Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Verbrauchsteuern. Steuerlagerverfahren. Bedingungen für die Erteilung einer Zulassung für die Eröffnung und den Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber. Nichteinhaltung dieser Bedingungen. Endgültiger Entzug der Zulassung, der zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds erfolgt. Grundsatz ne bis in idem. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
EGRL 118/2008 Art. 16 Abs. 1
Beteiligte
Direktor na Agentsia „Mitnitsi” |
Verfahrensgang
Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) (Beschluss vom 09.12.2021; ABl. EU 2022, Nr. C 138/15) |
Tenor
Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die bei einer Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die nach dieser Regelung als schwer gilt, kumulativ zu einem wegen desselben Sachverhalts bereits verhängten Bußgeld den Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers vorsieht, dann nicht entgegensteht, wenn dieser Entzug u. a. in Anbetracht seiner Endgültigkeit keine Maßnahme darstellt, die außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung steht.
Sollten diese beiden Sanktionen strafrechtlichen Charakter haben, ist Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen:
- Die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen;
- die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor;
- mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen;
- es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 9. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 2021, in dem Verfahren
„Vinal” AD
gegen
Direktor na Agentsia „Mitnitsi”
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der „Vinal” AD, vertreten durch N. Boshnakova-Dimova, Advоkаt,
- des Direktor na Agentsia „Mitnitsi”, vertreten durch P. Gerenski und P. Tonev,
- der bulgarischen Regierung, vertreten durch M. Georgieva, T. Mitova, E. Petranova und L. Zaharieva als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch I. Herranz Elizalde als Bevollmächtigten,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Collabolletta, Avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Björkland und D. Drambozova als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der Gleichbehandlung sowie von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Vinal” AD, einer zugelassenen Lagerinhaberin, und dem Direktor na Agentsia „Mitnitsi” (Direktor der Zollagentur, Bulgarien) über eine Entscheidung, mit der dieser die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers im Sinne der Richtlinie 2008/118 wegen einer schweren Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die auch zu einem Bußge...