Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Asyl. Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge. Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling. Verfolgungshandlungen. Strafverfolgung und Bestrafung eines Angehörigen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, der den Dienst im Irak verweigert hat
Normenkette
Richtlinie 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Buchst. b, c, e
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sind dahin auszulegen,
- dass sie alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und unterstützenden Personals erfassen,
- dass sie den Fall betreffen, in dem der geleistete Militärdienst selbst in einem bestimmten Konflikt die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich der Fälle, in denen der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Antragsteller nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde,
- dass sie nicht ausschließlich Fälle betreffen, in denen feststeht, dass bereits Kriegsverbrechen begangen wurden oder vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden könnten, sondern auch solche, in denen der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Antragsteller darzulegen vermag, dass solche Verbrechen mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen werden,
- dass die allein den innerstaatlichen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle obliegende Tatsachenwürdigung zur Einordnung der bei dem in Rede stehenden Dienst bestehenden Situation auf ein Bündel von Indizien zu stützen ist, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände – insbesondere der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers – zu belegen, dass die bei diesem Dienst bestehende Situation die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt,
- dass bei der den innerstaatlichen Behörden obliegenden Würdigung zu berücksichtigen ist, dass eine militärische Intervention aufgrund eines Mandats des Sicherheitsrats der Organisation der Vereinten Nationen oder auf der Grundlage eines Konsenses der internationalen Gemeinschaft stattfindet, und dass der oder die die Operationen durchführenden Staaten Kriegsverbrechen ahnden, und
- dass die Verweigerung des Militärdienstes das einzige Mittel darstellen muss, das es dem die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrenden Antragsteller erlaubt, der Beteiligung an den behaupteten Kriegsverbrechen zu entgehen, so dass der Umstand, dass er kein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angestrengt hat, jeden Schutz nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 ausschließt, sofern der Antragsteller nicht beweist, dass ihm in seiner konkreten Situation kein derartiges Verfahren zur Verfügung stand.
2. Die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2004/83 sind dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht davon auszugehen ist, dass die einem Militärangehörigen wegen der Verweigerung des Dienstes drohenden Maßnahmen wie eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder die Entlassung aus der Armee angesichts der legitimen Ausübung des Rechts auf Unterhaltung einer Streitkraft durch den betreffenden Staat als in einem Maß unverhältnismäßig oder diskriminierend angesehen werden könnten, dass sie zu den von diesen Bestimmungen erfassten Verfolgungshandlungen gehören würden. Dies zu prüfen ist jedoch Sache der innerstaatlichen Behörden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bayerischen Verwaltungsgericht München (Deutschland) mit Entscheidung vom 20. August 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 2. September 2013, in dem Verfahren
Andre Lawrence Shepherd
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Juni 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen