Leitsatz (amtlich)

1. Zur Darlegung einer vom Fahrzeughersteller begangenen vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§ 826 BGB) bei der Verwendung eines Emissionskontrollsystems, dessen Steuerung ein sog. "Thermofenster" zur temperaturabhängigen Reduktion der Abgasrückführung und eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung umfasst.

2. Im vorliegenden Fall besteht ein Anspruch auf Ersatz eines nach Maßgabe der Differenzhypothese entstandenen Vermögensschadens nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 5 VO 715/2007/EG und den Vorschriften der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung, insbesondere § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG FGV, wegen der Erteilung einer unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung aufgrund der Verwendung des "Thermofensters" und der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung.

3. Voraussetzung für eine Entlastung vom diesbezüglichen Fahrlässigkeitsvorwurf ist nicht nur die Unvermeidbarkeit eines (hypothetischen) Verbotsirrtums, sondern zunächst das Vorliegen des Verbotsirrtums als solchen beim Schädiger.

4. Die Höhe des Differenzschadens wird im vorliegenden Fall auf 10 % des Kaufpreises geschätzt.

5. Der Schaden ist im vorliegenden Fall nicht durch den Umstand gemindert, dass für das Fahrzeug ein Software-Update zur Verfügung steht, nach dem die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung entfernt sein mag. Der erstmals im Berufungsverfahren gehaltene Vortrag der Beklagten, durch ein im Jahr 2019 angebotenes Software-Update hätte der Temperaturbereich, ab dem eine Reduktion der Abgasrückführung stattfindet, auf - 10 Grad Celsius und 40 Grad Celsius geändert werden können, blieb im vorliegenden Fall nach § 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO, § 531 Abs. 2 ZPO unberücksichtigt.

6. Zur Schätzung der vom Kläger gezogenen Nutzungsvorteile schätzt der Senat die zu prognostizierende Gesamtlaufleistung des hier gegenständlichen Fahrzeugs unter Berücksichtigung des Fahrzeugtyps und des Baujahrs auf 250.000 km. Für die Berechnung der tatsächlich gezogenen Nutzungsvorteile ist nicht auf den um den Differenzschaden verminderten Wert des Fahrzeugs bei Vertragsschluss, sondern auf den gezahlten Kaufpreis abzustellen.

7. Im Fall der Weiterveräußerung tritt im Rahmen der Vorteilsausgleichung der erzielte marktgerechte Verkaufspreis des Fahrzeugs an die Stelle des Restwertes.

8. Eine den Beginn der Verjährung nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB auslösende wenigstens grob fahrlässige Unkenntnis des Gläubigers von der anspruchsbegründenden Unrichtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung vor dem Jahr 2017 ist hier nicht dargelegt.

9. Zwischen dem Hersteller und dem Erwerber eines Fahrzeugs kommt mit der Ausstellung der EG-Übereinstimmungsbescheinigung kein Garantievertrag gemäß § 443 BGB zustande (Bestätigung von OLG Karlsruhe, Urteil vom 26. Januar 2022 - 6 U 128/20, juris Rn. 44).

10. Es bleibt dahingestellt, ob der Käufer eines Fahrzeugs gegen einen am Kaufvertrag nicht beteiligten Hersteller einen Anspruch nach § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 3 BGB auf Ersatz des Vertrauensschadens wegen der Hinausgabe einer unzutreffenden EG-Übereinstimmungsbescheinigung hat. Ein solcher Anspruch kann jedenfalls ohne Arglist des Herstellers nicht zu einem weitergehenden Ersatz führen als der aufgrund derselben Handlung in Betracht kommende deliktische Anspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG FGV.

 

Verfahrensgang

LG Mannheim (Urteil vom 02.07.2021; Aktenzeichen 9 O 367/20)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 02. Juli 2021, Az. 9 O 367/20, im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen wie folgt geändert:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.851,81 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 08.12.2020 zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die weitergehende Berufung der Klägerin gegen das vorbezeichnete Urteil wird zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 7/8 und die Beklagte zu 1/8.

IV. Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jede Partei kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des gegen sie vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

A. Die Klägerin nimmt die beklagte Herstellerin des von ihr aufgrund Kaufvertrags vom November 2011 mit einer Laufleistung von 13.155 km bei Übergabe im Dezember 2011 erworbenen Fahrzeugs der Handelsbezeichnung X zuletzt u.a. auf Teilrückzahlung in Höhe von 15.434,78 EUR - hilfsweise in Höhe von 7.575,00 EUR - des von ihr geleisteten Kaufpreises von 50.500 EUR in Anspruch, gestützt auf insbesondere die behauptete Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Emissionskontrolle.

Im Namen der Beklagten wurde die als Anlage K 12 vorgelegte EG-Übereinstimmungsbescheinigung ausgegeben, auf deren Inhalt ebenfalls Bezug genommen wird, und der Klägerin übergeben. Für d...

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