlich genutzten Flächen mit einer Gesamtgröße von 52,0514 ha an die Beigeladenen. Eigentümerin der Flächen war zuletzt Elisabeth S., die Mutter der Beigeladenen. Diese war zugleich Eigentümerin des nicht streitbefangenen und bereits an die Beigeladenen zurückübertragenen bebauten Grundstücks …straße 37 (Flurstück 455/139) mit einer Größe von 55 821 qm. Alle vorgenannten Flächen bildeten den Erbhof Nr. 37 in S.; der Einheitswert betrug 49 200 M; die Grundstücke waren unbelastet.
Das Flurstück 455/139 ist mit einem Anfang des 19. Jahrhunderts errichteten Zweifamilienhaus sowie landwirtschaftlichen Nebengebäuden bebaut. Das Wohnhaus wurde bis 1982 von der Mutter der Beigeladenen genutzt. Diese zog, nachdem ihr Ehemann verstorben war, zur Beigeladenen zu 1. Das Wohnhaus war daneben an drei Damen vermietet, die zunächst je Wohnung 20 bis 25 M zahlten und später anstelle der Mietzahlungen die notwendigen Instandhaltungen übernahmen.
Mit Datum vom 12. April 1982 beantragte die Mutter der Beigeladenen die Übernahme des Wohngebäudes. Sie sei mit ihren Einkünften nicht in der Lage, das Wohngebäude zu erhalten; dieses werde mietfrei bewohnt. Versicherungsgebühren und sonstige Unkosten müsse sie von ihrer Rente bestreiten.
Im Rahmen einer Gebäudezustandsermittlung im Januar 1985 bezeichnete der Bauingenieur R. das Wohngebäude als unbrauchbar. Standsicherheit und Tragfähigkeit des Holzfachwerkes sei nicht mehr gewährleistet; teilweise bestehe Einsturzgefahr; es seien Brüche von Deckenbalken vorhanden; das Mauerwerk sei schadhaft und eine weitere Nutzung damit nicht mehr gegeben.
Unter dem 5. Oktober 1987 verzichtete die Mutter der Beigeladenen zu Protokoll des Rates des Kreises auf das Hausgrundstück …straße 37 und die streitigen landwirtschaftlichen Flächen. Mit Wirkung vom 1. November 1987 erteilte der Rat des Kreises hierfür die Grundstücksverkehrsgenehmigung. Der gesamte Grundbesitz wurde auf das Eigentum des Volkes umgeschrieben und die LPG P „…” mit Wirkung vom 1. November 1987 Rechtsträger für die landwirtschaftlichen Flächen. Mit Vermögenszuordnungsbescheid des Präsidenten der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben vom 18. Juni 1996 wurden die landwirtschaftlichen Flächen mit Ausnahme eines Flurstücks auf die Klägerin zu 2 übertragen. Hinsichtlich dieses Flurstücks ist gemäß § 8 Abs. 1 Buchst. c VZOG die Klägerin zu 1 verfügungsbefugt.
Unter dem 26. September 1990 beantragte die Mutter der Beigeladenen die Rückübertragung der Grundstücke. Sie verstarb am 30. September 1990; Erben wurden aufgrund des gemeinschaftlichen notariellen Testaments vom 23. April 1971 die Beigeladenen. Zur Begründung des Antrages machten diese geltend, die Mieteinnahmen hätten die erforderliche Instandsetzung des Wohnhauses nicht abgedeckt, so dass eine Überschuldung des Grundstücks mit Sicherheit eingetreten wäre. Die Abgabe der Hofstelle getrennt von den landwirtschaftlichen Flächen sei nicht möglich gewesen. Zur Bestätigung reichten sie eidesstattliche Versicherungen ein, u.a. von einer ehemaligen Bürgermeisterin, von der Mitarbeiterin des Sachgebiets staatliches Eigentum des Rates des Kreises, die den Verzicht entgegengenommen hatte, und von dem Bausachverständigen R.
Mit Bescheid vom 7. November 1994 übertrug der Landkreis Westliche Altmark, Amt zur Regelung offener Vermögensfragen, das bebaute Flurstück …straße 37 auf die Beigeladenen zurück, lehnte aber die Rückübertragung der streitbefangenen landwirtschaftlichen Flächen ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass hinsichtlich des bebauten Grundstücks der Tatbestand des § 1 Abs. 2 VermG vorliege. Dies ermögliche aber nicht die Rückübertragung der landwirtschaftlichen Flächen.
Hiergegen erhoben die Beigeladenen am 23. November 1994 Widerspruch, mit dem sie ausführten, ihre Mutter sei darüber getäuscht worden, dass auch ein Teilverzicht hätte erklärt werden können.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16. März 1998 hob das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen Sachsen-Anhalt den Bescheid vom 7. November 1994 insoweit auf, als die Rückübertragung der unbebauten Grundstücke abgelehnt worden war, und übertrug auch diese an die Beigeladenen in ungeteilter Erbengemeinschaft zurück. Zur Begründung führte das Landesamt aus, es liege eine unlautere Machenschaft im Sinne einer Nötigung vor, weil der von der Mutter der Beigeladenen verlangte Gesamtverzicht von den Hinweisen und Erläuterungen des Ministeriums der Finanzen über die Durchführung des § 310 ZGB vom 8. Mai 1978 nicht gedeckt und das bebaute Grundstück im Sinne von § 1 Abs. 2 VermG überschuldet gewesen sei.
Mit der am 23. April 1998 erhobenen Klage haben die Klägerinnen vorgetragen, die Voraussetzung des § 1 Abs. 2 VermG lägen nicht vor. Die Bestandskraft des Bescheides vom 7. November 1994 könne ihnen nicht entgegengehalten werden. An der Kausalität der nicht kostendeckenden Mieten für die Überschuldung bestünden Zweifel, weil bis 1982 möglicherweise eine überwiegende Eigennutzung vorgelegen habe und im Hinblick auf die 1985 erfolgte Gebäudezustandsermittlung bereits zu diesem Zeitpunkt oder noch früher ein von den Alteigentümern zu vertretender Reparaturstau vorgelegen haben könne. Insbesondere sei unklar, warum nie versucht worden sei, das Haus mittels Kreditaufnahme zu reparieren oder instand zu setzen.
Der Beklagte hat demgegenüber gemeint, es lägen unlautere Machenschaften vor. Die Überschuldungslage hinsichtlich des bebauten Grundstücks sei gegeben gewesen. Die Beigeladenen haben vorgetragen, das Gebäude sei überwiegend fremdvermietet worden.
Mit Urteil vom 23. Mai 2000 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es lägen unlautere Machenschaften in Gestalt einer Täuschung vor. Der Mutter der Beigeladenen sei vorgespiegelt worden, dass immer auf sämtliche Grundstücke verzichtet werden müsse, obwohl dies nicht der Rechtslage in der DDR entsprochen habe. Die Verzichtserklärung beruhe auch auf dieser Täuschung. Auf die Frage, ob eine Nötigung vorliege, wenn der Verzicht auf ein überschuldetes bebautes Grundstück nur unter der Bedingung des Verzichts auf weitere Grundstücke genehmigt werde, komme es daher nicht an.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügen die Klägerinnen die Verletzung materiellen und formellen Rechts.
Die Klägerinnen beantragen,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. Mai 2000 und den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 16. März 1998 aufzuheben.
Der Beklagte und die Beigeladenen beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beklagte meint, das Verwaltungsgericht sei zutreffend von einer unlauteren Machenschaft in der Gestalt einer Täuschung ausgegangen.
Die Beigeladenen halten die Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts für fehlerfrei und tragen weiter vor, das Wohnhaus habe sich vor Gründung der DDR in einem ordnungsgemäßen Zustand befunden.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision ist mit dem Ergebnis der Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht begründet (§ 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO).
Die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, es liege eine unlautere Machenschaft in Form einer Täuschung vor, weil die Alteigentümerin unrichtig dahin belehrt worden sei, dass auf das überschuldete bebaute Grundstück nur dann verzichtet werden könne, wenn auch auf weitere Grundstücke verzichtet werde, verletzt Bundesrecht (1.). War der Eigentümer eines mit vermieteten Räumen bebauten Grundstücks wegen einer ökonomischen Zwangslage zum Verzicht auf sein Eigentum zu Gunsten des Staates entschlossen und wurde die Genehmigung des Verzichts davon abhängig gemacht, dass der Eigentümer auf weitere Grundstücke verzichtete, kommt eine unlautere Machenschaft nicht in Form einer Täuschung, sondern nur in Form einer Nötigung bzw. des Machtmissbrauchs in Betracht (2.). Ob hier eine Nötigung der Mutter der Beigeladenen zum (Gesamt-)Verzicht auf die streitbefangenen Flurstücke anzunehmen ist, kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht abschließend beurteilt werden (3.). Dies zwingt dazu, den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.
