Leitsatz (amtlich)
Eine Sichtprüfung von hohen Straßenbäumen mit großer Krone (hier: 26m hohe Linde mit schwerer Krone mit spitzwinkligen Gabelungen) nach der sog. VTA-Methode genügt den Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht dann nicht, wenn sie aus einem mit 20 km/h fahrenden Fahrzeug allein durch den Fahrzeugführer erfolgt.
Verfahrensgang
LG Münster (Urteil vom 16.02.2004; Aktenzeichen 11 O 150/03) |
Tenor
Die Berufung des Beklagten (Fiskus) gegen das am 16.2.2004 verkündete Urteil der 11 Zivilkammer des LG Münster wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsmittels werden dem Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Der Kläger stellte am Morgen des 22.7.2002 seinen Pkw Golf auf dem Parkplatz der Firma X. in der S.-Straße in X. ab. An der Straße J. (L 551) steht südlich der Einmündung der S.-Straße eine Linde, deren Äste z.T. auf den vorgenannten Parkplatz hinüberragen. Von diesem Baum brach ein gut armdicker und unbelaubter etwa 3,40 m langer Ast ab, fiel auf den Pkw des Klägers, zerbrach dabei in mehrere Teile und führte zu Schäden an Heckklappe und Heckfenster des Fahrzeuges.
Der Kläger behauptet, die Baumkontrolle sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden; anderenfalls die Bruchgefahr des Astes erkennbar gewesen. Dies folge daraus, dass der abgebrochene Ast morsch und erkennbar bereits seit längerem abgestorben gewesen sei. Mit seiner Klage begehrt der Kläger Ersatz seines mit 1.075,32 Euro bezifferten Schadens (Selbstbeteiligung Kasko: 511 Euro; Wertminderung: 250 Euro; Nutzungsausfallentschädigung 6 × 34 = 204 Euro; Auslagenpauschale: 25 Euro).
Der beklagte Fiskus tritt diesem Begehren entgegen. Er behauptet, er habe die Linde zweimal im Jahr in belaubtem und unbelaubtem Zustand, zuletzt am 18.7.2002, kontrollieren lassen. Dabei hätten keine Umstände vorgelegen, die z.B. auf einen trockenen Ast oder sonstige eine Bruchgefahr anzeigende Auffälligkeiten hingewiesen. Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer eingehenden Untersuchung hätten nicht vorgelegen.
Das LG hat nach Zeugenvernehmungen und Einholung eines baumfachmännischen Sachverständigengutachtens der Klage stattgegeben. Es hat eine hinreichende Sichtkontrolle der schadenursächlichen Linde (durch bloße Beobachtung aus einem fahrenden Fahrzeug) verneint und als bewiesen angesehen, dass der abgebrochene Ast aufgrund seiner Defektsymptome bei Durchführung der gebotenen Sichtprüfung (mit einem Fernglas) als bruchgefährdet hätte erkannt werden können. Abgesehen von dieser Feststellung hat es bezüglich der Kausalität der Pflichtverletzung für den Schaden eine Beweislastumkehr zu Lasten des Beklagten (anlog zum sog. groben ärztlichen Behandlungsfehler) bejaht.
Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger seinen bisherigen Klageantrag in vollem Umfang weiter. Er rügt die vom LG geforderte Art und Weise der Sichtprüfung (Beobachtung durch Fernglas) und beanstandet die erstinstanzliche Beweiswürdigung, soweit eine Erkennbarkeit der Bruchgefahr des unfallursächlichen Astes festgestellt worden ist. Schließlich hält er die vom LG angenommene Beweislastumkehr zu seinen Lasten für rechtlich unzutreffend.
II. Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Der Beklagte haftet dem Kläger wegen Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflicht nach § 839 BGB i.V.m. §§ 9, 9a StrWG NW, Art. 34 GG für den durch den abgebrochenen Ast entstandenen Schaden.
1. Zu Recht hat das LG die von Bediensteten des Beklagten durchgeführten Kontrollen der schadenursächlichen Linde als unzureichend bewertet.
Nach gefestigter Rechtsprechung, die auch von den Parteien nicht in Frage gestellt wird, reicht zur Kontrolle im Regelfall zwar eine in angemessenen Abständen vorgenommene äußere Sichtprüfung, bezogen auf die Gesundheit und Standsicherheit des Baumes aus, wenn dabei keine konkreten Defektsymptome des jeweiligen Baumes - wie etwa spärliche oder trockene Belaubung, dürre Äste, äußere Verletzungen, Wachstumsauffälligkeiten oder Pilzbefall - erkennbar sind (vgl. etwa OLG Hamm, Urt. v. 4.2.2003 - 9 U 144/02, OLGReport Hamm 2003, 268 = MDR 2003, 932 = VersR 2003, 1452 m.w.N.; BGH v. 4.3.2004 - III ZR 225/03, MDR 2004, 806 = BGHReport 2004, 869 = VersR 2004, 877 [878] m.w.N.; OLG Hamm v. 10.12.1996 - 9 U 128/96, OLGReport Hamm 1997, 67 = VersR 1997, 1148 m.w.N.). Diese Sichtprüfung muss jedoch in Form einer fachlich qualifizierten Inaugenscheinnahme des Baumes vom Boden aus durchgeführt werden, wobei sich die seit 1991 bekannte VTA-Methode ("Visual Tree Assessment" bewährt hat (vgl. Hötzel, Agrarrecht 1996, 76 ff.).
Diesen Anforderungen hat die im Streitfall durchgeführte Sichtprüfung nicht genügt, da die betreffende - ca. 26 m hohe - Linde nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bei dem letzten Kontrollzeitpunkt vor dem Schadenfall (18.7.2002) nicht zu Fuß, sondern aus einem langsam fahrenden Fahrzeug heraus kontrolliert worden war. Der Zeuge T, Straßenwärter des Beklagten, hat vor dem LG ausgesagt, die standardgemäße Baumkontrolle finde aus dem Fahrzeug h...