Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Schutzbereich des § 20 StVO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Sorgfaltsanforderungen des § 20 StVO umfassen den gesamten Vorgang des Haltens, insbesondere auch die An- und Abfahrphase des Omnibusses, die sich räumlich und zeitlich unmittelbar anschließt. Auch der Fußgänger, der die Fahrbahn vor dem gerade abfahrenden Bus überquert, kann sich selbst dann auf die verletzung des Schutzgesetzes berufen, wenn der Bus zuvor von der Haltestelle abgefahren war, dann aber nach nur wenigen Metern wieder abgebremst hat, um dem Fußgänger ein Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen.

2. Stellt der Kläger in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz einen klageerweiternden Antrag, der sich gegen einen bislang am Prozess noch nicht beteiligten Dritten richtet, so ist das Gericht nicht zwingend gehalten, erst nach Wiedereröffnung der geschlossenen mündlichen Verhandlung über die Abtrennung des gegen den neuen Beklagten gerichteten Verfahrens zu entscheiden.

 

Verfahrensgang

LG Saarbrücken (Urteil vom 03.05.2006; Aktenzeichen 12 O 481/04)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des LG Saarbrücken vom 3.5.2006 (12 O 481/04) wie folgt abgeändert:

a) Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld i.H.v. 4.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 5.3.2005 zu zahlen.

b) Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger weitere 969 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 5.3.2005 zu zahlen.

c) Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner dem Kläger sämtliche durch das Unfallereignis vom 21.1.2004 verursachten materiellen und immateriellen zukünftigen Schäden, sofern diese nicht durch gesetzlichen Forderungsübergang an Dritte übergegangen sind, unter Berücksichtigung einer Mithaftung des Klägers von 40 % zu ersetzen haben.

d) Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die weitergehende Berufung und die Anschlussberufung werden zurückgewiesen.

3. Die Kosten des ersten Rechtszugs einschließlich der durch die Streithilfe verursachten Kosten werden gegeneinander aufgehoben.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden wie folgt verteilt:

Die Gerichtskosten tragen der Kläger zu 6/10, die Beklagten zu 1) und 2) als Gesamtschuldner zu 3/10 und die Streithelfer zu 1/10. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen die Beklagten zu 1) und 2) als Gesamtschuldner zu 1/3 und die Streithelfer zu weiteren 1/10. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) und 2) trägt der Kläger zu 2/3, die der Streithelfer zu 3/5. Im Übrigen tragen die Parteien und die Streithelfer ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

6. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 21.969 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der am ...6.1987 geborene Kläger begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld aus einem Verkehrsunfall, der sich am 21.1.2004 gegen 15.30 Uhr außerorts von H. auf der I. Straße ereignete. Unfallbeteiligt war die Beklagte zu 1) als Fahrerin des Pkw VW Polo, amtliches Kennzeichen, das bei der Beklagten zu 2) im Unfallzeitpunkt haftpflichtversichert war.

Der Kläger war mit einem Linienbus der Streithelferin zu 1) gefahren, der auf der Landstraße in Fahrtrichtung I. an der Haltestelle vor dem Einmündungsbereich Z. Weg hielt. Der Kläger stieg aus dem Bus aus und lief ein kurzes Stück geradeaus in Fahrtrichtung des Busses weiter, wo er dann vor dem Bus die Straße überqueren wollte. Der Streithelfer zu 2), der den Bus führte, gab dem Kläger ein Handzeichen, das der Kläger dahin deutete, dass er gefahrlos die Straße überqueren könne. Beim Überqueren der Straße wurde der Kläger von dem Fahrzeug der Beklagten zu 1), die ebenfalls in Richtung I. unterwegs war, vorne links erfasst und auf den linken Seitenstreifen geschleudert. An der Unfallstelle war eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70 km/h angeordnet; die Beklagte zu 1) fuhr mit mindestens 50 km/h.

Der Kläger erlitt eine stark dislozierte Unterschenkelfraktur links, die noch am Unfalltag osteosynthetisch mittels Unterschenkelnagelung versorgt werden musste. Im weiteren Heilungsprozess, wobei der Kläger mindestens 10 Mal operiert wurde, traten Komplikationen wegen einer Keiminfektion auf. Der Kläger musste sich stationären Krankenhausaufenthalten vom 21.1.2004 bis 6.2.2004, am 24.3.2004, vom 1.5.2004 bis 13.5.2004, vom 21.6.2004 bis 9.7.2004 und vom 12.8.2004 bis 15.9.2004 unterziehen, daneben fanden tägliche Kontrollen bzw. Rehamaßnahmen im Zeitraum vom 7.2.2004 bis 18.3.2004 statt. Der Kläger übte vor dem Unfall Ringen als Leistungssport aus. Im elterlichen Haushalt half er täglich ca. 20 Minuten mit.

Die Beklagte zu 2) zahlte vorgerichtlich dem Kläger einen Betrag von insgesamt 5.000 EUR ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, wobei 4.000 EUR auf das Schmerzensgeld angerechnet wurden und bezüglich der restlichen 1.000 EUR keine Verrechnungsbestimmung getroff...

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