1. Nach § 1 Abs. 3 VermG ist eine vermögensrechtliche Schädigung gegeben, wenn Vermögenswerte sowie Nutzungsrechte aufgrund unlauterer Machenschaften, z.B. durch Machtmissbrauch, Korruption, Nötigung oder Täuschung, von Seiten des Erwerbers, staatlicher Stellen oder Dritter erworben wurden. Diese Bestimmung betrifft solche Vorgänge, bei denen im Einzelfall in manipulativer, sittlich vorwerfbarer Weise unter Verstoß gegen die Rechtsordnung der DDR auf bestimmte Vermögenswerte zugegriffen wurde. Ein derartiges qualifiziertes Einzelfallunrecht liegt deshalb nicht vor, wenn bei dem Erwerbsvorgang – gemessen an den in der DDR gültigen Rechtsvorschriften und den sie tragenden ideologischen Grundvorstellungen – „alles mit rechten Dingen zugegangen ist” (Urteile vom 20. März 1997 – BVerwG 7 C 23.96 – BVerwGE 104, 186 ≪188≫ = Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 108 S. 324 ≪325 f.≫ und vom 18. Oktober 2000 – BVerwG 8 C 23.99 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 19 S. 49 ≪53≫ zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen).
Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Kopplung der Genehmigung des beantragten Verzichts auf ein bebautes Grundstück mit dem Verzicht auf weitere Grundstücke stelle eine unlautere Machenschaft im Form einer Täuschung dar, steht mit § 1 Abs. 3 VermG nicht in Einklang. Dem Verwaltungsgericht ist zwar zuzugeben, dass in diesen Fällen regelmäßig dem Verzichtswilligen der unzutreffende Eindruck vermittelt wurde, nach der Rechtsordnung der DDR sei ein Gesamtverzicht erforderlich. Der Verzichtswillige wurde jedoch nicht durch diese Täuschung zum Gesamtverzicht bewegt, sondern durch die ökonomische Zwangslage, in der er sich hinsichtlich des bebauten Grundstücks befand, und durch die von der Behörde gestellte unzulässige Bedingung für die Genehmigung des Verzichts, dass auch auf weitere Grundstücke verzichtet wurde. Wegen dieser Zwangslage hätte der Betroffene nämlich auch dann auf die weiteren Grundstücke verzichtet, wenn die Behörde zwar den Gesamtverzicht verlangt, sich aber nicht dazu geäußert hätte, ob dies der Rechtsordnung der DDR entsprach, bzw. wenn diese Frage unklar geblieben wäre. Das behördliche Verlangen des Gesamtverzichts und nicht die Vorstellung des Betroffenen über die Rechtmäßigkeit des Vorgehens waren letztlich für den Gesamtverzicht ursächlich. Die Kopplung der Genehmigung des Verzichts auf das bebaute Grundstück mit dem Verlangen des Verzichts auf weitere Grundstücke ist deshalb die tatbestandliche Schädigungshandlung. Dabei handelt es sich um eine Nötigung und nicht um eine Täuschung. Eine Schädigung durch Täuschung wäre in diesem Zusammenhang dagegen z.B. dann anzunehmen, wenn dem Alteigentümer eine Überschuldungslage des bebauten Grundstücks vorgetäuscht worden wäre, um so den (Gesamt-)Verzicht zu erreichen.
Anders als in der Literatur teilweise vertreten wird (Säcker-Busche in: Säcker, Vermögensrecht, 1995, § 1 Rn. 106; Brettholle/Köhler-Apel in: Rädler/Raupach/Bezzenberger, Vermögen in der ehemaligen DDR, Stand: Juli 2000, § 1 VermG Rn. 76) liegt auch in den Ausreisefällen keine Täuschung, sondern eine Nötigung bzw. ein Machtmissbrauch vor, wenn dem Ausreisewilligen vorgespiegelt wurde, die Forderung der vorherigen Veräußerung oder des Verzichts auf bestimmte Vermögenswerte beruhe auf geltendem Recht der DDR. Denn auch dann traf der Bürger die erwünschten Verzichts- bzw. Veräußerungserklärungen nicht, weil er sich dem Recht der DDR konform verhalten wollte (und hätte sie ggf. unterlassen, wenn er gewusst hätte, dass das Recht der DDR derartige Vermögensverfügungen nicht verlangt), sondern weil er andernfalls entweder auf die Ausreise verzichten oder den riskanten Versuch illegaler Ausreise unternehmen musste (vgl. Urteile vom 29. Februar 1996 – BVerwG 7 C 59.94 – BVerwGE 100, 310 = Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 68 und vom 29. September 1999 – BVerwG 8 C 8.99 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 4 S. 13 ≪14≫).
