Entscheidungsstichwort (Thema)
Staatskirchenrecht. Rechtsweg zu staatlichen Gerichten. Anwendung staatlichen Rechts. Vorfrage religiösen Inhalts. Zugehörigkeit zur „Jüdischen Gemeinschaft”. Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Selbstverständnis der religiösen Gemeinschaft. Anerkennung als „jüdische” Gemeinde im Judentum
Leitsatz (amtlich)
Zum Umfang der dem Staat obliegenden Justizgewährungspflicht (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 92 GG) für den Fall, dass das anzuwendende staatliche Recht die Gewährung von Staatsleistungen von der Klärung einer Vorfrage abhängig macht, die an religiöse Inhalte anknüpft.
Normenkette
GG Art. 4 Abs. 1, Art. 140 i.V.m; WRV Art. 137 Abs. 3; Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt mit der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt vom 23. März 1994: Art. 13 Abs. 1, 4
Verfahrensgang
OVG des Landes Sachsen-Anhalt (Urteil vom 03.03.2000; Aktenzeichen A 2 S 339/98) |
VG Magdeburg (Entscheidung vom 21.07.1998; Aktenzeichen A 8 K 314/97) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 3. März 2000 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Klägerin beansprucht ihre Teilhabe an den finanziellen Leistungen, die das Land Sachsen-Anhalt aufgrund eines Vertrages mit der „Jüdischen Gemeinschaft” in Sachsen-Anhalt an den beklagten Landesverband erbringt.
Der Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt mit der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt vom 23. März 1994 (zukünftig: Staatsvertrag), dem der Landtag von Sachsen-Anhalt mit Gesetz vom 5. Juli 1994 (GVBl LSA S. 794) zugestimmt hat, dient nach seiner Präambel dem Ziel, den Jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt den Wiederaufbau eines Gemeindelebens zu erleichtern. Art. 13 Abs. 1 und 4 des Staatsvertrages lautet:
„Artikel 13
Staatsleistung
(1) Das Land zahlt an den Landesverband einen Gesamtzuschuss (Staatsleistung). Über diese Staatsleistung hinaus werden weitere Leistungen an die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt nur erbracht, wenn sie in diesem Vertrag oder den allgemeinen Gesetzen vorgesehen sind.
…
(4) Die Staatsleistung wird mit einem Zwölftel des Jahresbetrages jeweils monatlich im Voraus an den Landesverband gezahlt.”
In dem Schlussprotokoll zu Art. 13 Abs. 1 des Staatsvertrages ist ausgeführt:
„Zu Artikel 13 Absatz 1
Die Staatsleistung ist ausschließlich für die Jüdische Gemeinschaft im Land Sachsen-Anhalt bestimmt. Es besteht Einvernehmen darüber, dass die Staatsleistung die Zuschüsse für neu entstehende Gemeinden mit umfasst und dass die Mittel anteilmäßig den Gemeinden unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum Landesverband zufließen sollen …”
Die nach Auseinandersetzungen innerhalb der Jüdischen Gemeinde in Halle im Juli 1996 gegründete und im Februar 1997 in das Vereinsregister eingetragene Klägerin versteht sich ausweislich ihrer Satzung als „direkte Nachfolgerin der Synagogengemeinde zu Halle, die im Holocaust ausgelöscht worden ist”, und will deren „traditionelle liberale Haltung” wieder aufnehmen. Als ihre Aufgabe sieht sie die Förderung der Ausübung des jüdischen Glaubens nach konservativ-liberalen Riten und die Durchführung entsprechender Gottesdienste an. Im August 1999 wurde sie als Mitglied in die Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgenommen.
