Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Anspruch auf Vergütung bzw. Schadensersatz für die Anordnung eines Verteilnetzbetreibers zur Reduzierung der Stromeinspeisung an den Betreiber einer Müllverbrennungsanlage, mit der zugleich Strom mit einer installierten elektrischen Leistung von 23,3 MW erzeugt wird, im Zeitraum vom 01.01.2011 bis zum 31.12.2016

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die rechtliche Qualität der vom jeweiligen Netzbetreiber ergriffenen Maßnahme kommt es nicht darauf an, ob eine Abregelung der Stromeinspeisung in technischer Hinsicht mittelbar (durch die Übersendung eines Signals mit genauen Festlegungen zur Einspeisereduzierung in zeitlicher und leistungsmäßiger Hinsicht und händische - mehr oder weniger "freiwillige" - Umsetzung der Anordnung durch den Anlagenbetreiber) oder unmittelbar (durch eine Durchgriffs-Steuermöglichkeit des Netzbetreibers bezüglich der Stromerzeugung bzw. der Stromeinspeisung) erfolgte.

2. Für die Einordnung einer Abregelung der Stromeinspeisung durch den Netzbetreiber als marktbezogene oder als Notfallmaßnahmen i.S. von § 13 EnWG ist maßgeblich, auf welcher Grundlage der Netzbetreiber seinen Eingriff vornahm, d.h. wie er ihn rechtfertigte.

3. Die Vorschrift des § 13 Abs. 1a EnWG i.d.F. vom 26.07.2011 war auf konventionelle Stromerzeugungsanlagen mit einer Nennleistung von unter 50 MW nicht, auch nicht entsprechend anwendbar.

4. Mit den Vorschriften des § 13 Abs. 1a EnWG i.d.F. vom 20.12.2012 und des § 13a Abs. 1 EnWG i.d.F. vom 26.07.2016 wurde den Netzbetreibern ein Recht zur Begründung eines gesetzlichen Schuldverhältnisses über Maßnahmen des Netzsicherheitsmanagements als marktbezogene Maßnahme eingeräumt, welches durch eine zunehmende Inanspruchnahme in der Praxis die Notwendigkeit des Rückgriffs auf Notmaßnahmen i.S.v. § 13 Abs. 2 EnWG reduzieren sollte. Das Ergreifen von Notmaßnahmen war auch gegenüber dem Adressatenkreis des § 13 Abs. 1a EnWG 2012 bzw. des § 13a Abs. 1 EnWG 2016 weiterhin zulässig.

5. Zur fehlenden Pflichtwidrigkeit des Rückgriffs eines Verteilnetzbetreibers auf die Befugnis nach § 13 Abs. 2 EnWG im Einzelfall.

 

Verfahrensgang

LG Halle (Saale) (Urteil vom 06.06.2019; Aktenzeichen 8 O 103/17)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 07.11.2023; Aktenzeichen EnZR 27/20)

 

Tenor

Auf die Berufung I der Beklagten und auf die Berufung II der Streithelferin der Beklagten wird das am 6. Juni 2019 verkündete Grund- und Teilurteil der 2. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Halle teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Berufung III der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen einschließlich der Kosten der Streithelferin der Beklagten hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldnerin kann die Zwangsvollstreckung durch jede der Vollstreckungsgläubigerinnen jeweils durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

A. Die Klägerin begehrt von der Beklagten Zahlungen für Maßnahmen zur Abregelung von Stromeinspeisungen in den Jahren 2011 bis 2016.

Die Klägerin betreibt (anfangs unter der Fa. E. GmbH) in G. (N. / Land B.) eine thermische Abfallverwertungsanlage (künftig: MVA), mit der sie Strom und Wärme erzeugt. Die installierte elektrische Leistung (sog. Nennleistung) beträgt 23,3 MW. Den nicht selbst verbrauchten Strom speist die Klägerin in das Verteilnetz der Beklagten (bis zum 29.12.2011 das Netz von deren Rechtsvorgängerin, der V. GmbH) ein (künftig: VNB). Die Streithelferin auf Seiten der Beklagten ist die vorgelagerte Übertragungsnetzbetreiberin (künftig: ÜNB).

Die Beklagte betreibt in ihrem Verteilnetz seit dem 01.07.2005 ein Netzsicherheitsmanagement (NSM), im Rahmen dessen sie die Betreiber von Stromerzeugungsanlagen durch ein Funk-Rundsteuersignal zu einer Reduzierung der Stromeinspeisung in einem von ihr bestimmten zeitlichen und leistungsmäßigen Umfang anweisen kann und der jeweilige Anlagenbetreiber diese Anordnung bei sich händisch umsetzt (sog. Abregelung). Die Klägerin nimmt an diesem NSM teil.

Ab dem Jahr 2011 kam es im Rahmen der Gewährleistung der Netz- und Systemsicherheit wegen Netzengpässen vielfach zu von der Beklagten geforderten Abregelungen der Stromeinspeiseleistung der Klägerin, wobei die Beklagte teilweise auch an sie gerichtete Anforderungen der Streithelferin umsetzte. Dabei handelte es sich mindestens um 263 Abregelungen bis zum Ende des Jahres 2016 (vgl. Aufstellung der Klägerin nach Jahren in Anlagen K 2 ≪2011 ≫ bis K 7 ≪2016≫, 274 Abregelungen mit einer Ausfallleistung von insgesamt 27.185,86 MWh, dagegen tabellarische Aufstellung der Beklagten in Anlage B 6 ohne Angabe einer Gesamt-Ausfallleistung). Beide Prozessparteien geben übereinstimmend an, dass im Jahre 2012 die letzte Abregelung am 27.12.2012 erfolgte.

Die Prozessparteien verhandelt...

Dieser Inhalt ist unter anderem im VerwalterPraxis Gold enthalten. Sie wollen mehr?