Leitsatz (amtlich)
- Eine tatsächliche Verhinderung des Vormunds als Voraussetzung für eine Ergänzungspflegschaft nach § 1909 BGB ist bei mangelnder Sachkenntnis auf dem Gebiet der asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten noch nicht anzunehmen (im Anschluss an BGH FamRZ 2013, 1206).
- Dem Beschwerdegericht ist die Frage, ob ein Mitvormund gem. §§ 1775, 1779 BGB zu bestellen ist, auch zur Entscheidung angefallen, wenn mit der Beschwerde nur beanstandet wird, dass der Antrag auf Bestellung eines Ergänzungspflegers zurückgewiesen wurde, denn die alternative Anordnung der Mitvormundschaft obliegt dem Gericht erforderlichenfalls, ohne dass ein entsprechender Antrag gestellt werden muss.
- Dem unbegleitet eingereisten ausländischen Jugendlichen ist gem. §§ 1775, 1779 Abs. 2 BGB ein Mitvormund in Person eines Rechtsanwalts für die Betreuung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten zu bestellen, wenn das mangels geeignetem Einzelvormund grundsätzlich als Vormund zu bestellende Jugendamt selbst nachvollziehbar darlegt, für diesen Wirkungskreis nicht die notwendige Sachkunde zu besitzen (vgl. Bienwald, FamRZ 2013, 1209; a.A. OLG Frankfurt, 5 UF 310/13, BeckRS 2014, 00215; offengelassen OLG Frankfurt, 2 UF 320/13, BeckRS 2014, 00214).
- Gemäß Art. 6 Abs. 2 EU VO Nr. 604/13 muss der Vertreter über eine entsprechende Qualifikation und Fachkenntnisse verfügen, "um zu gewährleisten, dass dem Wohl des Minderjährigen während der nach dieser Verordnung durchgeführten Verfahren Rechnung getragen wird". Damit ist klargestellt, dass der Vertreter des Minderjährigen selbst über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügen muss und es nicht erst von der Einschätzung eines nach eigenem Bekunden in ausländerrechtlichen Fragen nicht ausreichend fachkundigen Vormunds abhängen darf, ob er im Einzelfall den Beratungsbedarf erkennt bzw. eine rechtliche Vertretung seines Mündels in asyl- oder ausländerrechtlichen Angelegenheiten für erforderlich hält und dafür sorgt.
- Zwar muss im Hinblick auf die umzusetzenden europarechtlichen Vorgaben künftig dafür Sorge getragen werden, bei den Jugendämtern speziell ausgebildete Juristen als Amtsvormünder mit den notwendigen Fachkenntnissen einzusetzen; solange diese Voraussetzungen aber nicht erfüllt sind, kann dies nicht zu Lasten der unbegleiteten Jugendlichen gehen, denen andernfalls eine unmittelbare ausreichende Vertretung in ihren asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten vorenthalten würde.
Normenkette
BGB §§ 1775, 1779 Abs. 2, § 1797 Abs. 2, § 1909; EUV 604/2013 Art. 6
Verfahrensgang
AG Bensheim (Beschluss vom 01.10.2013; Aktenzeichen 72 F 454/13 SO) |
Tenor
Auf die Beschwerden des Jugendamtes des Kreises ..., ASD, und des Amtsvormundes vom 11.11.2013 wird der angefochtene Beschluss abgeändert und wie folgt neu gefasst. Es wird bezüglich des Minderjährigen ..., geboren am ... 11.1996, das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt. Das Jugendamt des Kreises ... wird zum Amtsvormund mit Ausnahme des Wirkungskreises der asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten bestellt. Als Mitvormund für den Wirkungskreis der asyl- und ausländer-rechtlichen Angelegenheiten wird Rechtsanwältin ... bestellt. Diese übt ihr Amt berufsmäßig aus. * Gerichtsgebühren für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Beschwerdewert: 3.000 EUR
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I. Der am ... 11.1996 in Kabul/Afghanistan geborene betroffene Jugendliche, der nach seinen Angaben in Kabul entführt und dessen Familie danach erpresst worden sein soll, reiste nach zwischenzeitlicher Flucht der Familie nach Pakistan am 26.8.2013 ohne gültige Reisedokumente oder Personalpapiere in die Bundesrepublik ein. Die Einreise erfolgte mit Hilfe einer Schlepperbande; die Familie des Minderjährigen verblieb in Pakistan, zu ihr besteht derzeit keinerlei Kontaktmöglichkeit. Der Jugendliche begab sich nach seiner Einreise zu seiner Tante ..., die aber nicht in der Lage ist, ihrem Neffen dauerhaft Unterkunft zu gewähren oder gar die Vormundschaft zu übernehmen. Deshalb wurde der Jugendliche am 27.8.2013 vom Jugendamt ... in Obhut genommen, welches mit Antrag vom 28.8.2013 das Feststellen des Ruhens der elterlichen Sorge, die Einsetzung eines Vormundes sowie die Bestellung eines Ergänzungspflegers für die asyl- und ausländerrechtlichen Belange beantragte.
Das AG hat den Jugendlichen persönlich angehört und durch Beschluss vom 1.10.2013 das Jugendamt ... zum Amtsvormund bestellt. Den Antrag, einen Rechtsanwalt als Ergänzungspfleger für die asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten zu bestellen hat es unter Verweis auf die Entscheidung des BGH v. 29.5.2013 - XII ZB 530/11, zurückgewiesen. Gegen den dem Jugendamt als zuständige Fachbehörde (ASD) am 15.10.2013 zugestellten Beschluss wendet sich der Amtsvormund mit seiner am 29.10.2013 beim AG eingegangenen Beschwerde sowie das Jugendamt in seiner Funktion als ASD mit seiner am 11.11.2013 beim AG eingelegten Beschwerde. Beide we...