Entscheidungsstichwort (Thema)
Diskriminierung von nichtehelichen Kindern. Auswirkungen von Entscheidungen des EGMR auf das nationale Recht
Leitsatz (amtlich)
1. Der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat entschieden (EGMR Urteil vom 28. Mai 2009, Individualbeschwerde Nr. 3545/04), dass vor dem 1. Juli 1949 geborene nichteheliche Kinder diskriminiert werden, wenn sie durch Art. 12 § 10 Abs. 2 S. 1 des NEhelG von dem gesetzlichen Erbrecht und einem Erbersatzanspruch nach dem Ableben ihres Vaters ausgeschlossen sind.
2. Diese Entscheidung des EGMR ist zwar von den staatlichen Organen der Bundesrepublik Deutschland bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechtes einzubeziehen, allerdings können sich die zuständigen deutschen Gerichte nicht im Hinblick auf die Entscheidung des EGMR von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und ihrer Bindung an Gesetz und Recht (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) lösen, indem sie die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über das nationale Recht stellen.
3. Der an die Bundesrepublik Deutschland durch das vorgenannte Urteils des EGMR gerichtete Auftrag besteht darin, die Diskriminierung zu beseitigen, der die Beschwerdeführerin infolge ihres Ausschlusses von der gesetzlichen Erbfolge nach ihrem Vater ausgesetzt ist.
4. Diesen an die staatlichen Organe der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Auftrag hat die Exekutivgewalt der Bundesrepublik Deutschland in Gestalt des Bundesministeriums der Justiz erfüllt, indem sie der nichtehelichen Tochter des Erblassers eine vereinbarte Entschädigung gewährt hat. Damit ist die innerstaatliche Diskriminierung abgegolten.
Normenkette
EMRK Art. 8, 14, 43 Nr. 1, Art. 44 Nr. 2d; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 5, Art. 20 Abs. 3, Art. 100 Abs. 1; BGB § 1589 a.F., § 1924 Abs. 1; des NEhelG Art. 12 § 10 Abs. 2 S. 1
Tenor
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
3. Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird festgesetzt auf 94.828,59 Euro.
Tatbestand
A
Die am … geborene Antragstellerin ist die nichteheliche Tochter des Erblassers, der zwischen dem … und dem … in …, seinem letzten Wohnsitz, ohne Hinterlassung einer letztwilligen Verfügung verstorben ist.
Die Antragstellerin hat durch ihren notariell beurkundeten Antrag vom 16. Juni 2009 (UR.-Nr.: … des Notar …, …) beim Amtsgericht Neunkirchen die Erteilung eines Erbscheins beantragt, wonach sie den Erblasser als gesetzliche Erbin allein beerbt hat.
Sie hat die Auffassung vertreten, aufgrund des von ihr gegen die Bundesrepublik Deutschland erstrittenen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 28. Mai 2009 (Individualbeschwerde Nr. 3545/04) sei sie als die Alleinerbin des Erblassers anzusehen.
Der EGMR hat entschieden, Art. 12 § 10 Abs. 2 S. 1 des Gesetzes über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder, wonach nichteheliche Kinder – wie die Antragstellerin, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind, von dem gesetzlichen Erbrecht und einem Erbersatzanspruch nach dem Ableben ihres Vaters ausgeschlossen sind, diskriminiere die Antragstellerin.
Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention biete Menschen in vergleichbaren Situationen Schutz vor Ungleichbehandlung, wenn dafür keine objektive und angemessene Rechtfertigung bestehe. Eine unterschiedliche Behandlung im Sinne von Art. 14 der Konvention sei diskriminierend, wenn es für sie keine objektive und angemessene Rechtfertigung gebe, d.h. wenn mit ihr kein legitimes Ziel verfolgt werde oder die angesetzten Mittel zum angestrebten Ziel nicht in einem angemessenen Verhältnis stünden.
Nach Auffassung des Gerichtshofs sind die Motive des deutschen Gesetzgebers nicht mehr zeitgemäß. Die deutsche Gesellschaft habe sich – wie andere europäische Gesellschaften – erheblich weiter entwickelt und die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder entspreche heute dem rechtlichen Status ehelicher Kinder. Praktische und verfahrensmäßige Schwierigkeiten, die Vaterschaft nachzuweisen, seien nahezu vollständig entfallen und durch die deutsche Wiedervereinigung und die rechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder mit ehelichen in weiten Teilen des Bundesgebiets sei eine neue Situation entstanden.
Mit Blick auf das sich verändernde entsprechende europäische Umfeld, das bei der notwendigerweise dynamischen Auslegung der Konvention nicht außer acht bleiben dürfe, sei der Schutz des Vertrauens des Erblassers und seiner Familie dem Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder unterzuordnen.
Hinsichtlich der Situation der Antragstellerin seien weitere Erwägungen entscheidend.
Erstens habe der Erblasser der Antragstellerin seine Tochter unmittelbar nach der Geburt anerkannt und trotz der durch die Teilung der beiden deutschen Staaten bedingten schwierigen Umstände immer regelmäßigen Kontakt zu ihr gehabt. Er habe weder eine Ehefrau noch Abkömmlinge ersten Grades hinterlassen, es seien lediglich Erben dritter Ordnung vorhanden, die er offensichtlich nicht gekannt habe. Deshalb komme...