Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 167, 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a, Art. 273
Beteiligte
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie |
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie |
Verfahrensgang
Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) (Beschluss vom 23.11.2021; ABl. EU 2022, Nr. C 284/13) |
Tenor
Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sind im Licht der Grundsätze der Steuerneutralität und der Verhältnismäßigkeit
dahin auszulegen, dass
sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug allein deshalb versagt wird, weil ein steuerbarer wirtschaftlicher Vorgang in Anwendung der Bestimmungen des nationalen Zivilrechts als Scheingeschäft eingestuft wird und nichtig ist, ohne dass dargetan werden muss, dass die Voraussetzungen dafür, diesen Vorgang nach Maßgabe des Unionsrechts als fiktiven Umsatz einzustufen, erfüllt sind oder dass, wenn dieser Umsatz tatsächlich bewirkt wurde, er auf einer Mehrwertsteuerhinterziehung oder einem Rechtsmissbrauch beruht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 23. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Februar 2022, in dem Verfahren
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie
gegen
W. sp. z o.o.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und Z. Csehi,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie, vertreten durch B. Ko?odziej, D. Pach und T. Wojciechowski,
- der W. sp. z o.o., vertreten durch M. Kwietko-Bębnowski, Doradca podatkowy,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und I. Barcew als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) im Licht der Grundsätze der Steuerneutralität und der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie (Direktor der Finanzverwaltungskammer Warschau, Polen, im Folgenden: Direktor der Finanzverwaltung) und der W. sp. z o.o. über das Recht auf Abzug der auf einer Rechnung an W. vom 27. Oktober 2015 ausgewiesenen Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Art. 63 der Richtlinie 2006/112 heißt es:
„[Der] Steueranspruch [tritt] zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.”
Rz. 4
Art. 167 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”
Rz. 5
Art. 168 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…”
Rz. 6
In Art. 178 der Richtlinie 2006/112 heißt es:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;
…”
Rz. 7
Art. 273 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
Die Möglichkeit na...