2. a) Unter „Nötigung” im Sinne des § 1 Abs. 3 VermG ist in Anlehnung an § 240 StGB die rechtswidrige Einflussnahme auf die Willensentschließungs- oder Willensbetätigungsfreiheit durch Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel zu verstehen (stRspr, vgl. Urteil vom 29. Februar 1996 – BVerwG 7 C 59.94 – BVerwGE 100, 310, 312 = Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 68 S. 191 ≪193≫ m.w.N.). Eine Drohung ist das Inaussichtstellen eines künftigen Übels, dessen Eintritt davon abhängen soll, dass der Bedrohte sich nicht dem Willen des Drohenden beugt. Das angedrohte Übel ist „empfindlich”, wenn der in Aussicht gestellte Nachteil bei objektiver Betrachtung geeignet ist, einen besonnenen Menschen zu dem damit erstrebten Verhalten zu bestimmen (Urteil vom 29. Februar 1996 – BVerwG 7 C 59.94 – a.a.O.). Ob eine solche Zwangslage von Gewicht bestand, ist also nicht nach der individuellen Einschätzung der Situation durch den Betroffenen, sondern anhand eines objektivierten Maßstabs zu ermitteln. Im Rahmen von § 1 Abs. 3 VermG ist daher zu fragen, ob von einem vernünftigen Eigentümer in der konkreten Lage erwartet werden konnte, dem mit dem Verzichtsverlangen ausgeübten Druck zu widerstehen. Dementsprechend genügt die nur subjektiv gegründete Vorstellung, sich in einer Zwangslage zu befinden, nicht für die Annahme eines Nötigungstatbestandes (Urteil vom 19. Februar 1996 – BVerwG 7 C 59.94 – a.a.O. m.w.N.).
b) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass mit der behördlichen Erklärung, den Eigentumsverzicht auf ein Grundstück, hinsichtlich dessen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 2 VermG vorlagen, ohne Einbeziehung weiterer Grundstücke nicht genehmigen zu wollen, dem Alteigentümer ein empfindliches Übel angedroht wurde. Er befand sich nämlich in einer ökonomischen Zwangslage, die der Gesetzgeber, wie die in § 1 Abs. 2 VermG getroffene Regelung zeigt, als so erheblich ansieht, dass er den dadurch herbeigeführten Eigentumsverzicht rückgängig gemacht haben will. Die Aussicht, ohne umfassenden Verzicht auch das verschuldete Grundstück behalten zu müssen, war ein Nachteil, der bei objektiver Betrachtung regelmäßig geeignet war, jeden besonnenen Eigentümer zu dem erstrebten Verhalten des Gesamtverzichts zu bestimmen (Urteile vom 23. Januar 1997 – BVerwG 7 C 2.96 – Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 101 S. 306 ≪307 f.≫, vom 28. April 1998 – BVerwG 7 C 4.97 – Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 151 S. 459 ≪462 f.≫ und vom 24. August 1999 – BVerwG 8 C 24.98 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 305 S. 9 ≪11≫).
c) Das für den Tatbestand der Nötigung erforderliche Element der Rechtswidrigkeit des behördlichen Verlangens (stRspr, vgl. u.a. Urteil vom 29. Februar 1996 – BVerwG 7 C 59.94 – BVerwGE 100, 310 = Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 68 S. 191 ≪193≫ und Beschluss vom 6. Juni 2000 – BVerwG 8 B 98.00 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 14) ergibt sich im Regelfall daraus, dass das Recht der DDR keine Verpflichtung zur Erklärung eines Gesamtverzichts begründete (vgl. Urteile vom 23. Januar 1997 – BVerwG 7 C 2.96 – Buchholz 428 § 1 Nr. 101 S. 306 ≪308≫ und vom 24. Oktober 2001 – BVerwG 8 C 31.00 – zur Veröffentlichung in Buchholz unter 428 § 1 Abs. 2 VermG vorgesehen).
