Entscheidungsstichwort (Thema)

Verzicht auf Antrag auf Verweisung an die KfH - Bindungswirkung dennoch ergangenen Verweisungsbeschlusses

 

Leitsatz (amtlich)

1. Verweist die Zivilkammer den Rechtsstreit auf Antrag des Beklagten ohne Auseinandersetzung mit einem vor dem Antrag erklärten Verzicht des Beklagten auf sein Antragsrecht an die Kammer für Handelssachen, ist der Verweisungsbeschluss willkürlich und nicht bindend.

2. Erklärt der Beklagte den Verzicht auf die Stellung eines Verweisungsantrags nach § 98 Abs. 1 GVG, verliert er sein Antragsrecht und wird die Zuständigkeit der Zivilkammer perpetuiert.

 

Normenkette

GVG § 98 Abs. 1, § 102; ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, §§ 38, 281

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Verfügung vom 04.10.2022; Aktenzeichen 2-19 O 151/22)

LG Frankfurt am Main (Verfügung vom 27.12.2022; Aktenzeichen 3-09 O 68/22)

 

Tenor

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Zuständig ist die 19. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main.

 

Gründe

I. Die Parteien sind Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Die Klägerin macht mit ihrer zum Landgericht Frankfurt am Main erhobenen Klage vertragliche Schadensersatzansprüche geltend, wegen - so die Klägerin - grob fahrlässigen Verhaltens bzw. grob fahrlässiger Untätigkeit der von der Beklagten in Erfüllung der vertraglichen Leistung bei der Klägerin eingesetzten Personalleiterin ad interim. Die Klägerin hat bei Klageerhebung keine Verhandlung vor der Kammer für Handelssachen beantragt, so dass die Sache der 19. Zivilkammer zugewiesen wurde. Deren Vorsitzender hat mit Verfügung vom 4.10.2022, Bl. 108 ff. d.A., das schriftliche Vorverfahren angeordnet, die Frist zur Anzeige der Verteidigungsabsicht auf zwei und die Frist zur Klageerwiderung auf weitere vier Wochen festgesetzt sowie - im Original durch Unterstreichung und in der Abschrift durch Fettdruck und Unterstreichung hervorgehoben - darauf hingewiesen, "dass für den vorliegenden Rechtsstreit die Kammern für Handelssachen zuständig sind" und "angefragt, ob die Beklagtenseite Verweisung beantragt". Mit am 10.10.2022 per beA eingegangenem Schriftsatz gleichen Datums hat die Beklagte Verteidigungsabsicht angezeigt, Klageabweisung beantragt und ausgeführt: "Bezugnehmend auf den gerichtlichen Hinweis der Zuständigkeit der Handelskammer erklären wir weiter, dass im Sinne einer Beschleunigung des Verfahrens auf die Verweisung verzichtet wird."

Mit nur per Telefax eingereichtem Schriftsatz vom 13.11.2022, Bl. 126 f. d.A., hat die Beklagte die Verlängerung der Klageerwiderungsfrist bis zum 19.12.2022 beantragt. Diesem Antrag hat der Vorsitzende der 19. Zivilkammer mit Verfügung vom 15.11.2022, Bl. 128 d.A., mit dem Zusatz stattgegeben, der Antrag auf Verweisung an die Kammer für Handelssachen möge bereits früher gestellt werden. Mit Schriftsatz vom 05.12.2022, Bl. 131 d.A., hat die Beklagte sodann unter "Bezug auf den erneuten gerichtlichen Hinweis der Verweisungsoption" "demgemäß" Verweisung an die Kammer für Handelssachen beantragt. Mit Schriftsatz vom 12.12.2022, Bl. 133 d.A., hat die Klägerin dem zugestimmt. Mit Beschluss vom 14.12.2022, Bl. 135 d.A., hat sich die 19. Zivilkammer für funktionell unzuständig erklärt und die Sache an die Kammer für Handelssachen verwiesen. Zur Begründung gibt der Beschluss nur die "§§ 98, 95 GVG, §§ 343, 344 HGB" an.

Mit Verfügung vom 27.12.2022, Bl. 141 d.A., hat die Vorsitzende der 9. Kammer für Handelssachen, der die Sache nunmehr zugewiesen worden war, auf Bedenken hinsichtlich der Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen und der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses hingewiesen. Die Parteien haben sich sodann - wie auch vor dem Senat - für eine Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen ausgesprochen. Mit Beschluss vom 06.03.2023, Bl. 206 ff. d.A., hat sich die 9. Kammer für Handelssachen für unzuständig erklärt und die Sache wieder an die allgemeine Zivilkammer zurückverwiesen. Sie hat den Verweisungsbeschluss als nicht bindend und fehlerhaft angesehen, weil die Beklagte auf die Verweisung verzichtet habe.

Sodann hat der Vorsitzende der 19. Zivilkammer mit der (nicht datierten) Verfügung Bl. 217 f. d.A. die Sache unter Verteidigung des Verweisungsbeschlusses der 19. Zivilkammer dem Senat zur Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 I Nr. 6 ZPO vorgelegt.

II. 1. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main ist zur Entscheidung über die Vorlage analog § 36 I Nr. 6 ZPO berufen, da das Landgericht Frankfurt am Main zum hiesigen Bezirk gehört.

2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung analog § 36 I Nr. 6 ZPO liegen vor.

§ 36 I Nr. 6 ZPO findet analoge Anwendung, wenn ein Zuständigkeitskonflikt zwischen zwei Spruchkörpern aufgrund gesetzlicher Zuständigkeitsregelungen besteht (BGH, Beschluss vom 26.07.2022 - X AR 3/22, juris). Voraussetzung einer Zuständigkeitsbestimmung ist dabei, dass sich beide Spruchkörper "rechtskräftig" für unzuständig erklärt haben. Die Entscheidung darf für die Parteien nicht mit Rechtsbehelfen angreifbar sein und muss verbindlich sein. Letzteres wir...

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