Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Europäisches Parlament. Flugblatt mit beleidigenden Äußerungen eines Mitglieds des Europäischen Parlaments. Antrag auf Ersatz des immateriellen Schadens. Immunität der Mitglieder des Europäischen Parlaments
Beteiligte
Tenor
Die Gemeinschaftsvorschriften über die Befreiungen der Mitglieder des Europäischen Parlaments sind dahin auszulegen, dass im Rahmen einer gegen einen Europaabgeordneten wegen dessen Äußerungen erhobenen Schadensersatzklage
- das nationale Gericht, das über diese Klage zu entscheiden hat, wenn es keine Informationen über einen Antrag des Abgeordneten beim Europäischen Parlament auf Schutz der Immunität nach Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 erhalten hat, nicht verpflichtet ist, das Europäische Parlament zu ersuchen, sich zum Vorliegen der Voraussetzungen für die Immunität zu äußern;
- das nationale Gericht, wenn es darüber unterrichtet wird, dass der Abgeordnete beim Europäischen Parlament einen Antrag auf Schutz dieser Immunität im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung gestellt hat, das Gerichtsverfahren aussetzen und das Europäische Parlament ersuchen muss, so rasch wie möglich Stellung zu nehmen;
- das nationale Gericht, wenn es die Auffassung vertritt, dass der Abgeordnete die Immunität nach Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften genießt, die Klage gegen den betreffenden Europaabgeordneten abweisen muss.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidungen vom 20. Februar 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 12. und 13. April 2007, in den Verfahren
Alfonso Luigi Marra
gegen
Eduardo De Gregorio (C-200/07),
Antonio Clemente (C-201/07)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot und T. von Danwitz, der Richter J. Makarczyk, P. Kūris, E. Juhász und L. Bay Larsen sowie der Richterinnen P. Lindh und C. Toader (Berichterstatterin),
Generalanwalt: M. Poiares Maduro,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. April 2008, unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Marra im Beistand von L. A. Cucinella, avvocato,
- von Herrn De Gregorio, vertreten durch G. Siporso, avvocato,
- von Herrn Clemente, vertreten durch R. Capocasale und E. Chiusolo, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch R. Adam als Bevollmächtigten im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
- des Europäischen Parlaments, vertreten durch H. Krück, C. Karamarcos und A. Caiola als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch I. Martínez del Peral, F. Amato und C. Zadra als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Juni 2008
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Gemeinschaftsvorschriften über die Befreiungen der Mitglieder des Europäischen Parlaments, insbesondere der Art. 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 (ABl. 1967, Nr. 152, S. 13, im Folgenden: Protokoll) sowie des Art. 6 Abs. 2 und 3 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (ABl. 2005, L 44, S. 1, im Folgenden: Geschäftsordnung).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten von Herrn Marra, einem früheren Mitglied des Europäischen Parlaments, gegen Herrn De Gregorio und Herrn Clemente, die Herrn Marra auf Ersatz des Schadens verklagt haben, den er ihnen durch die Verteilung eines Flugblatts mit sie beleidigenden Äußerungen zugefügt habe.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Protokoll
Rz. 3
Art. 9 des Protokolls bestimmt:
„Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.”
Rz. 4
Art. 10 des Protokolls sieht vor:
„Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments
- steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,
- können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.
Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.
Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.”
Rz. 5
Art. 19 des Protokolls bestimmt:
„Bei der Anwendung dieses Protokolls hande...