d) In den Gesamtverzichtsfällen setzt eine unlautere Machenschaft in Gestalt einer Nötigung hinsichtlich der weiteren Grundstücke voraus, dass hinsichtlich des bebauten Grundstücks die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 VermG vorlagen, weil – wie dargelegt – das empfindliche Übel, mit dem gedroht wurde, darin bestand, dass der Eigentümer das überschuldete Grundstück behalten musste. Zwar ist davon auszugehen, dass es durchaus ökonomische Zwangssituationen gab, in denen ein vernünftiger Eigentümer unter den in der DDR geltenden Bedingungen bestrebt sein musste, auf das Grundstück zu verzichten, obwohl dadurch der Tatbestand des § 1 Abs. 2 VermG nicht erfüllt wurde, z.B. immer dann, wenn die Überschuldung nicht kausal auf die Niedrigmietenpolitik der DDR zurückzuführen war. Dies mag im strafrechtlichen Sinne als Nötigung anzusehen sein. Eine solche allein auf die strafrechtliche Dogmatik abhebende Betrachtungsweise würde aber die gesetzliche Wertung des § 1 Abs. 2 VermG unterlaufen, wonach (nur) die tatbestandsmäßige Überschuldung infolge nicht kostendeckender Mieten ein restitutionswürdiges Unrecht darstellt und nicht schon jeder unter den planwirtschaftlichen Verhältnissen gegebene ökonomische Zwang. Die gesetzgeberische Wertung in § 1 Abs. 2 VermG muss auf die Voraussetzungen für die Annahme einer Nötigung hinsichtlich der weiteren Grundstücke durchschlagen. Anderenfalls würden in derartigen Fällen die weiteren Grundstücke gemäß § 1 Abs. 3 VermG zurückübertragen, während hinsichtlich des überschuldeten Grundstücks keine Restitution stattfinden würde, obwohl dieses der eigentliche Hebel für die Nötigung des Alteigentümers war.
e) Eine unlautere Machenschaft in Gestalt einer Nötigung gemäß § 1 Abs. 3 VermG erfordert deshalb in den Fällen, in denen die DDR-Behörden die Genehmigung des Verzichts auf das Eigentum an einem bebauten Grundstück mit dem Verzicht auf weitere Grundstücke verknüpft haben, das Vorliegen von vier Voraussetzungen:
Erstens müssen für das bebaute Grundstück oder Gebäude in der Zeit vor dem Eigentumsverlust nicht kostendeckende Mieten erzielt worden sein. Zweitens muss die Kostenunterdeckung zu einer bereits eingetretenen oder unmittelbar bevorstehenden Überschuldung geführt haben. Drittens müssen staatliche Stellen erklärt haben, den Eigentumsverzicht auf das bebaute Grundstück ohne Einbeziehung der weiteren Grundstücke nicht genehmigen zu wollen. Viertens muss die Nötigung wesentliche Ursache für den Eigentumsverlust gewesen sein.
3. Das Verwaltungsgericht hat – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – keine Feststellungen hinsichtlich der ersten beiden Voraussetzungen getroffen. Dies wird es unter Beachtung der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. die Zusammenfassung der Rechtsprechung im Urteil vom 2. Februar 2000 – BVerwG 8 C 25.99 – Buchholz 428 § 1 Abs. 2 VermG Nr. 7) nachzuholen haben.
