Leitsatz (amtlich)
1. Voraussetzung des Vorliegens eines Überbaus ist es nach § 912 Abs. 1 BGB, dass der Eigentümer eines Grundstücks bei der Errichtung eines Gebäudes über die Grenze gebaut hat. Sind Feststellungen über die Absichten und Interessen des Erbauers nicht möglich, muss auf die objektiven Gegebenheiten zurückgegriffen werden, wobei diese auch die Vermutung rechtfertigen können, dass sie den Absichten des Erbauers entsprechen. Als objektive Kriterien kommen die wirtschaftliche Interessenlage, die Zweckbeziehung des überbauten Gebäudes und die räumliche Erschließung durch einen Zugang in Betracht. Maßgeblich sind bei einem älteren historischen Baukörper nach Art. 181 Abs. 1 EGBGB die tatsächlichen Verhältnisse bei In-Kraft-Treten des BGB.
2. Eine feste Verbindung des Überbaus mit dem überbauten Grundstück ist nicht erforderlich; es genügt eine Nutzung des Nachbargrundstücks im Luftraum über der Erdoberfläche. Das Bestehen einer festen Verbindung zum Nachbargrundstück ist aber auch nicht schädlich. Auf die Frage, ob der Baukörper im Sinne eines wesentlichen Bestandteils (§ 94 BGB) mit dem überbauten Grundstück verbunden ist, kommt es nicht an.
3. Eine sinngemäße Anwendung der §§ 912 ff. BGB erfolgt auch dann, wenn das Grundstück, das überbaut wurde, sowie das Grundstück, von dem aus der Überbau erfolgt ist, zunächst in einer Hand gewesen sind, also ein sog. Eigengrenzüberbau vorliegt. Beim Eigengrenzüberbau ist der Eigentümer der in Betracht kommenden Grundstücke nicht an die zuvor bestehende Zuordnung der Gebäudesubstanz zu einem bestimmten Grundstück gebunden. Die Folgen eines Überbaus können abweichend von § 912 BGB und in Abänderung der ursprünglich vorgenommenen Zuordnung des Erbauers bestimmt werden. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Zuordnung des Überbaus ist deshalb beim Eigengrenzüberbau derjenige, in dem die vom Überbau betroffenen Grundstücke in verschiedene Hände gelangt sind.
Normenkette
BGB §§ 93-94, 912; EGBGB § 181 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Limburg a.d. Lahn (Urteil vom 18.03.2005; Aktenzeichen 1 O 97/04) |
Tenor
Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Einzelrichters der 1. Zivilkammer des LG Limburg an der Lahn vom 18.3.2005 (1 O 97/04) wird zurückgewiesen.
Die Kläger haben die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Den Klägern wird jedoch gestattet, die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Die Beschwer der Kläger beträgt 24.000 EUR. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Kläger, Eigentümer des Grundstücks Flur..., Flurstück ..., eingetragen im Grundbuch von O1 Bl. ... (Xstraße1) in O1, begehren die Feststellung, dass sie auch Eigentümer eines als "A" (in älteren Dokumenten auch als "B") bezeichneten überbrückenden Gebäudeteils über dem im Eigentum der Beklagten zu 1) stehenden Straßengrundstück "C" (Flur... Flurstück ..., eingetragen im Grundbuch von O1, Blatt ..., lfd. Nr. ...) seien.
Der umstrittene Gebäudeteil in der Altstadt von O1 ist mit den angrenzenden Gebäuden auf dem Grundstück der Kläger (Xstraße1) einerseits und andererseits dem Grundstück Flur... Flurstück ..., eingetragen im Grundbuch von O1 Blatt ... (Xstra-ße2) der Beklagten zu 2) fest verbunden. Überbaut ist an dieser Stelle seit alters her ein Durchgang von der Gasse "C" durch die historische Stadtmauer in Richtung ... (heute: zur Straße "D"). Zur näheren Beschreibung wird auf die Seiten 3 und 4 des Tatbestandes des angefochtenen Urteils sowie die vorgelegten Fotografien (Bl. 42 f. d.A.) Bezug genommen.
In den Bestandsverzeichnissen der Grundbuchblätter der vorbezeichneten Grundstücke der Parteien ist der Gebäudeteil keinem der beteiligten Grundstücke zugeordnet. Die Beklagte zu 1) bewilligte allerdings als Eigentümerin der Gasse "C" durch Bewilligung vom 14.8.1992 (Bl. 214 d.A.) die Eintragung einer im Grundbuch (Blatt ... Abt. II Nr. ... bzw. Blatt ... Bestandsverzeichnis) eingetragenen Dienstbarkeit, nach deren Inhalt der jeweilige Eigentümer des Grundstücks Xstraße2 (damals noch Flur..., Flurstück ..., jetzt Flur..., Flurstück ...) berechtigt sein sollte, den Gebäudeteil "A" unentgeltlich zu nutzen.
In zu den Akten gereichten Kopien oder Fotografien historischer und aktueller Verzeichnisse bzw. Darstellungen wurde der Überbau der C unterschiedlich zuordnet, überwiegend den Grundstücken X.-straße 1 und 2:
- In dem "Parzellar Plan" der Stadt O1 vom 12. Januar 1825 - Flur ... - (Bl. 7 d.A.) sowie einem Plan im "Deutschen Städteatlas" von 1984 (Bl. 8 d.A.) ist der Gebäudeteil über die Gasse dem heutigen Grundstück der Kläger zugehörig eingezeichnet.
- Weitere Flurkarten aus den Jahren 1824, 1863 und 1878 aus dem ... Staatsarchiv (Bl. 236, 237 f. und 239d.A.), in denen der Gebäudeteil dem heutigen Grundstück der Kläger zugehörig dargestellt wurde;
- Im Katasterplan nach der preußischen Landvermessung von 187...