Entscheidungsstichwort (Thema)
Anscheinsbeweis der Unfallverursachung gegen alkoholisierten Fahrer
Leitsatz (amtlich)
Ereignet sich ein Unfall in einer Verkehrslage und unter Umständen, die ein nüchterner Fahrer hätte meistern können, spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass die Trunkenheit für den Unfall ursächlich war.
Verfahrensgang
LG Gießen (Urteil vom 02.03.2023; Aktenzeichen 5 O 526/20) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Gießen vom 2. März 2023 - unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten sowie der weitergehenden Berufung der Klägerin - abgeändert.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von EUR 52.500,00 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 26. Oktober 201X zu zahlen.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin EUR 5.633,25 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26. Oktober 201X zu zahlen.
Darüber hinaus werden die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 1.954,46 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26. Oktober 201X zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin drei Viertel ihres materiellen und immateriellen Zukunftsschadens aus Anlass des Verkehrsunfalls vom 20. Juli 201X gegen 20:04 Uhr auf der Straße1 in Stadt1 zu ersetzen.
Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits im ersten und im zweiten Rechtszug haben die Beklagten als Gesamtschuldner zu 69 % und die Klägerin zu 31 % zu tragen.
Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Beiden Parteien bleibt jeweils nachgelassen, die Zwangsvollstreckung seitens der jeweils anderen Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, sofern nicht die entsprechende Partei vor Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld aus einem Verkehrsunfall.
Der Unfall ereignete sich am 20. Juli 201X kurz nach 20:00 Uhr in Stadt1 auf der Straße1 (B ...).
Der Beklagte zu 1 befuhr mit dem Fahrzeug Marke1 Typ1 mit dem amtlichen Kennzeichen ... die Straße1 stadteinwärts. Das Fahrzeug ist bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversichert.
Die Klägerin war mit weiteren Personen als Fußgängerin unterwegs und wollte die Straße1 von rechts nach links (aus Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 gesehen) überqueren.
Die Straße1 (B ...) wird in diesem Bereich von der Straße Straße2 gekreuzt. Die Kreuzung ist mit einer Lichtzeichenanlage geregelt. Auch für die Fußgänger ist an der Stelle, an der die Klägerin die Straße1 überqueren wollte, eine Fußgängerampel vorhanden. Allerdings sieht die Ampelschaltung vor, dass um 20:00 Uhr zunächst die Lichtzeichenanlage für alle Fahrtrichtungen (und auch für die Fußgänger) für kurze Zeit auf Rot geschaltet und sodann ausgeschaltet wird, während für den Verkehr der Straße Straße2 noch gelbes Blinklicht gezeigt wird.
Die Klägerin stand mit der sie begleitenden Fußgängergruppe am Fahrbahnrand der Straße1. Die Fußgängerampel zeigte Rotlicht. Als die Ampel ausgeschaltet wurde, begann die Klägerin, die Straße1 zu überqueren und wurde, bevor sie noch die in der Mitte zwischen beiden Fahrbahnen befindliche Verkehrsinsel erreicht hatte, von dem Fahrzeug des Beklagten zu 1 erfasst und in die Höhe geschleudert.
Der Beklagte zu 1 war zum Unfallzeitpunkt mit einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,96 Promille alkoholisiert.
Die Klägerin erlitt diverse schwere Verletzungen. Auf den Inhalt des Arztberichts vom 17. August 201X der Klinik1 Stadt2 (BI. 22 f. d. A.) wird Bezug genommen.
Die Klägerin wurde bis zum 18. August 201X in der Klinik1 stationär behandelt. In der Zeit vom 26. September 201X bis zum 27. Oktober 201X befand sich die Klägerin in einer Anschlussheilbehandlung in der Klinik2 Stadt3. In der Zeit vom 13. März bis zum 20. März 201Y erfolgte eine weitere stationäre Behandlung der Klägerin in der Klinik1 zur operativen Metallentfernung.
Die Höhe des materiellen Schadens haben die Parteien - mit Ausnahme des Haushaltsführungsschadens - im zweiten Rechtszug unstreitig gestellt. Dieser beläuft sich - ohne den geltend gemachten Haushaltsführungsschaden - auf insgesamt EUR 6.991,00 und setzt sich zusammen aus:
1. Kosten für den Ersatz bzw. die Reinigung von beschädigter bzw. verschmutzter Kleidung in Höhe von EUR 270,00,
2. Kosten für die die Anschaffung einer neuen Brille in Höhe von EUR 382,60,
3. Kosten für die die Anschaffung eines Hörgeräts in Höhe von EUR 1.390,00,
4. Zuzahlungen für Medikamente, Krankentransporte, Krankengymnastik etc. von insgesamt EUR 1.070,65,
5. Fahrtkosten zum Arzt oder zur Krankengymnastik in Höhe von EUR 532,20,
6. Verdienst...