Dabei wird das Verwaltungsgericht auch der Frage nachzugehen haben, ob es sich bei dem – hier nicht streitgegenständlichen – bebauten Flurstück 455/139 und den ursprünglich auf demselben Grundbuchblatt gebuchten Teil der streitigen Flächen in der Gemarkung S. umein Grundstück im Rechtssinne handelt mit der Folge, dass auf diesen Teil der unbebauten Flächen nicht § 1 Abs. 3 VermG, sondern allein § 1 Abs. 2 VermG anwendbar wäre. Denn es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass bei der Anwendung des § 1 Abs. 2 VermG vom Buchgrundstück auszugehen ist. Dies gilt auch dann, wenn – wie hier – im Falle eines Bauernhofs die Rückübertragung einer wirtschaftlichen Einheit beansprucht wird, die teils aus bebauten, teils aus nicht bebauten Flächen besteht (Urteile vom 23. Januar 1997 – BVerwG 7 C 2.96 – Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 101 S. 306 ≪307≫ und vom 28. April 1998 – BVerwG 7 C 4.97 – Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 151 S. 459 ≪462≫). Gegenstand der Schädigung nach § 1 Abs. 2 VermG ist nämlich das Grundstück im Rechtssinne (Urteile vom 22. August 1996 – BVerwG 7 C 74.94 – Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 85 S. 256 ≪258≫ m.w.N. und vom 23. Januar 1997 – BVerwG 7 C 2.96 – a.a.O.), also ein bestimmter Teil der Erdoberfläche, der als solcher im Bestandsverzeichnis eines Grundbuchblattes unter einer besonderen Nummer gebucht ist (Palandt, BGB, 60. Auflage vor § 873 Rn. 1; RGZ 84, 265, 270). Dieser für das Sachenrecht des BGB maßgebliche Begriff lag auch dem ZGB zugrunde. Danach wurde als Grundstück ein durch Vermessung abgegrenzter und in der Liegenschaftsdokumentation besonders ausgewiesener Teil der Erdoberfläche verstanden (Urteil vom 22. August 1996 – BVerwG 7 C 74.94 – a.a.O. S. 258 f.); denn allein das Buchgrundstück war beleihbar und konnte deshalb im Sinne des § 1 Abs. 2 VermG überschuldet sein (Urteil vom 22. August 1996 – BVerwG 7 C 74.94 – a.a.O.).
Der bei den Beiakten (II, Bl. 86 bzw. 87 und Bl. 12) befindliche Grundbuchauszug könnte dafür sprechen, dass das Wohngrundstück …straße 37 (Flurstück 455/139) und die auf demselben Grundbuchblatt unter derselben laufenden Nummer 9 gebuchten landwirtschaftlichen Flächen bis zu dem Verzicht ein Buchgrundstück im dargelegten Sinne darstellten. Möglicherweise ist das bebaute Flurstück 455/139 (…straße 37) erst nach dem im Jahre 1987 erfolgten Verzicht wegen der unterschiedlichen Rechtsträgerschaft als eigenes Buchgrundstück eingetragen und nur deswegen auch getrennt zurückübertragen worden.
An der Prüfung der Überschuldungsvoraussetzungen nach § 1 Abs. 2 VermG für die hier streitbefangenen Flächen ist das Verwaltungsgericht nicht etwa im Hinblick auf die mit dem Bescheid vom 7. November 1994 erfolgte Rückübertragung der Hofstelle …straße 37 gehindert. Zwar wird in der Begründung ausgeführt, dass hinsichtlich des bebauten Grundstücks der Tatbestand des § 1 Abs. 2 VermG vorliege. Dem kommt aber im vorliegenden Zusammenhang nur Tatbestands-, aber keine Feststellungswirkung zu. Die Tatbestandswirkung hat zum Inhalt, dass die durch den Verwaltungsakt für einen bestimmten Rechtsbereich getroffene Regelung als gegeben hingenommen werden muss (Urteil vom 28. November 1986 – BVerwG 8 C 122.84 bis 125.84 – Buchholz 454.4 § 83 2.WoBauG Nr. 21), mithin dass der Bescheid mit dem von ihm in Anspruch genommenen Inhalt von allen rechtsanwendenden Stellen (Behörden und Gerichten, letztere soweit sie nicht zur Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen den Bescheid berufen sind) zu beachten und eigenen Entscheidungen zugrunde zu legen ist (Urteil vom 27. Oktober 1998 – BVerwG 1 C 19.97 – Buchholz 451.09 IHKG Nr. 13). Aus der Tatbestandswirkung folgt demgemäß nur, dass die in den erwähnten Bescheiden ausgesprochene Rückübertragung der bebauten Grundstücke verbindlich ist. Eine darüber hinausgehende Feststellungswirkung kommt der Rückübertragungsentscheidung hinsichtlich des bebauten Grundstücks bei der vorliegend zu treffenden Entscheidung über die landwirtschaftlichen Flächen nicht zu; denn eine solche Wirkung muss ausdrücklich gesetzlich angeordnet sein (Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. § 13 Rn. 4 S. 297 f.). Dies ist hier nicht der Fall.
4. Da wegen des Verstoßes gegen materielles Bundesrecht das angefochtene Urteil ohnehin aufzuheben und der Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen war, kommt es auf die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen nicht mehr an.
Unterschriften
Dr. Müller, Sailer, Krauß, Golze, Postier
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 24.10.2001 durch Jesert Justizsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
VIZ 2002, 352 |
ZAP 2002, 12 |
NJ 2002, 160 |