Die Klägerin ist nicht Mitglied des beklagten Landesverbandes Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt und gehört auch anders als der Beklagte nicht dem Zentralrat der Juden in Deutschland an. Ein bei dem Zentralrat eingerichtetes Schieds- und Verwaltungsgericht ist nach der Satzung des Zentralrats für interne und dienstrechtliche Streitigkeiten zuständig. Andere Streitigkeiten nicht satzungsrechtlicher Art können ihm unterbreitet werden, wenn der Rechtsstreit einen Bezug zu Angelegenheiten der Jüdischen Gemeinschaft aufweist und die Streitparteien rechtswirksame Unterwerfungserklärungen abgegeben haben.
Die Klägerin hat, nachdem ihre Aufforderungen an den Beklagten, sie bei der Verteilung der vom Land Sachsen-Anhalt für die Jüdische Gemeinschaft gezahlten Mittel zu berücksichtigen, ohne Erfolg geblieben waren, im Oktober 1997 Klage erhoben, mit der sie die Verpflichtung des Beklagten erstrebt, sie anteilig an den Staatsleistungen zu beteiligen. Das Verwaltungsgericht Magdeburg hat der Klage mit Urteil vom 21. Juli 1998 stattgegeben. Der Klägerin stehe nach dem Staatsvertrag ein Anspruch auf finanzielle Beteiligung zu, da es sich bei ihr um eine neu entstandene jüdische Gemeinde im Sinne des Schlussprotokolls zu Art. 13 Abs. 1 des Staatsvertrages handele.
Auf die Berufung des Beklagten gegen dieses Urteil hat das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt das Verfahren mit Beschluss vom 11. November 1999 zunächst ausgesetzt, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, den Konflikt innerhalb der Jüdischen Gemeinschaft selbst zu regeln. Eine Einigung über eine anderweitige Streitbeilegung oder eine von beiden Beteiligten akzeptierte „innerjüdische” Instanz ist nicht zustande gekommen. Das Oberverwaltungsgericht hat daraufhin mit Urteil vom 3. März 2000 die Klage unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Zwar sei der Rechtsweg zu staatlichen Gerichten eröffnet. Die Klage habe aber in der Sache keinen Erfolg. Einen aus dem Staatsvertrag ableitbaren Anspruch auf Teilhabe an den der Jüdischen Gemeinschaft insgesamt zugewendeten Staatsmitteln müsse der Beklagte nur erfüllen, wenn die Klägerin zur „Jüdischen Gemeinschaft” gehöre. Diese Kernfrage sei nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV der Beurteilung durch ein staatliches Gericht entzogen; die interne Organisation einer Religionsgesellschaft sei nach dieser Verfassungsbestimmung als schlechthin staatsfrei anzusehen. Da zwischen dem Staat und dem Beklagten vereinbart worden sei, die der Jüdischen Gemeinschaft insgesamt zugewendeten Mittel gerade durch den Beklagten verteilen zu lassen, liege es nahe, die Konfliktfälle auch von der internen gerichtlichen Instanz entscheiden zu lassen, die von der Organisation gebildet werde, welcher der Beklagte angehöre. Dies sei das Schieds- und Verwaltungsgericht des Zentralrats der Juden. Dessen Entscheidung sei aber nicht zu erwarten, da die Klägerin keine Erklärung abgegeben habe, dass sie sich der Schieds- und Verwaltungsgerichtsbarkeit des Zentralrats unterwerfe.
Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, mit der sie ihren Antrag weiterverfolgt. Zur Begründung macht sie geltend: Das Oberverwaltungsgericht habe die Voraussetzungen des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV verkannt. Es sei von der unzutreffenden Annahme ausgegangen, dass sie, die Klägerin, und der Beklagte Mitglieder derselben Religionsgemeinschaft seien. Dies sei jedoch nicht der Fall; sie seien jeweils rechtlich selbständige Religionsgemeinschaften. Sie gehöre zur Glaubensrichtung der progressiven Juden, die in der „World Union for Progressive Judaism” organisiert sei. Der beklagte Landesverband sei dagegen Mitglied des Zusammenschlusses der orthodoxen Juden, also einer anderen Glaubensrichtung. Nach dem Staatsvertrag setze die finanzielle Beteiligung der Klägerin lediglich voraus, dass sie eine jüdische Gemeinde sei. Diese Voraussetzung erfülle sie. Sie verfüge über eine nach ihrem Glauben organisierte Struktur und ein nach den Regeln und Traditionen des Judentums geführtes religiöses Gemeindeleben. Sie sei von einem internationalen Rabbinerkonsortium geprüft, in die Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz – einer anerkannten Gemeinschaft Jüdischer Gemeinden – aufgenommen und damit durch ein hierzu berufenes Gremium als Teil der Jüdischen Gemeinschaft anerkannt worden.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er vertritt die Auffassung, dass ausschließlich durch binnenreligiöse Instanzen zu entscheiden sei, ob die Klägerin eine Gemeinde der „Jüdischen Gemeinschaft” sei. Staatliche Gerichte hätten allenfalls die Kompetenz, solche Entscheidungen darauf zu prüfen, ob sie willkürlich getroffen worden seien oder gegen fundamentale Rechtsprinzipien verstießen. Das Berufungsgericht habe zu Recht den Staatsvertrag dahin ausgelegt, dass durch den Landesverband zu entscheiden sei, ob ein Anspruchsteller als Gemeinde zur „Jüdischen Gemeinschaft” gehöre. Der Klägerin gehe es allein um eine finanzielle Partizipation an der Staatsleistung.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist begründet. Zwar hat das Oberverwaltungsgericht zutreffend den Rechtsweg zu staatlichen Gerichten bejaht (1). Seine die Klageabweisung tragende Annahme, dass staatlichen Gerichten durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV die Beurteilung der Frage entzogen sei, ob die Klägerin eine jüdische Gemeinde im Sinne des Staatsvertrages ist, verletzt jedoch Bundesrecht; diese Frage ist vielmehr von den staatlichen Gerichten zu klären (2). Da das Oberverwaltungsgericht hierzu keine Tatsachenfeststellungen getroffen hat, muss das Urteil gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (3).
1. Für die Klage, mit der die Klägerin ihre finanzielle Beteiligung an den für die „Jüdische Gemeinschaft” bestimmten Staatsleistungen des Landes Sachsen-Anhalt erreichen will, ist der Rechtsweg zu staatlichen Gerichten eröffnet. Aus der dem Staat obliegenden Justizgewährungspflicht (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 92 GG) folgt, dass die staatlichen Gerichte grundsätzlich zur Entscheidung aller Rechtsfragen berufen sind, deren Beurteilung sich nach staatlichem Recht richtet (BGH, JZ 2000, 1111 mit insoweit zust. Anm. Maurer, JZ 2000, 1113; auch BVerfGE 83, 341 ≪353≫). Diese Voraussetzung ist erfüllt. Als Grundlage für den Anspruch der Klägerin kommt nur staatliches Recht in Betracht, nämlich der mit Zustimmungsgesetz vom 5. Juli 1994 (GVBl LSA S. 794) in Landesrecht transformierte Staatsvertrag mit der „Jüdischen Gemeinschaft” in Sachsen-Anhalt. Der Staatsvertrag sieht in Art. 13 nicht nur die Verpflichtung des Landes zur Erbringung finanzieller Leistungen vor, sondern enthält in dem Schlussprotokoll als Bestandteil des Staatsvertrages auch die für den Rechtsstreit maßgebende Bestimmung über die Verteilung der vom Land erbrachten Mittel. Danach sollen neben den schon vorhandenen auch die neu entstehenden jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt bedacht werden und zwar unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum Landesverband (Schlussprotokoll zu Art. 13 Abs. 1 des Staatsvertrages).
2. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ist die Entscheidung, ob die Klägerin zur „Jüdischen Gemeinschaft” in Sachsen-Anhalt gehört, den staatlichen Gerichten nicht durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV entzogen; danach ordnet und verwaltet jede Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Die Anwendung dieser Verfassungsbestimmung scheitert daran, dass die Beurteilung, ob die Klägerin zur „Jüdischen Gemeinschaft” in Sachsen-Anhalt gehört, nicht als eigene Angelegenheit des Beklagten anzusehen ist; Entsprechendes gilt für die Verteilung der Staatsleistungen an die begünstigten Jüdischen Gemeinden, mit der der Landesverband nur eine staatliche Aufgabe wahrnimmt, die ihm durch Landesgesetz zur selbständigen Erledigung übertragen worden ist.
Richtig ist zwar, dass die staatsvertraglichen Regelungen die finanzielle Beteiligung an den Landesmitteln von der Zugehörigkeit zur „Jüdischen Gemeinschaft” und damit von einer Voraussetzung abhängig macht, die an religiöse Inhalte anknüpft. Damit ist die Beurteilung, ob die Klägerin diese Voraussetzung erfüllt, jedoch nicht in einen Bereich verwiesen, der dem religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrecht des Beklagten zugeordnet ist. Die Klägerin ist nicht Mitglied des beklagten Verbandes. Es besteht auch sonst keine Religionsgemeinschaft, der beide Beteiligte angehören, oder ein beide Beteiligte umfassender Verband, der über die Zugehörigkeit der Klägerin zur „Jüdischen Gemeinschaft” als eigene Angelegenheit entscheiden könnte. Dem Zentralrat der Juden als Spitzenorganisation der Jüdischen Gemeinden in Deutschland und ihrer Landesverbände gehört zwar der beklagte Landesverband, nicht aber die Klägerin an. Dementsprechend verweist die Bezeichnung „Jüdische Gemeinschaft” im Staatsvertrag auch nicht auf eine bestimmte jüdische Religionsrichtung in dem Sinne, dass die sich zu ihr bekennenden Jüdischen Gemeinden spezifische glaubensmäßige Anforderungen innerhalb der zum Judentum gehörenden religiösen Richtungen erfüllen müssten. Damit kommt es in der Tat, wie das Berufungsgericht es in seinem Beschluss vom 11. November 1999 ausgedrückt hat, auf einen bereits „vorgefundenen” Begriff an, der „dem Selbstverständnis des Judentums” entspricht. Allerdings verkennt das Berufungsgericht, dass „das Judentum” ebenso wenig eine Religionsgemeinschaft im staatskirchenrechtlichen Sinne darstellt, wie „das Christentum”. Vielmehr fassen solche Gattungsbegriffe verschiedene Religionsgemeinschaften im Blick auf ihre zentralen Glaubensgehalte zusammen; sie beziehen sich dagegen weder auf eine die einzelnen Religionsgemeinschaften erfassende Organisation noch auf eine zentrale Lehrautorität.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass auch die weitere Annahme des Berufungsgerichts fehl geht, die Klägerin müsse sich in diesem Punkte einer Entscheidung durch das Schieds- und Verwaltungsgericht des Zentralrats der Juden unterwerfen (vgl. § 15 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Satzung des Zentralrats der Juden). Eine solche Obliegenheit lässt sich aus dem Staatsvertrag nicht herleiten. Davon abgesehen würde durch eine Unterwerfungserklärung die Beurteilung, ob die Klägerin zu der „Jüdischen Gemeinschaft” gehört, nicht zu einer eigenen Angelegenheit des Beklagten oder des Zentralrats der Juden werden. Es mag sein, dass eine Unterwerfungserklärung der Klägerin, wäre sie abgegeben worden, für das staatliche Gericht die Verpflichtung begründen kann, die Entscheidung des Schieds- und Verwaltungsgerichts des Zentralrats abzuwarten und sie, wenn sie ergangen ist, der weiteren Beurteilung zugrunde zu legen (vgl. BGH, JZ 2000, 1111 ≪1113≫). Die Klägerin hat eine solche Unterwerfungserklärung jedoch nicht abgegeben.
3. Rechtlicher Maßstab ist danach allein der Staatsvertrag. Dieser verweist mit der Bezeichnung „Jüdische Gemeinschaft” nicht auf eine bestimmte jüdische Religionsrichtung. Vielmehr liegt ihm ein erweitertes, gewissermaßen „plurales” Verständnis zugrunde, das alle im Judentum vorhandenen Grundrichtungen einbezieht und das üblicherweise gemeint ist, wenn von „Jüdischer Gemeinschaft” die Rede ist. Anders lässt sich auch – schon wegen der Neutralitätspflicht des Staates – der Staatsvertrag nicht verstehen, der in seinem Art. 13 die dort näher bezeichnete Staatsleistung als „Gesamtzuschuss” an die „Jüdische Gemeinschaft” in Sachsen-Anhalt umschreibt und damit den abschließenden Charakter der Regelung zum Ausdruck bringt. Gegen die sich aus dem Gesamtkonzept des Vertrages ergebende Pflicht zur Umsetzung der darin getroffenen Regelungen innerhalb der „Jüdischen Gemeinschaft” verstößt der Beklagte, wenn er den auf diese Weise umschriebenen Kreis förderungswürdiger Jüdischer Gemeinden von einer auf der Grundlage seines eigenen Selbstverständnisses ausgesprochenen Anerkennung abhängig macht. Zur „Jüdischen Gemeinde” im Sinne des Staatsvertrages gehört vielmehr jede jüdische Vereinigung, die sich selbst als Jüdische Gemeinde versteht und unbeschadet der jeweiligen Art ihres Glaubensverständnisses innerhalb des Judentums Aufnahme und Anerkennung als Jüdische Gemeinde gefunden hat.
Die Klägerin behauptet von sich, dass sie nach ihrem Selbstverständnis eine Jüdische Gemeinde im Sinne des Staatsvertrages ist. Das Berufungsgericht ist – von seinem Ausgangspunkt her konsequent – dieser Behauptung nicht weiter nachgegangen, obwohl der Beklagte vorgetragen hat, die Klägerin stelle sich nur deshalb als Jüdische Gemeinde dar, um an den staatlichen Mitteln finanziell beteiligt zu werden. Diese Prüfung wird das Berufungsgericht nachzuholen haben.
Es wird des Weiteren dem Vortrag der Klägerin nachgehen müssen, sie habe innerhalb des Judentums Aufnahme und Anerkennung als Jüdische Gemeinde gefunden. Die Klägerin beruft sich dabei nicht darauf, eine vollständig neue Richtung des Judentums zu vertreten, sondern rechnet sich dem progressiven Judentum zu und bezeichnet sich als liberale jüdische Gemeinde; im August 1999 sei sie „nach erfolgter Visitation und Prüfung” als Mitglied in die Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgenommen worden. Diese gehört ihrerseits der Weltunion für progressives Judentum und damit einer religiösen Richtung an, die nach der bislang unwidersprochen gebliebenen Behauptung der Klägerin die weltweit größte jüdische Religionsgemeinschaft darstellt. Wenn die in Rede stehende Vereinigung – wie die Klägerin geltend macht – nur Mitglieder aufnimmt, deren Ziele und Praxis („erfolgte Visitation”) von ihr auf die Übereinstimmung mit denjenigen des progressiven Judentums überprüft worden sind, werden das gemeindliche Selbstverständnis und die Aufnahme in eine solche Vereinigung regelmäßig eine ausreichende Grundlage für die Annahme sein, dass ein solches Mitglied eine jüdische Gemeinde im Sinne des Staatsvertrages ist.
Unterschriften
Dr. Franßen, Gödel, Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley ist wegen Urlaubs gehindert zu unterzeichnen. Dr. Franßen, Herbert, Neumann
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 28.02.2002 durch Battiege Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 738168 |
BVerwGE, 86 |
DÖV 2002, 952 |
DVBl. 2002, 986 |