Entscheidungsstichwort (Thema)

Wenn ein Radfahrer mehrfach grob gegen die Sorgfaltsanforderungen beim Linksabbiegen verstößt und es deshalb zur Kollision mit einem überholenden Kraftfahrzeug kommt, dann haftet der Radfahrer allein.

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bis zum 27.04.2020 gab es keine konkreten Mindestabstände beim Überholen von Radfahrern (nach § 5 Abs. 4 S. 3 StVO n.F. sind es außerorts 2 m). Bis dahin kam es für den "ausreichenden Sicherheitsabstand" maßgeblich auf die konkreten örtlichen Verhältnisse und die gefahrenen Geschwindigkeiten an.

2. Ein nach links Abbiegender ist nicht vom Schutzzweck eines Überholverbots nach § 5 Abs. 2 S. 1 StVO (= Überholverbot wegen Behinderung des Gegenverkehrs vor einer Kuppe im weiteren Straßenverlauf) erfasst.

3. Die Grundsätze der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge nach § 17 StVG gelten für die Beurteilung der Haftung zwischen Kraftfahrzeughaltern und -führern einerseits und Radfahrern andererseits im Rahmen der § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB entsprechend. Danach kann die Abwägung auch zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruchs aus § 7 Abs. 1 StVG führen, wenn das Verschulden des geschädigten Radfahrers derart überwiegt, dass die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt.

4. Wenn ein Radfahrer mehrfach grob gegen die Sorgfaltsanforderungen beim Linksabbiegen verstößt (Unterlassen: doppelte Rückschau, rechtzeitiges Handzeichen und rechtzeitiges Einordnen) und es deshalb zur Kollision mit einem überholenden Kraftfahrzeug kommt, dann haftet der Radfahrer allein.

 

Normenkette

BGB § 254; StVG § 7 Abs. 1, 9, § 18 Abs. 1 S. 1; StVO § 2 Abs. 2, § 5 Abs. 2, 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 3, § 9 Abs. 1 Sätze 1, 4; VVG § 115 Abs. 1 Nr. 1; ZPO §§ 286, 412 Abs. 1, § 522 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Flensburg (Aktenzeichen 7 O 362/20)

 

Tenor

1. Die Klägerin wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.

2. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.

3. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf bis 13.000,00 EUR festzusetzen.

 

Gründe

I. Die Parteien streiten um die Haftung für die Folgen eines Verkehrsunfalls, der sich am 30.07.2019 gegen 15:15 Uhr auf der Straße M. (L. 430) in der Nähe von O. im Bereich der Einmündung der Straße K. ereignet hat. Die Klägerin befuhr die Straße M. mit ihrem Fahrrad aus Richtung P. kommend, die Beklagte zu 1) befuhr die Straße mit ihrem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW Seat in gleicher Richtung. Der Unfallhergang ist im Einzelnen streitig.

Die Straße M. ist 5 m breit und verfügt über keinen Mittelstreifen und keine befestigten Seitenstreifen. An der Unfallstelle gilt eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70 km/h. Als die Beklagte zu 1) sich der Klägerin von hinten näherte, blickte diese sich um und es entstand Blickkontakt zwischen den Beteiligten. Kurz darauf, vor der Einmündung der Straße K., setzte die Beklagte zu 1) mit ihrem Fahrzeug zum Überholen der Klägerin an. Die Klägerin leitete etwa zeitgleich das Abbiegen nach links in die Straße K. ein. Es kam zur Kollision, bei der die Klägerin stürzte und sich erheblich verletzte. Das Fahrzeug der Beklagten zu 1) wurde vorne rechts beschädigt.

Die Klägerin hat zunächst behauptet, keine Erinnerung mehr an den Unfallhergang zu haben. Als erfahrene Radfahrerin leite sie jedoch keinen Abbiegevorgang ohne vorherigen Schulterblick und entsprechendes Handzeichen ein. Später - nach dem ersten Verhandlungstermin vor dem Landgericht - hat sie behauptet, aufgrund eines anderen Vorfalls könne sie sich nunmehr wieder an den Unfall erinnern, namentlich daran, dass sie nach dem Blickkontakt ein Handzeichen gegeben und begonnen habe, sich nach links zur Fahrbahnmitte hin einzuordnen. Sie sei sich nach dem Blickkontakt sicher gewesen, dass die Beklagte zu 1) ihre Abbiegeabsicht erkannt habe.

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 1.637,39 EUR nebst 5%-punkten Zinsen über Basiszinssatz seit dem 09.01.2020 zu bezahlen;

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 EUR zu bezahlen;

3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche Schäden, die ihr in Zukunft aus dem Verkehrsunfall vom 30.7.2019 auf der L. 430, in Höhe M... entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Die Bek...

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