Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit. Nationale Regelung, wonach nur Frauen einen Anspruch auf eine Rentenzulage haben. Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs, wonach diese Regelung eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt. Verwaltungspraxis, wonach diese Regelung ungeachtet des Urteils weiterhin angewandt wird. Andere Diskriminierung. Finanzielle Wiedergutmachung. Erstattung der Auslagen für Prozesskosten und Anwaltshonorare
Normenkette
Richtlinie 79/7/EWG Art. 6
Beteiligte
TGSS (Refus du complément de maternité) |
Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) |
Tesorería General de la Seguridad Social (TGSS) |
Tenor
Die Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit und insbesondere ihr Art. 6
ist dahin auszulegen, dass
ein nationales Gericht, das mit einer Klage eines männlichen Versicherten gegen die Ablehnung seines Antrags auf Gewährung einer Rentenzulage befasst ist, die die zuständige Behörde auf eine diese Zulage weiblichen Versicherten vorbehaltende nationale Rechtsvorschrift stützt, obwohl diese Vorschrift eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne der Richtlinie 79/7 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof in einem vor der Ablehnung dieses Antrags ergangenen Vorabentscheidungsurteil darstellt, dieser Behörde nicht nur aufgeben muss, dem Betroffenen die beantragte Rentenzulage zu gewähren, sondern sie auch zur Zahlung einer Entschädigung verurteilen muss, die es ermöglicht, den durch die Diskriminierung tatsächlich entstandenen Schaden gemäß den anwendbaren nationalen Bestimmungen in vollem Umfang – einschließlich der dem Betroffenen in diesem Verfahren entstandenen Prozesskosten und Anwaltshonorare – auszugleichen, wenn die Entscheidung der Behörde gemäß einer Verwaltungspraxis ergangen ist, die darin besteht, die fragliche Vorschrift ungeachtet dieses Urteils weiterhin anzuwenden, wodurch der Betroffene zur gerichtlichen Geltendmachung seines Anspruchs auf die Zulage gezwungen wird.
Tatbestand
In der Rechtssache C-113/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Galicia (Obergericht Galicien, Spanien) mit Entscheidung vom 2. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Februar 2022, in dem Verfahren
DX
gegen
Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS),
Tesorería General de la Seguridad Social (TGSS)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von DX, vertreten durch J. de Cominges Cáceres, Abogado,
- – des Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS), vertreten durch M. P. García Perea und M. P. Madrid Yagüe als Letradas,
- – der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Galindo Martín und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen DX, Vater von zwei Kindern, einerseits sowie dem Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) (Nationales Institut der Sozialen Sicherheit, Spanien) und der Tesorería General de la Seguridad Social (TGSS) (Allgemeine Sozialversicherungskasse, Spanien) andererseits wegen der Weigerung des INSS, dem Kläger eine Rentenzulage zu gewähren, die gemäß den nationalen Rechtsvorschriften nur Frauen erhielten, die mindestens zwei leibliche oder adoptierte Kinder hatten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie 79/7 lautet:
„Diese Richtlinie hat zum Ziel, dass auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und der sonstigen Bestandteile der sozialen Sicherung im Sinne von Artikel 3 der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit – im Folgenden ‚Grundsatz der Gleichbehandlung‘ genannt – schrittweise verwirklicht wird.“
Rz. 4
Art. 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„Diese Richtlinie findet Anwendung auf die Erwerbsbevölkerung – einschließlich der Selbständigen, deren Erwerbstätigkeit durch Krankheit, Unfall oder unverschuldete Arbeitslosigkeit unterbrochen ist, und der Arbeitsuchenden – sowie auf die im Ruhestan...