Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Begriff ,Fahrzeug‘. Nationale Rechtsvorschriften, die die automatische Entschädigung bestimmter Verkehrsteilnehmer, die Opfer von Verkehrsunfällen werden, vorsehen. Person, die kein ,Kraftfahrzeug‘ im Sinne dieser Rechtsvorschriften führt. Begriff, der mit dem Begriff ,Fahrzeug‘ im Sinne der Richtlinie 2009/103 gleichbedeutend ist. Fahrrad, das mit einem Elektromotor, der Tretunterstützung bietet, ausgestattet ist und über eine Beschleunigungsfunktion verfügt, die nur nach Einsatz von Muskelkraft aktiviert werden kann
Normenkette
Richtlinie 2009/103/EG Art. 1 Nr. 1
Beteiligte
Tenor
Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht
ist dahin auszulegen, dass
ein Fahrrad, dessen Elektromotor nur eine Tretunterstützung bietet und das über eine Funktion verfügt, mit der es ohne Treten auf eine Geschwindigkeit von bis zu 20 km/h beschleunigt werden kann, wobei aber diese Funktion nur nach Einsatz von Muskelkraft aktiviert werden kann, kein „Fahrzeug“ im Sinne dieser Bestimmung ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-286/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien) mit Entscheidung vom 7. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. April 2022, in dem Verfahren
KBC Verzekeringen NV
gegen
P&V Verzekeringen CVBA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter Z. Csehi, M. Ilešič, I. Jarukaitis (Berichterstatter) und D. Gratsias,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der KBC Verzekeringen NV, vertreten durch B. Maes, Advocaat,
- – der P&V Verzekeringen CVBA, vertreten durch J. Verbist, Advocaat,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- – der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Nijenhuis und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 2009, L 263, S. 11).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der KBC Verzekeringen NV (im Folgenden: KBC) und der P&V Verzekeringen CVBA (im Folgenden: P&V) über den etwaigen Entschädigungsanspruch eines Versicherers für Arbeitsunfälle, der in die Rechte eines Radfahrers eingetreten ist, der mit einem Fahrrad mit Elektrounterstützung unterwegs war, gegen den Haftpflichtversicherer des Fahrers eines Autos, das in den Unfall verwickelt war, der zum Tod des Radfahrers führte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/103 heißt es:
„Die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (Kfz-Haftpflichtversicherung) ist für die europäischen Bürger … von besonderer Bedeutung. …“
Rz. 4
Art. 1 der Richtlinie („Begriffsbestimmungen“) bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ,Fahrzeug‘ jedes maschinell angetriebene Kraftfahrzeug, welches zum Verkehr zu Lande bestimmt und nicht an Gleise gebunden ist, sowie die Anhänger, auch wenn sie nicht angekoppelt sind;
…“
Rz. 5
Art. 3 („Kfz-Haftpflichtversicherungspflicht“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Jeder Mitgliedstaat trifft … alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.“
Rz. 6
Art. 13 („Ausschlussklauseln“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Jeder Mitgliedstaat trifft alle geeigneten Maßnahmen, damit für die Zwecke der Anwendung von Artikel 3 bezüglich der Ansprüche von bei Unfällen geschädigten Dritten jede Rechtsvorschrift oder Vertragsklausel in einer nach Artikel 3 ausgestellten Versicherungspolice als wirkungslos gilt, mit der die Nutzung oder das Führen von Fahrzeugen durch folgende Personen von der Versicherung ausgeschlossen werden:
…
b) Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen;
…“
Rz. 7
Am 24. November 2021 wurde die Richtlinie (EU) 2021/2118 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/103/EG (ABl. 2021, L 430, S. 1) erlassen. Die Richtlinie 2021/2118 ändert u. a. Art. 1 Nr. 1...