Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Verbrauchsteuern. Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren. Aufeinanderfolgende Aussetzungsmaßnahmen. Strafrechtlicher Charakter. Grundsatz der Unschuldsvermutung. Grundsatz ne bis in idem. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
EU-Grundrechtecharta Art. 48 Abs. 1, Art. 50
Beteiligte
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca – Comisia regională pentru autorizarea operatorilor de produse supuse accizelor armonizate |
Verfahrensgang
Tribunalul Satu Mare (Rumänien) (Beschluss vom 09.06.2021; ABl. EU 2021, Nr. C 401/5) |
Tenor
1. Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Möglichkeit entgegensteht, die Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren bis zum Abschluss eines Strafverfahrens allein deshalb im Verwaltungsweg auszusetzen, weil gegen den Inhaber dieser Zulassung im Rahmen dieses Strafverfahrens Anklage erhoben wurde, sofern diese Aussetzung eine strafrechtliche Sanktion darstellt.
2. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion aufgrund von Verstößen gegen die Regelung für verbrauchsteuerpflichtige Waren gegen eine juristische Person, gegen die wegen derselben Tat bereits eine rechtskräftige strafrechtliche Sanktion verhängt wurde, nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen:
- die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen;
- die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor;
- mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen;
- es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare, Rumänien) mit Entscheidung vom 9. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2021, in dem Verfahren
Dual Prod SRL
gegen
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca – Comisia regională pentru autorizarea operatorilor de produse supuse accizelor armonizate
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.-C. Bonichot, S. Rodin und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Dual Prod SRL, vertreten durch D. Pătrăus, A. Sandru und T. D. Vidrean-Căpusan, Avocaţi,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und A. Wellman als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo, Avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und J. Jokubauskaite als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12) sowie von Art. 48 Abs. 1 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Dual Prod SRL und der Directia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca – Comisia regională pentru autorizarea operatorilor de produse supuse accizelor armonizate (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Klausenburg – Regionale Kommission für die Zulassung von Wirtschaftsteilnehmern im Bereich der Herstellung und des Vertriebs von Waren, die der harmonisierten Verbrauchsteuer unterliegen, Rumänien) u. a. we...