Entscheidungsstichwort (Thema)
Kollision von Fahrrad und Fußgänger auf Gehweg, der für "Radfahrer frei" gegeben ist
Leitsatz (amtlich)
1. Auf einem Sonderweg, der eine Mischung des Radverkehrs mit den Fußgängern auf einer gemeinsamen Verkehrsfläche bewirkt, haben Radfahrer auf Fußgänger Rücksicht zu nehmen. Radfahrer haben auf solchen Wegen die Belange der Fußgänger besonders zu berücksichtigen.
2. Insbesondere bei einer unklaren Verkehrslage muss gegebenenfalls per Blickkontakt eine Verständigung mit dem Fußgänger gesucht werden; soweit erforderlich, muss Schrittgeschwindigkeit gefahren werden, damit ein sofortiges Anhalten möglich ist.
3. Diese Maßstäbe gelten erst recht auf Gehwegen, die durch ein Zusatzschild für Radfahrer freigegeben sind. Das Zusatzschild "Radfahrer frei" eröffnet dem Radverkehr nur ein Benutzungsrecht auf dem Gehweg. Den Belangen der Fußgänger kommt in diesem Fall ein besonderes Gewicht zu.
Normenkette
BGB §§ 254, 276, 823; StVO § 3 Abs. 2a
Verfahrensgang
LG Hannover (Aktenzeichen 19 O 86/18) |
Tenor
I. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf bis 22.000,00 EUR festzusetzen.
II. Es wird erwogen, die Berufung der Klägerin gegen das am 8. Juli 2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
III. Der Klägerin wird Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu binnen drei Wochen seit Zugang dieses Beschlusses gegeben.
Gründe
I. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Eine Entscheidung des Berufungsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist nicht erforderlich. Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten. Die Berufung hat nach vorläufiger Beurteilung auch offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg.
Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Dabei ist der Senat gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die vom Landgericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Im vorliegenden Fall ist unter keinem der vorgenannten Gesichtspunkte eine Änderung der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts veranlasst. Das Landgericht hat die Klage jedenfalls im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgeblich:
1. Zugunsten der Klägerin kommt ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 1 Abs. 2 StVO und § 229 StGB, jeweils in Verbindung mit § 116 Abs. 1 SGB X, in Betracht.
a) Entgegen der wohl vom Landgericht vertretenen Auffassung dürfte der Beklagte fahrlässig gehandelt und so die Verletzung des Zeugen M. schuldhaft verursacht haben.
Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, § 276 Abs. 2 BGB. Die Sorgfaltsanforderungen sind für die einzelnen Handlungstypen, je nach der Größe der damit verbundenen Gefahr, unterschiedlich; sie sind nach dem jeweiligen Verkehrskreis zu bestimmen (Palandt, BGB, 78. Auflage, § 276, Rn. 17 mit Rechtsprechungsnachweisen). Auch bei Kindern und Jugendlichen gilt ein objektiver, jedoch auf die Altersgruppe abstellender Maßstab (Palandt, a.a.O. m.w.N.).
Aufgrund der Angaben des Beklagten und der Zeuginnen und Zeugen, soweit deren Aussagen ergiebig waren, und bei lebensnaher Betrachtung des Geschehensablaufs dürfte anzunehmen sein, dass der Beklagte unachtsam auf den Gehweg lief, wo es zur Kollision mit dem Zeugen M. kam. Ob der Beklagte dabei zunächst hinter dem Baum stand und überraschend dahinter hervorsprang oder zwar vor dem Baum, jedoch vom Gehweg wegblickend stand, kann dabei dahinstehen. Von einem 13-jährigen kann erwartet werden, dass er nicht blindlings auf einen Gehweg läuft, weil ein solches Verhalten andere Nutzer des Gehwegs gefährden kann. Dass der Gehweg im Bereich des Unfallorts auch für Radfahrer freigegeben ist (Zusatzzeichen VZ 1022/10), muss dabei nicht gesondert berücksichtigt werden. Denn ein achtloses Laufen auf den Gehweg ist auch geeignet, Fußgänger zu gefährden. Der Umstand, dass der Beklagte mit einem anderen Kind spielte, entlastet ihn im Zusammenhang mit den maßgeblichen Sorgfaltsanforderungen und der Frage, ob diese beachtet wurden, nicht.
b) Letztlich kann allerdings auch dahinstehen, ob dem Beklagten ein Schuldvorwurf zu machen ist. Denn jedenfalls hat der Kläger durch sein Verhalten den Unfall und damit seine Verletzungen derart überwiegend verursacht, dass ein Verschulden des Beklagten jedenfalls gemäß § 254 Abs. 1 BGB vollständig zurücktritt.
aa) Zutreffend ist das Landgericht insofern davon ausgegangen, dass gemäß § 254 Abs. 1 BGB in dem Fall, dass bei Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt ...