Leitsatz (amtlich)

1. Ein Träger der Jugendhilfe verletzt seine ggü. dem Kind oder Jugendlichen bestehenden Amtspflichten, wenn es trotz des aus Gründen der Ortsnähe eingetretenen Zuständigkeitswechsels gem. § 86 Abs. 6 SGB VIII rechtswidrig die Übernahme der Hilfeleistung ablehnt.

2. Bei der gem. § 86 Abs. 6 SGB VIII anzustellenden Prognose über den dauerhaften Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie sind alle bekannten Umstände einzubeziehen. Für diese Prognose ist die Vorlage eines Hilfeplans keine unabdingbare Voraussetzung. Liegt ein Hilfeplan vor, wird das neu zuständig werdende Jugendamt i.d.R. an die Prognose im Hilfeplan gebunden sein.

3. Nach einem Zuständigkeitswechsel gem. § 86 Abs. 6 SGB VIII auf das jetzt ortsnahe Jugendamt entlastet eine fortdauernde Leistungserbringung des bisher zuständig gewesenen Jugendamts gem. § 86c SGB VIII weder vom Wortlaut noch vom Zweck dieser Vorschrift, Versorgungslücken zu verhindern, das neu zuständig gewordene Jugendamt von seiner Zuständigkeit und der sich daran anknüpfenden Verpflichtung zu Leistungserbringung. Vielmehr tritt die Leistungsverpflichtung des früher zuständig gewesenen Jugendamts lediglich ergänzend neben die primäre Leistungsverpflichtung des neuen Trägers.

4. Sowohl der Grundrechtsschutz des Kindes oder Jugendlichen als auch die Vorschriften des SGB VIII gebieten es, neben den Pflegeeltern auch das Kind persönlich anzuhören und in die es betreffenden Entscheidungen einzubeziehen, soweit dies seine Entwicklung gestattet. Nach einem Zuständigkeitswechsel wird das neu zuständig gewordene, ortsnahe Jugendamt sich regelmäßig innerhalb eines angemessenen, kurzen Zeitraums ein eigenes Bild vom Kind oder Jugendlichen und dessen Lebensumstände machen und sich als Ansprechpartner auch des Kindes anbieten müssen. Ein Träger der Jugendhilfe, der unbesehen und ohne jegliche Mitwirkung des Kindes die Gewährung von Leistungen nach dem SGB VIII fortsetzt, verletzt seine ggü. dem Kind bestehenden Amtspflichten und haftet für Missstände der Versorgung des Kindes, wenn diese bei einem Besuch des Kindes in der Pflegefamilie erkennbar gewesen wären.

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Urteil vom 07.02.2003; Aktenzeichen 15 O 276/02)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 01.10.2004; Aktenzeichen III ZR 254/03)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des LG Stuttgart vom 7.2.2003, Az. 15 O 276/02, abgeändert:

a) Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld i.H.v. 25.000 Euro zu bezahlen, das der Beklagte für den Kläger mündelsicher anzulegen hat und bis zum 21. Lebensjahr des Klägers nur mit der am Wohl des Klägers auszurichtenden Zustimmung des jeweiligen Leiters des Jugendamts des Beklagten ganz oder teilweise ausgezahlt wird.

b) Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen Schäden, die ihm durch den Aufenthalt bei den Pflegeeltern U. und K.R. seit dem 22.9.1994 entstanden sind oder noch entstehen werden, und zukünftige immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind.

c) Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die weiter gehende Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

3. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

4. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

5. Die Revision wird zugelassen.

Streitwert: 35.000 Euro

 

Gründe

I. Der Kläger verlangt vom Beklagten Schadensersatz wegen mangelhafter Überprüfung der Pflegeeltern K. und U.R., bei denen der Kläger in der Zeit vom 6.12.1990 bis 28.11.1997 untergebracht war und misshandelt worden ist.

Der am 2.6.1989 geborene Kläger wurde am 6.12.1990 vom damals zuständigen Kreisjugendamt H. der Familie R. zunächst vorübergehend zur Vollzeitpflege zugewiesen. Hintergrund war die Alkoholabhängigkeit der leiblichen Mutter des Klägers und deren Lebenspartner sowie Gewalttätigkeiten in dieser Beziehung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Eheleute R. bereits zwei eigene Kinder. Im Oktober 1993 zog die ganze Familie nach W. um. Mit Schreiben vom 7.4.1994 bat das Landratsamt – Kreisjugendamt – H. die Kreisverwaltung des K. unter Berufung auf § 86 Abs. 6 SGB VIII um Übernahme der Hilfe zur Erziehung unter Zusicherung der Kostenerstattung. Auf Anforderung des K. erstellte und übersandte das Landratsamt H. den Hilfeplan gem. § 36 SGB VIII für den Kläger vom 20.7.1994. Dort heißt es unter V.: „Das Milieu, in dem Frau G. lebt, wird sich auch in absehbarer Zeit nicht verändern. Zum einen muss mit einer Fortsetzung der Gewalttätigkeit nach der Entlassung des Herrn G. gerechnet werden, zum anderen fehlen Frau G. die Voraussetzungen für eine Rückkehr A. (Wohnverhältnisse, Suchtproblematik, Kontakte zwischen Mutter und Sohn)”. Der Hilfeplan ist von der sorgeberechtigten leiblichen Mutter des Klägers nicht unterschrieben, weil sie sich beim VormG um eine Rückkehr des Kin...

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